Jerry Cotton

Der Krimi an sich


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beinah das Leben kostet. Doch gelingt ihm in der Verkleidung des Gespenstes der halbverwesten Leiche eines toten Meuterers mit einigen Kameraden die Rückeroberung des Schiffes, das alsbald in einen Sturm gerät und in ein kieloben treibendes Wrack verwandelt wird. Ein fliegender Holländer, ein holländisches Schiff voller Leichen, treibt vorbei. Hunger und Durst schwächten Pym und seine Kameraden, so daß sie auslosen, wer sterben und den anderen als Nahrung dienen soll. Es kommt zum Kannibalismus. In letzter Minute rettet ein englisches Segelschiff Pym. Dessem Kapitän segelt auf der Suche nach Reichtum nach Süden, weiter als je ein Mensch das geschafft hat, durchquert große Eisfelder und kommt schließlich in eine warme (!) Strömung, die in Richtung Südpol führt. (Niemand hatte mir damals gesagt, daß die Antarktis ein Kontinent ist. Meine einzige Lesehilfe war eine Taschenlampe, da ich nachts unter der Bettdecke anknipste.) Unterwegs treffen sie auf eine Inselgruppe, in der schwarze Wilde beim Anblick von etwas Weißem in panischen Schrecken geraten und den Ruf »tekeli-li« ausstoßen, was ungefähr soviel wie »Mahlzeit« bedeutet. Die Eingeborenen tun ungeachtet ihrer Panik freundlich, locken die Abenteurer dann aber in einen Hohlweg, in dem es zum Kampf kommt. Das Schiff explodiert (ob im Hohlweg,weiß ich nicht mehr). Nur Pym und sein Freund Peters können sich retten und zusammen mit einem Eingeborenen, den sie gefangengenommen haben, in einem Kanu fliehen. Die Strömung treibt das Kanu weiter nach Süden, das Meer erhitzt sich mehr und mehr (am Südpol!), weiße Vögel fliegen umher, vom Himmel regnet weiße Asche, das Meer fängt an zu kochen, das Wasser leuchtet, Strudel bilden sich. Der Eingeborene stirbt vor Grauen. Eine lautlose Stromschnelle wird sichtbar, Bildgestalten erscheinen, »ungeheure und fahlweiße Vögel« fliegen umher. Die Vögel stürzen in einen Katarakt und sehen eine verhüllte, gewaltige, übermenschliche Gestalt, kein »Menschengezeugter«, mit einer Haut von »makellosem Weiß des Schnees« ... An dieser Stelle bricht die Erzählung ab und ein gewisser Mr. Edgar Allan Poe teilt dem Leser mit, sein Freund Mr. Gordon Pym, der Autor des Buches, sei an dieser Buchstelle plötzlich verstorben. Ich denke, Sie können meine Empörung verstehen. Sie galt damals dem Mr. Pym, der so unzart war, an der spannendsten Stelle seines Berichtes zu versterben. Heute weiß ich, daß Mr. Poe selbst es war, der diesen Bericht geschrieben hatte, und ich bin doppelt empört über diesen hundsgemeinen Trick, dem ich als argloses Kind zum Opfer gefallen bin. Erst als ich aus Hans-Dieter Gelferts Biographie »Poe -Am Rande des Malstroms« (erschienen 2008 bei C. H. Beck) erfuhr, daß das Buch über Pym seinerzeit auf dem Buchmarkt ein Flop war, habe ich mich ein wenig beruhigt. Es gibt doch noch eine Gerechtigkeit auf Erden.

      IV. Der Plot

      Ein Krimi sollte einen Plot haben. Was ist ein Plot? Das abstrakt zu sagen fällt schwer. Das englische Wort »Plot« hat ähnlich wie der in Bayern verbreitete Ausdruck »Ja mei« mindestens hundert verschiedene Bedeutungen. Wikipedia nennt beim Stichwort »Plot« neben vielem anderen das in der »Dramaturgie für den ursächlichen Zusammenhang eines vorgestellten Ereignisverlaufs zu einem bestimmten Ende« gebildete Dingsda, also, in der Sprache eines früheren Bundeskanzlers, so ein Gedöns (»Der Minister X ist Minister für so ein Gedöns d.h. Landwirtschaft, Verkehr, Jugend, Familie – eben so ein »Gedöns«.) Das macht den Leser bei Wikipedia nicht schlauer. So klickt er die Stichwörter »Handlung« und »Erzählkunst« an, auf die der Artikel verweist. Bei »Handlung« wird er zu Aristoteles geführt, der in seiner Poetik die komplizierte Handlung im Unterschied zur einfachen Handlung beschreibe. Sie habe ein andere Ende als das zunächst in Aussicht gestellten. Sie verlaufe in einer ersten Zusammenhangskette, die jählings notwendig in eine andere, meist ein entgegengesetztes Ende implizierende, überspringe. Was eigentlich gemeint gewesen sei, schlage auf einmal ins Gegenteil dessen um, wozu es ins Werk gesetzt worden sei. Statt Rettung trete der Untergang ein. So werde der ursprünglichen Auffassung der vorgestellten Verhältnisse und ihrer Weiterungen der Boden entzogen. Alle gemachten Voraussetzungen müssten entsprechend der neuen Handlungsrichtung umgewertet werden. Der Feind werde zum Freund, Abneigung, die man zu verspüren glaubte, werde zu Liebe, Kleinmut entpuppe sich als Kühnheit, und dergleichen mehr. Die stärkste Wirkung habe dieser Umschwung, wenn statt eines erwarteten Glücks ein Unglück eintrete. Auch die umgekehrte Richtung sei möglich, sogar gängiger, wennglich weniger wirkungsvoll. Die Anteilnahme des Zuschauers wachse, je unähnlicher ihm die betroffene Person sei, da man Leuten, die man für schlechter als sich selber halte, das Unheil gönne. Der Sturz der einem selbst ähnlichen Person mache dagegen betroffen, da dieses Schicksal auch für einen selbst nicht ausgeschlossen scheine. Aristoteles spricht in diesem Zusammenhang von »Peripetie« (altgriech. = plötzlicher Umschlag). In Bayern täte man sagen: »Der war scho a fotzater Hund, der Ari!«

      Im Hollywood-Film spielt der von dem Drehbuchlehrer Syd Field so genannte Plot Point eine wichtige Rolle. Dieser Begriff steht für eine Überraschung im Lauf einer Handlung, welche hierdurch verkompliziert wird. Der Zuschauer muß ein bestimmtes Ereignis erwarten, und dann geschieht etwas, was seine Erwartung verändert.

      Ich will das Gesagte an Beispielen verdeutlichen. Ein Meister des Plot war der englische Schriftsteller Roald Dahl (1916–1990), und eine seiner schönsten Kurzgeschichten, die mit einem perfekten Plot endet, entstammt einer Strafrechtsübung, die mein akademischer Lehrer, der Strafrechtsprofessor und Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann anno 1949 an der Universität Heidelberg ausgegeben hatte. Wir Strafrechtler verbringen einen Gutteil unserer Zeit damit, uns solche Fälle auszudenken, von denen schon Lichtenberg gesagt hat, es gebe in unserer Schulweisheit Fälle, von denen Himmel und Erde sich nichts träumen liessen. Die Geschichte trägt den Titel »Mrs. Bixby und der Mantel des Oberst.« Sie, liebe Leser, sollten diese Story (und andere von Dahl) im englischen Originaltext lesen. Sie ist veröffentlicht in einem Buch mit dem Titel »Kiss Kiss« und beginnt wie folgt:

      »America is the land of opportunitiesfor women. Already they own about eighty-five per cent of the wealth of the nation. Soon they will have it all. Divorce has become a lucrative process, simple to arrange and easy to forget; and ambitious femals can repeat it as often as they please andparlay their winnings to astronomical figues. The husband's dead also brings satisfactory rewards and some ladies prefer to rely upon this method. They know that the waiting period will not be unduly protracted, for overwork and hypertension are bound to get the poor devil before long, and he will die at his desk with a bottle of benzedrines in one hand and a packet of tranquillizers in the other.«

      Nun die Story: Mr. und Mrs. Bixby bewohnten ein kleines Apartment in New York City. Mr. Bixby war Zahnarzt mit einem durchschnittlichen Einkommen. Mrs. Bixby war “a big vigorous woman with a wet mouth.« Einmal im Monat fuhr sie mit dem Zug nach Baltimore, um ihre alte Tante zu besuchen. Sie verbrachte dort die Nacht und kehrte am nächsten Morgen zurück. So weit so gut. Die Tante war aber nur ein Vorwand. “The dirty dog, in the shape of a gentleman known as the Colonel, was lurking slyly in the background and our heroine spent the greate rpart of her Baltimore time in this scoundrel’s Company.« So vergingen acht Jahre. Eines Tages, als sie am Bahnhof Baltimore auf den Zug nach New York wartete, stand dort der Bursche des Oberst und überreichte ihr ein großes Paket. Im Zug öffnete sie es und fand zweierlei. Einen Abschiedsbrief des Colonel und einen Traum von einem Nerzmantel. Das erstere betrübte sie, das letztere half ihr über die Betrübnis hinweg. Die Frage war nur: Wie sollte sie das Mrs. Bixby erklären? Der Colonel schlug in seinem Brief vor, sie solle ihn als Geschenk ihrer Tante bezeichnen. Die war aber viel zu arm, um ihr ein solches Geschenk zu machen, und ihr Mann wusste das. Sie hatte viel und oft von ihrer Tante erzählt. Wir alle reden zuviel und bereuen es oftmals.

      Doch eine Frau weiß immer Rat. Mrs. Bixby brachte den Nerz nach ihrer Ankunft in New York in ein Pfandhaus, erzählte dem Pfandleiher, sie bräuchte vorübergehend Bargeld und erhielt fünfzig Dollar dafür, obwohl der Mantel mehr als das Hundertfache wert war. Dann brachte sie den Pfandschein, auf dem nur eine Nummer vermerkt war, Mr. Bixby. Sie erzählte von ihrem Besuch bei der Tante, und er erzählte ihr die spannende Geschichte, wie er die Zeit ihrer Abwesenheit genutzt hatte, um einige Inlays herzustellen. Dann gab sie ihm den Pfandschein, den sie angeblich gefunden hatte, und er bestand darauf, ihn selbst für sie einzulösen. Am nächsten Morgen fuhr er in seine Praxis. Eine Stunde später rief er sie an und sagte ihr, er habe das Pfand eingelöst. »Darling, Du wirst Augen machen!« Bebend vor freudiger Erwartung fuhr sie in die Praxis. »Schließ die Augen« sagte