Jürgen Friedrich Schröder

Feenders


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      Der Hauptmann nickte freundlich und ging langsam davon. Er sollte sie nicht für dumm halten, dachte die junge Niederländerin. Pferde für Patrouillenritte! Auf den angrenzenden Weiden hatte sie wohl mehr als hundert gesehen. So viele konnte man dafür gar nicht brauchen. Aber bei der Bodenbeschaffenheit vieler niederländischer Gebiete umso besser!

      Marijke lief es eiskalt den Rücken herunter.

      Sie ahnte nicht, unter welch merkwürdigen Umständen sie diesem deutschen Offizier Jahre später wiederbegegnen sollte.

      Beim gemeinsamen Tee im Kreise der Familie Feenders kam unter anderem – nachdem man sich allgemein über die aktuelle Lage sehr besorgt gezeigt hatte – wieder unweigerlich die Sprache darauf, wie Marijke und Lilli sich kennengelernt hatten. Und Melitta Feenders, die Großmutter, bat die beiden, die Geschichte noch einmal zu erzählen. Die alte Dame schmunzelte. »Ihr wisst ja, ich kenn das schon. Aber ich möcht es gerne noch einmal hören. Es ist einfach zu komisch.«

      »Ja«, sagte Marijke und lachte allein schon bei dem Gedanken an diese Episode. »Es war auch lustig. Also, das war so …«

      Beim Gallimarkt vor etwa anderthalb Jahren, also im Oktober 1938, hatten die beiden Mädchen bei einem der Händler ein Kleid erspäht, und zwar praktisch zur gleichen Zeit. Es hatte ihnen ausnehmend gut gefallen und es gab nur noch eines davon, und da die beiden jungen Damen dieselbe Konfektionsgröße hatten … Nun hätte man meinen können, dass sich daraus ein Streit entwickelt hätte – aber nein, keineswegs. Eine wollte der anderen den Vortritt lassen, das Vorkaufsrecht sozusagen. Das jedoch wollte jeweils die andere aus lauter Höflichkeit nicht zulassen. Geradezu blitzartig war beiderseits der Funke übergesprungen und die beiden Mädchen machten sich einen Spaß daraus, sich gegenseitig das Kleid in den höchsten Tönen anzupreisen. Weitere Besucher wurden auf die Ulkvorstellung der beiden aufmerksam, die sich geradezu bühnenreif entwickelte, worauf die Mädchen sich angespornt fühlten, jeweils noch eins draufzusetzen. Der Verkäufer lachte auch – zunächst jedenfalls, bis – ja, bis die jungen Damen fast wie aus einem Munde lachend erklärten, sie könnten sich einfach nicht einigen und müssten daher leider beide auf das Kleid verzichten. Da lachte der Händler nicht mehr, die Umstehenden dafür umso mehr. Unter großem Applaus hatten die beiden den Ort der Vorstellung verlassen.

      »Koffie klaar!«, hatte Marijke zum Ende des fröhlichen Unfugs gesagt und sich die Lachtränen aus dem Gesicht gewischt, von Lilli prustend begleitet. Lachend wie zwei übermütige Hühner waren sie einander untergehakt in das nächste Café gegangen.

      Aus dieser Begegnung hatte sich eine feste Freundschaft entwickelt. Eine sah in der anderen so etwas wie eine Schwester, die sie beide leider nicht hatten. Marijkes Mutter konnte nach einer schweren Operation, bei der die Ärzte nur unter Aufbietung aller Kunst ihr Leben retteten, keine Kinder mehr bekommen. Und Lilli, sie hatte noch eine jüngere Schwester gehabt, die bereits im Alter von drei Jahren an einer schrecklichen Lungenentzündung gestorben war. Ihren Bruder Georg liebte sie zwar herzlich, besonders wenn sie wieder eine seiner Verrücktheiten ausbügeln konnte und durfte, aber ein Ersatz für eine Schwester war dieser komische Vogel natürlich nicht.

      *

      Familie Feenders bewunderte noch ausgiebig das schöne neue Fahrrad – Georg konnte nur mit Mühe von einer Probetour abgehalten werden –, dann brach Marijke zur Heimfahrt auf.

      Marijke konnte machen und denken, was sie wollte. Der Gedanke an dieses seltsame Ding auf den Gleisen zog sie geradezu übermächtig an. Fast wie von allein fuhr das fiets mit ihr wieder denselben Weg zurück. Kurz vor Erreichen der Leda schaute sie nach rechts. Weiden, Felder, weit hinten hohes Gestrüpp, eine gewaltige Hecke. Dahinter in einem leichten Geländeeinschnitt musste die Bahnlinie sein, das Nebengleis, das seltsame Ding. Wie sollte sie dort hinkommen? Über Gräben und Zäune? Ihr Blick fiel auf eine alte Feldscheune, halb von den Zweigen der Hecke verdeckt. Ein Weg, fast zugewachsen, führte dorthin. Marijke schob ihr Rad und lehnte es an die Rückwand des halbverfallenen Gebäudes. Ihr schlug das Herz jetzt bis zum Hals. Sie arbeitete sich so leise wie möglich durch den Bewuchs. Blutige Kratzer, egal. Jeden Schritt, jede Bewegung bedachte und plante sie genau. Wahrscheinlich waren da noch mehr solcher Kerle wie der Brückenposten.

      Schließlich hatte sie es geschafft. Sie konnte von ihrem Platz aus nur einen Teil dieses seltsamen Dings in Augenschein nehmen. Es war tatsächlich ein Zug. Aber so einen hatte sie noch nie gesehen. Sie befand sich direkt neben der Lokomotive, erkennbar nur an den Speichenrädern, Schornstein und Führerhaus. Dieses Gefährt war komplett mit Panzerplatten versehen. Vorneweg, wenn sie in Richtung der Leda schaute, drei Waggons, ebenfalls gepanzert. Nur schmale Sehschlitze gaben Sicht nach außen. Auf dem ersten Waggon befanden sich zwei flache Kanonentürme, aus den beiden anderen ragten kleinere Waffen. Hinter der Lok – aber das konnte sie wegen des dichten Gestrüpps nicht recht erkennen – befanden sich noch weitere Waggons. Aus dem Führerstand der Lok waren plötzlich Stimmen zu vernehmen. Marijke erschrak. Wenn man sie entdeckte? Nicht auszudenken, was die mit ihr machen würden. Sie hatte in der letzten Zeit schlimme Dinge gehört. Gesehen hatte sie ohnehin genug – das war ein Panzerzug! Dieses Ding sah aus wie ein Schlachtschiff, das an Land gegangen war.

      Von der Bahnlinie, die über die Leda in Richtung Papenburg und weiter nach Rheine führte, zweigte wenige Kilometer hinter der Flussbrücke eine eingleisige Strecke ab. Und diese führte über die Emsbrücke bei Weener, die sie auf der Herfahrt genommen hatte, in einem weiten Bogen in die Niederlande, durch Nieuweschans!

      Marijke hörte ihren eigenen Herzschlag, es rauschte in ihren Ohren. So rasch und leise wie möglich arbeitete sie sich wieder durch das Gestrüpp und griff ihr Fahrrad. Nicht noch einmal am Ledabrückenkopf vorbei! Daher raste sie, als wäre der Teufel hinter ihr her, ein weites Stück zurück, durch Leer und Richtung Ems nach Leerort. Sie hatte Glück, die Fähre legte gerade an. Der nahe Militärposten nahm kaum Notiz von ihr. Marijke schob ihr Rad auf das Fahrzeugdeck und bezahlte ihren Obolus bei einem der Fährleute.

      Dieser schaute sie fast besorgt an. »Mädchen, was ist denn mit dir geschehen? Du siehst ja ganz zerkratzt aus! Hat dich etwa einer …?«

      »Nee, nee, alles in Ordnung!« Sie wollte nur weg, nach Hause.

      Beim Verlassen der Fähre auf dem westlichen Emsufer versperrte ihr einer der Wachposten den Weg: »Dein Licht!«

      Ach herrje, daran hatte sie gar nicht gedacht. Durch ihr Abenteuer und diese halbe Rückfahrt war es viel später geworden, als sie eigentlich geplant hatte. Es wurde schon dunkel.

      »Ik heb mijn aansteker vergeten!«

      Der Soldat stutzte für einen Moment: »Ach so, du hast dein Feuerzeug vergessen! Kein Problem!« Er zog eines aus der Tasche, öffnete die Karbidlampe an Marijkes Rad und entzündete den Brenner.

      »Bedankt!« Marijke schenkte ihm ihr freundlichstes Lächeln, das der Posten erwiderte. Dann hatte sie freie Fahrt.

      Es war schon völlig dunkel, als sie, ein letztes Mal von Deutschen kontrolliert, den Ortseingang von Nieuweschans erreichte.

      »Stop, bliejf staan!« Ein Soldat mit dem Gewehr in Anschlag kam auf sie zu. Ein weiterer leuchtete ihr mit seiner Lampe ins Gesicht. War denn die ganze Welt verrückt geworden?

      »Oh, Marijke! Zo laat?«, sagte der Posten überrascht. »Je kunt doorgaan!«

      »Ik moet met een officier spreken – onmiddellijk!« Sie war von ihrem eigenen Tonfall überrascht. Der Soldat grinste und salutierte: »Ja, mevrouw generaal!«

      Marijke machte ihm unmissverständlich klar, dass dies keineswegs ein Witz, sondern sehr wichtig sei.

      »Unser Kapitein ist in der Baracke«, antwortete der Soldat und hob die Handlampe.

      In seiner Begleitung trat sie in das kleine Holzgebäude.