von wenigen Tagen sein, dann hatten die Alliierten es geschafft, das Ungeheuer niederzuringen, in das dieses Land der Dichter und Denker sich verwandelt hatte.
Dies würde er nicht mehr erleben.
Marianne! Ihr Bild lag vor ihm. Das Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Er würde sie nicht wiedersehen. Auf dem ersten Linienflug mit der Condor hatten sie sich kennengelernt. Komischerweise war dies erst während des Fluges nach London geschehen. Auf einmal hatte diese unbekannte junge Dame in der Lufthansa-Uniform hinter ihm gestanden und nach den Wünschen des Herrn Flugkapitäns gefragt. Das hübsche Gesicht, das herzliche Lächeln, der dunkle Bubikopf mit der schicken Mütze, ihre bezaubernde Stimme … Er hatte sich Hals über Kopf in sie verliebt.
In die Realität hatte ihn die Stimme des zweiten Piloten zurückgeholt. »Wir müssen langsam den Sinkflug einleiten, dort hinten kommt schon die Themsemündung in Sicht!«
Er hatte nur mit einer gewissen Verzögerung reagiert. »Ja – ich hatte gerade …«
»… eine reizende Erscheinung!«, ergänzte sein Kollege lachend und meldete die Maschine zur Landung in Croydon Airport an.
Die Begegnung mit der hübschen Marianne stellte sich als purer Zufall heraus. Sie war in letzter Minute für ihre erkrankte Kollegin eingesprungen. Daher waren sie sich vor dem Start in Frankfurt nicht begegnet. Der Abend in London war jedenfalls unvergesslich geworden und fortan sah man die beiden, soweit die Dienstpläne dies zuließen, nur noch als Paar. Einige Monate später hatten sie geheiratet, ein Jahr darauf wurde ihr Sohn geboren.
Knallende Stiefeltritte näherten sich der Zelle. Die Riegel wurden zurückgeschoben, der Schlüssel knirschte im Schloss, die Tür wurde aufgerissen.
»Raustreten! Hände auf den Rücken!«
Einer für dreißig!
*
Zwei Tage später, am 30. April 1945, setzte Adolf Hitler seinem Leben ein Ende.
1 – Von einem, der auszog, ein
besseres Leben zu finden
Im Jahre 1898 wurde der Knabe Cornelius geboren. Seine Eltern, die Eheleute Meta und Garrelt Holtkamp, besaßen eine kleine Landstelle nahe dem Ort Heisfelde. Das Haus existiert nicht mehr und die Sandgrube Burfehn, in der der Vater manchmal arbeitete, ist längst zugeschüttet.
Cornelius war von untersetzter kräftiger Statur. Die dunklen flinken Augen verrieten seinen wachen Geist. Er besuchte die achtklassige Volksschule in Heisfelde mit gutem Erfolg. Ein ansehnliches Zeugnis war Lohn der Mühe. Eigentlich war sein Leben vorbestimmt. Da sein älterer Bruder sich freiwillig zum Militär gemeldet und es mittlerweile zum Unteroffizier gebracht hatte, sollte er eines Tages die bescheidene Landwirtschaft seiner Eltern übernehmen. Er würde seine Geschwister abfinden müssen und mehr schlecht als recht durchs Leben gehen. Alles – nur das nicht! In ihm rumorte es. Wie konnte er dem entkommen? Diese Frage ließ sich kaum beantworten. Der Besuch des Realgymnasiums und gar einer anschließenden Hochschule war für ihn undenkbar, obwohl der Dorfschullehrer meinte, er hätte den Kopf dafür. Wer sollte das bezahlen? Selbst eine Lehre würde vermutlich schon am Lehrgeld scheitern. In seiner Verzweiflung ging Cornelius zum Pastor des Ortes und schilderte ihm sein Problem. Der gute Mann wiegte den Kopf schwer hin und her. Schließlich riet er ihm, trotzdem einen Lehrherren zu suchen und – dieser Rat konnte nur von einem Geistlichen kommen – auf Gott zu vertrauen.
Cornelius war fast genau so klug wie vorher. Da ihm jedoch auch nichts Besseres einfiel, befolgte er diesen Ratschlag. Sein erster Weg führte ihn zum Bäckermeister. Dieser hätte ihn sogar genommen – das Thema Lehrgeld wurde nicht angesprochen –, aber der Bäcker hatte bereits einen Lehrjungen eingestellt. Der Meister gab ihm den Rat, es einmal bei den Mühlenbetrieben in der Umgebung zu versuchen. Cornelius bedankte sich artig und wandte sich zum Gehen. Da fiel der Satz, der sein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte.
»Cornelius!«, rief der Bäckermeister ihm nach. »Mir fällt da noch etwas ein. Im Ammerland gibt es einen ganz ungewöhnlichen Müller …«
Die nachfolgende Schilderung ließ die Augen des Jungen immer größer werden.
»So etwas gibt es?«
»So wahr ich hier stehe!«, bekräftigte der Bäcker. »Wenn du bei dem antreten und bestehen solltest, kannst du dich gegen dein weiteres Glück im Leben gar nicht mehr wehren!«
Cornelius konnte an nichts anderes mehr denken. Abends erzählte er seinen Eltern davon.
»Warum sollte dieser Müllermeister ausgerechnet dich nehmen?«, wandte der Vater ein. »Der wird sich vor Lehrjungen gar nicht retten können! Außerdem, wie sollen wir das Lehrgeld bezahlen?«
»Bitte, Vater, lass es mich versuchen. So kann es nicht weitergehen. Wir arbeiten uns krumm und kommen auf keinen grünen Zweig!«
»Das hier ist also unserem Herrn Sohn nicht gut genug?«
»Nein!«
Es gelang schließlich der Mutter, die sonst höchst selten widersprach, ihren Mann zwar nicht zu überzeugen, aber zumindest zu überreden.
»Cornelius! Schreib dem Müller einen Brief in deiner schönsten Handschrift und bitte ihn, dass du dich vorstellen darfst!«
»Mutter, mit solchen Briefen kann sich der Mann bestimmt seine Wohnstube tapezieren! Nein, ich fahre dorthin und überzeuge ihn, sodass er gar nicht anders kann, als mich zu nehmen!«
»Und wenn es schiefgeht?«
»Dann habe ich es wenigstens versucht!«
Die Mutter steckte ihm das Fahrtgeld für die Eisenbahn zu. Wenige Tage später lief Cornelius zum Bahnhof in Leer, löste ein Billett dritter Klasse mit Rückfahrt nach Ocholt, um von dort aus wiederum nach Torsholt zu laufen.
Gerhard Hisje1, so hieß der gute Müllermeister, hatte einen Ruf weit über die heimischen Gefilde hinaus, denn er ging nicht nur mit der Zeit, er war ihr deutlich voraus. Er war nicht nur Windmüller. Da es nicht immer Getreide zu mahlen gab, hatte er sich beizeiten ein zweites Standbein aufgebaut, eine Holzsägerei. Das war zwar schön und gut, nur spielte der Wind nicht immer mit. Zu oft hatte er genügend Arbeit, aber die launische Energiequelle versagte. Als Ausweg schaffte er eine Dampfmaschine an. Doch die hätte auch arbeiten können, wenn es nichts zu mahlen oder zu sägen gab. Im Jahre 1906 kam der große Sprung. Gerhard Hisje investierte in einen Generator, der zweihundertzwanzig Volt Gleichstrom lieferte, freilich nicht, ohne sich vorher entsprechender Abnehmer versichert zu haben. Auf diese Weise kam das kleine Dorf Torsholt im Ammerland zum eigenen Energieversorgungsnetz, vier Jahre nach der Reichshauptstadt Berlin. Eines sei weit vorweggenommen – dieses Netz war unglaubliche fünfzig Jahre in Betrieb, bis es von der Oldenburger Energieversorgung Weser-Ems übernommen und auf Wechselstrom umgestellt wurde. Nebenbei erwähnt – Meister Hisje beschäftigte auf diese Weise ein halbes Dutzend Gesellen.
Aber noch befand man sich im Jahre 1912.
Der Müller staunte nicht schlecht, als Cornelius so einfach bei ihm aufkreuzte. Da ihm der Schneid des Jungen imponierte, hörte er ihn wenigstens an. Auf das Zeugnis gab er nicht viel, sondern unterhielt sich während der Arbeit mit ihm. Nicht nur die gescheiten Antworten des Jungen, sondern auch der Umstand, dass dieser unterdessen ebenfalls kräftig mit anpackte, bewogen ihn, außer der Reihe noch einen zweiten Lehrjungen aufzunehmen.
Cornelius war selig. Er sang auf dem Rückweg nach Ocholt, er sang in der Eisenbahn, er sang auf dem Weg zum Elternhaus. Die Leute schauten ihn komisch an und er hätte die ganze Welt umarmen können. Der Vater war weniger frohgestimmt, schließlich verlor er einen guten Arbeiter. Andererseits konnte und wollte er dem Lebensglück seines Sohnes nicht im Wege stehen.
Eine Woche später stand Cornelius wieder vor dem Müllermeister.
»So, da bin ich!«, verkündete er.
»Das seh ich!«, antwortete Gerhard Hisje trocken. »Du kannst es wohl gar nicht abwarten.