Jürgen Friedrich Schröder

Feenders


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Untergrundarbeit gipfelte am 25. Juli 1934 zunächst im sogenannten Juliputsch. Etwa einhundertfünfzig illegale Nationalsozialisten, getarnt als Offiziere und Soldaten des Bundesheeres, überrumpelten die Wache des Kanzleramtes in Wien. Bei dem nachfolgenden Handgemenge wurde Bundeskanzler Dollfuß von zwei Kugeln zweier Putschisten tödlich getroffen. Das österreichische Bundesheer lief keineswegs zu den Aufrührern über, sondern schlug den zeitgleich an mehreren Orten losgebrochenen Aufstand blutig nieder. Es folgten weitere Jahre der NS-Untergrundarbeit. Am 12. Februar 1938 zitierte Hitler den amtierenden Bundeskanzler Österreichs, Kurt Schuschnigg, zu sich nach Berchtesgaden. In einem zweistündigen Gespräch setzte Hitler den österreichischen Kanzler derart unter Druck, dass dieser der Berufung von Arthur Seyß-Inquart zum Innenminister und der Legalisierung der österreichischen Nationalsozialisten zustimmte. Am 9. März kündigte Schuschnigg für den 13. März überraschend eine Volksabstimmung über die weitere Unabhängigkeit Österreichs an. Diese wollte er mittels restriktiver Teilnahmevoraussetzungen zu seinen Gunsten entscheiden. Hitler setzte Schuschnigg erneut unter Druck. Unter der Drohung eines Einmarsches deutscher Truppen erklärte der österreichische Kanzler am 11. März seinen Rücktritt und benannte den bisherigen Innenminister Arthur Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger. Der Diktator, dem seine Versprechen zu keiner Zeit etwas bedeuteten, gab in der Frühe des 12. März 1938 der 8. Armee den Befehl, Österreich zu besetzen. Die deutschen Truppen wurden allenthalben bejubelt und mit offenen Armen empfangen. Es gab keinerlei Gegenwehr. Die wenigen Gegner der Nationalsozialisten verhielten sich stumm, denn offener Widerstand wäre einem Selbstmord gleichgekommen. Als »Blumenfeldzug« ging die Besetzung Österreichs in die Geschichte ein und wurde verharmlosend als »Anschluss an das Deutsche Reich« bezeichnet.

      *

      Linz, Österreich, Sonntag, 13. März 1938 am Vormittag

      Matthias und Stefan waren den ganzen Tag auf dem Hauptplatz geblieben und auf den Militärfahrzeugen herumgeklettert, bis ein energischer Feldwebel sie heruntergescheucht hatte: »Des is koa Spuizeug, machts, dass ihr ’nunterkummt, bevor’s an Unglück gibt!« Ein Bayer, na ja.

      Der größere Teil der Kolonne hatte sich bald wieder in Bewegung gesetzt, weiter ins Landesinnere. Stefan stieß den ­Matthias auf einmal an: »Host g’hert? Der Führer kummt!«

      Es war die Sensation des Tages. Blitzschnell sprach es sich herum. Aber wann er kommen sollte, das konnte keiner sagen. Nachdem beim Überschreiten der Grenze durch die ersten deutschen Truppen kein Schuss gefallen war, das österreichische Bundesheer sich nicht blicken ließ und allenthalben nur Begeisterung herrschte, hatte Hitler sich spontan entschlossen, über Braunau am Inn, seinen Geburtsort, nach Linz zu fahren, in die Stadt seiner Jugendjahre. Immer wieder wurde die Wagenkolonne von seinen jubelnden Landsleuten aufgehalten, sodass er Linz erst am Abend erreichte.

      Gegen neunzehn Uhr trat Hitler auf den Balkon des Rathauses am Hauptplatz, um seine Rede zu halten, nachdem er von Arthur Seyß-Inquart und August Eigruber, dem gerade ernannten Gauleiter von Oberösterreich begrüßt worden war: »Ich danke Ihnen für Ihre Begrüßungsworte. Ich danke aber vor allem euch, die ihr hier angetreten seid und die ihr Zeugnis ablegt dafür, dass es nicht der Wunsch und der Wille einiger weniger ist, dieses große volksdeutsche Reich zu begründen, sondern dass es der Wunsch und der Wille des deutschen Volkes selbst ist …«

      Immer wieder wurde Hitler durch lang anhaltenden Jubel, Applaus und das Skandieren von Beifallsrufen unterbrochen, bis seine Rede schließlich in einem geradezu religiösen Bekenntnis geendet hatte:

      »… für unseres Reiches Macht, für seine Größe und für seine Herrlichkeit, jetzt und immer – Deutschland, Sieg Heil!«

      Heute gab es kein anderes Thema. Der Führer weilte noch in Linz! Matthias Holiczek hatte mittlerweile die Wohnung seines Freundes erreicht: »Du, kummst mit? Hab g’hert, der Führer isst im Hotel Weinzinger zu Mittag. Da können wir ihn noch mal sehen und vielleicht sogar mit ihm sprechen!«

      Außer Atem trafen die beiden Buben nach einiger Zeit vor dem Hotel ein, nachdem sie sich durch Hunderte wartender Menschen bis zum Eingang vorgedrängt hatten.

      Aber dort war eine Wache aufgezogen, die niemanden hineinließ.

      »Könn’ wir bittschön den Herrn Führer noch oamal sehn?«

      Der Wachposten, ein bayrischer SS-Mann, wehrte sie lachend ab: »Schauts, Buben, seids vernünftig. Der Führer muss amal in Ruhe essen kenna. Außerdem hat er mit einigen wichtigen Herren etwas zu besprechen. Da könnts ihr net stören. Gehts halt hoam, eure Mütter warten b’stimmt scho!«

      Wie zwei begossene Pudel schlichen die beiden nach Hause, ohne ein Wort miteinander zu wechseln. Zu betroffen waren die beiden. Bis – ja, bis sie die Pfännergasse erreichten. Ein Menschenauflauf, aber kein jubelnder. Schreie und Schluchzen, ein Stöhnen erklang aus der Menge. Dazwischen SS-Leute: »Hier gibt’s nichts zu sehn. Schleichts euch, gehts weiter, Leut!«

      Die beiden Buben schauten sich an. Ein Unfall?

      Da sahen sie es: Eine Frau lag in einer großen Blutlache. Sie rührte sich nicht mehr. Daneben eine zweite, augenscheinlich ebenfalls schwer verletzt. Sie stöhnte noch, wimmerte und bewegte sich dann ebenfalls nicht mehr. Matthias und Stefan kannten die beiden. Es waren die Frau des Buchhändlers Silberstein und ihre Schwester. Wie vor den Kopf geschlagen, standen die beiden Buben dort. Rund um sich sahen sie nur betroffene Mienen.

      Wortfetzen …

      Matthias Holiczek blickte nach oben: An der Front des nahen Bürgerhauses stand ein Fenster offen. Die Gardinen bauschten sich im Wind. Die Frauen waren allem Anschein nach aus dem dritten Stock …

      … ein SS-Mann beugte sich über die beiden reglosen Gestalten: »Ooh, Sarah, des tut ma jetzt leid. Wenn mir mit eich fertig san, brauchts koane von eich no an Sanka!«

      Ein Aufschrei aus der Menge: »Ihr verdammten Schweine, was habt ihr mit den beiden gemacht?«

      Der SS-Mann ging drohend auf die Leute zu: »Passts bloß auf, sonst kummts ihr nach Dachau!«

      Weitere Schreie: »Ihr habt sie misshandelt … missbraucht … aus dem Fenster geworfen!«

      »Ja spinnts ihr denn«, knurrte der SS-Mann erbost. »Wir werden uns doch nicht an solchen Judenv… vergreifen!«

      Die SS-Leute begannen, die Menge mit Schlagstöcken auseinanderzutreiben. Auch Matthias Holiczek und sein Freund suchten ihr Heil in der Flucht. Es war nicht klar – und offiziell verlautbart wurde später schon gar nichts –, ob es sich um einen Selbstmord der beiden Frauen handelte oder ob die SS daran beteiligt gewesen war. Aber das schockierende Erlebnis und die menschenverachtenden Reaktionen der SS-Leute brannten sich den beiden Buben geradezu unauslöschlich ins Gedächtnis ein. Für sie stand fest, die hatten es getan!

      Jahre später – um genau zu sein, kurz vor Ende des Krieges – sollte aus diesem Erlebnis und den Reaktionen der jungen Österreicher darauf eine Situation entstehen, in der es