Andreas Eschbach

Black*Out


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ihre Sehnerven? Das übersteigt nicht nur meine Fähigkeiten; das kann niemand auf der Welt.«

      Und weil das Unglück gern in Gesellschaft kommt, passierte bald darauf das mit Christophers Virus, der die ganze Welt für ein paar Tage in helle Aufregung versetzte. Weil Christopher dafür den Computer im Büro seiner Mutter verwendet hatte, wurde sie entlassen, und deswegen und um irgendwann wieder Ruhe vor den Journalisten zu haben, deren reißerische Artikel über »Computer Kid« kein Ende nahmen, zogen seine Eltern mit ihm nach England, in ein, wie Christopher fand, ungemütliches Haus in einer hässlichen Vorstadt von London.

      So unumgänglich dieser Umzug auch gewesen sein mochte, er ließ Christophers Großmutter noch weiter in Schwermut versinken.

      »Warum hast du das überhaupt gemacht?«, wollte Serenity wissen. »Das mit dem Virus, meine ich.«

      Christopher sah sie an. »Das ist eine andere lange Geschichte.«

      Sie winkte ab. »Okay. Erzähl weiter.«

      Christophers Mutter bemühte sich erst einmal nicht um eine neue Stelle; nach allem, was passiert war, war es nötig, dass zumindest einiges Gras über die Sache wuchs, ehe sie hoffen konnte, irgendwo einigermaßen unbelastet neu anfangen zu können. Deswegen lehnten sie höflich, aber bestimmt ab, als ein gewisser Richard Bryson, ein bekannter Unternehmer und Filmproduzent, sie aufstöberte und Interesse bekundete, Christophers Geschichte zu verfilmen. Er bot auch viel Geld an, aber sie lehnten trotzdem ab.

      Da Mutter nun zu Hause bleiben musste, sah Vater sich in der Pflicht, einen Job zu suchen. Als er nach einigen anfänglichen Misserfolgen auf eine obskure Anzeige antwortete, kam er mit einer ebenso obskuren kleinen Softwarefirma in Kontakt, die gerade einen Programmierer suchte, und zwar für ein Projekt, das in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Fakultät der Londoner Universität in Angriff genommen werden sollte und das, wie der Zufall so spielt, zum Ziel hatte, den Bau besserer Prothesen zu ermöglichen.

      Geleitet wurde das Projekt von Stephen Connery, einem Neurologen und Hirnchirurgen. Dr. Connery war ein sympathischer Junggeselle, der nur zwei Leidenschaften kannte: die Arbeit im Labor – und die freie Natur. Sein Büro glich einem Wald, so viele Topfpflanzen hatte er darin stehen, und er unternahm fast jedes Wochenende eine Wandertour mit Zelt und Rucksack, selbst bei Regen und Sturm.

      Dr. Connery hatte im Labor gerade zum ersten Mal erfolgreich Neuronen – Gehirnzellen also – mit elektronischen Schaltkreisen gekoppelt. Diese Technik wollte er dahin gehend weiterentwickeln, dass man solche sogenannten neuroelektronischen Schnittstellen künftig in Prothesen einbauen konnte, um etwa die Motoren eines künstlichen Armes über genau diejenigen Nerven zu steuern, die vor dem Verlust des echten Armes dessen Muskeln gesteuert hatten. Auch sollte es diese Technik ermöglichen, Sensoren in dem künstlichen Arm mit den Nerven des Tastsinns zu koppeln, sodass man den neuen Arm nicht nur steuern, sondern auch fühlen konnte. Auf diese Weise, so die Überlegung, würde sich eine Prothese irgendwann beinahe wie ein echter Körperteil anfühlen und so ein nahezu normales Leben ermöglichen.

      Keine Frage, dass James Kidd, der Schwiegersohn des Frankfurter Prothesenbauers Heinz Raumeister, bei diesem Angebot keine Sekunde zögerte, ungeachtet des damit verbundenen, eher niedrigen Gehalts. Keine Frage auch, dass sie Christophers Großvater davon berichteten und über alle Entwicklungen auf dem Laufenden hielten.

      Und keine Frage, dass sie alle wissen wollten, ob auf diesem Wege womöglich eine Schnittstelle geschaffen werden konnte, die es ermöglichen würde, Blinde wieder sehen zu lassen.

      Das, sagte Dr. Connery, sei eine faszinierende Frage und eher eine Frage der Soft- als der Hardware. Einen elektrischen Impuls in einen Nervenimpuls umzuwandeln, oder umgekehrt, sei tatsächlich gar nicht so schwierig – das Schwierige sei zu wissen, was der Impuls jeweils bedeute. Wolle man eine solche Schnittstelle schaffen, so gelte es zuerst zu entschlüsseln, was im Sehnerv und im Sehzentrum eigentlich vor sich ging, wenn ein Mensch etwas sah. Doch wie man das anfangen sollte, wisse er, Dr. Connery, jedenfalls nicht.

      Worauf ihm James Kidd geradeheraus erklärte, das habe nichts zu besagen, schließlich sei Dr. Connery ja Neurologe, kein Computerfreak. Er hingegen sei der Vater des berüchtigten Computer Kid, des besten Hackers der Welt. Wenn jemand imstande sei, so etwas herauszufinden, dann doch wohl Christopher und er.

      Das, fand Dr. Connery nicht unbeeindruckt, sei zumindest den Versuch wert.

      So machten sie sich an die Arbeit. Christopher begleitete seinen Vater an freien Nachmittagen in das Labor in London, und dort brüteten sie gemeinsam an ihren Computern über den Daten, die die Versuchsaufbauten von Dr. Connery lieferten. Als klar wurde, dass sie noch jemanden brauchen würden, der über eine gewisse Fertigkeit als Programmierer in Verbindung mit einem ausgeprägten Talent als Elektronikbastler verfügte, stieß ein Kollege aus der kleinen, obskuren Firma hinzu, ein uriger Typ namens Linus Meany.

      Vom Aussehen her wäre kein Mensch auf die Idee gekommen, in Linus jemanden zu vermuten, der mit Computern zu tun hatte. Er war ein stämmiger, breitschultriger Typ, der mehr Tätowierungen am Leib hatte als ein Rausschmeißer einer Nachtbar und Piercings jeder Art liebte. Entlang des linken Ohrs trug er nicht weniger als vierundzwanzig verschiedene Ringe – »einen für jede Freundin, die ich hatte«, erklärte er meistens, »aber jetzt muss ich entweder heiraten oder am rechten Ohr weitermachen« –, auf dem rechten Nasenflügel einen dicken Silberstern, einen Metallstift in der Zunge (»damit kann man so herrlich spielen, wenn man über eine knifflige Subroutine nachdenkt«) und einen eingefassten Rubin auf einem Schneidezahn.

      »Und noch ein paar Stifte an Stellen, die ich dir nicht zeigen kann«, fügte er normalerweise mit diabolischem Grinsen hinzu.

      Außerdem behängte er sich mit jedem elektronischen Spielzeug, das neu auf den Markt kam. Ob das neueste iPod-Modell oder der letzte Schrei unter den Mobiltelefonen, ob digitales Diktiergerät, GPS-Navigator oder Minikamera, in seinen Taschen fand sich immer alles. Seine Kollegen, die zwar auch alle ziemlich schräg drauf waren, aber nicht so aussahen, zogen ihn gern mit der Frage auf, ob seine vielen Piercings eigentlich nicht den Empfang seines Mobiltelefons störten?

      Dieses Team also machte sich über das Rätsel des Sehens her. Es war nicht einfach wissenschaftliche Arbeit, es war ein Hack. Nur dass sie sich nicht in irgendeine verbotene Datenbank hackten, sondern direkt ins menschliche Gehirn – zumindest in einen wichtigen Teil davon, die Kunst des Sehens.

      Die Ironie an der Geschichte war die, dass zu dem Zeitpunkt, an dem sie die ersten bahnbrechenden Erkenntnisse über die in den Hirn- und Nervenzellen vorzufindenden Codes gewannen, Christophers Großmutter längst ihren Frieden mit ihrer Krankheit gemacht hatte. Sie habe ihr Leben lang malen dürfen, erklärte sie, eigentlich reiche es jetzt auch.

      Kurz darauf kam aus irgendeinem Grund eine Zeitung auf die Idee, über sie zu berichten, und die Geschichte von der erblindenden Malerin führte in Verbindung mit ihren abgedruckten Bildern dazu, dass Christophers Großmutter auf ihre alten Tage noch ein wenig berühmt wurde und ihre Kunstwerke auf einmal gefragt waren. Sie war nach wie vor traurig über den Verlust ihres Augenlichts, aber sie war nicht mehr deprimiert. Eine Prothese, erklärte sie, wolle sie auf keinen Fall.

      Dessen ungeachtet machten Christopher, sein Dad, Linus und Dr. Connery weiter. Denn das Fieber herauszufinden, wie ihr Problem zu lösen war, hatte sie längst gepackt und ließ sie nicht mehr los.

      »Wart mal«, unterbrach ihn Kyle und nahm den Fuß vom Gas. »Da vorn stimmt was nicht.«

      Christopher sah auf. »Was denn?«

      »Ein Unfall, wie es aussieht.«

      Knapp eine viertel Meile vor ihnen stand ein Mann mitten auf der Straße und schwenkte die Arme. Am Straßenrand waren zwei Motorräder geparkt, daneben schien jemand auf dem Boden zu liegen.

      »Sieht so aus«, wiederholte Christopher leise und mit einem unbehaglichen Gefühl.

      Hoffentlich sah es nicht tatsächlich nur so aus.

      9

      Sie hielten. Es war kein Unfall, aber ein Notfall.

      Der Mann in der Lederkluft der Motorradfahrer,