Am Bibliotheksbus begegnet die Königin einem ihrer Köche. Weil der sie so gut berät, verleiht sie ihm einen hohen Rang. Doch der eifersüchtige Berater des Premierministers will den früheren Koch loswerden und schickt ihn zum Studium an eine ferne Universität, wo die Königin ihm später wieder begegnet. Als sie den Schachzug durchschaut, wirft sie den Berater des Premierministers raus. Bei einer Feier zu ihrem 80. Geburtstag verkündet sie ihren Ministern, sie werde ein Buch schreiben. Ein Buch … Ah ja, Erinnerungen an die Kindheit, den Krieg … Nein, nein, antwortet die Königin; man habe da schon eher an etwas Literarisches gedacht. Ma’am, die einzigartige Stellung, die Sie bekleiden, erlaubt es Ihnen nicht, und auch Ihr Onkel, der Herzog von Windsor, konnte Eines Königs Geschichte nur schreiben, weil er vorher abgedankt hatte. Antwort der Königin und letzter Satz des Buches: »Was glauben Sie denn, warum Sie alle hier sind?«
Die souveräne Leserin von Alan Bennett (The Uncommon Reader, 2007) präsentiert sich als Fabel über das Lesen und seine subversive Kraft. Doch in Wirklichkeit ist es ein Buch über Literatur. Als der Premierminister der Queen antwortet, sie stehe über der Literatur, erwidert die Queen: »Wer kann denn über der Literatur stehen?« – eine Frage, die natürlich keine Königin der Welt jemals gestellt hat.
Lesen und Macht
Die einzige Frage, die man sich im Hinblick auf einen Chef stellen sollte, lautet: Würde er die Bibliothek von Alexandria anzünden? Erscheint einem dieser Gedanke nicht plausibel, ist er gutmütig, und es besteht kein Grund zur Sorge. Andernfalls haftet ihm wohl etwas Vulgäres an. An Kalif Omar, den Schwiegersohn von Mohammed, erinnern wir uns, weil er mit der Vulgarität eines Fanatikers die endgültige Zerstörung dieser Bibliothek angeordnet hat (642, Eroberung Ägyptens), der wertvollsten Sammlung der Antike, deren Manuskripte für immer verloren sind. Der Zynismus von Tyrannen aus gutem Hause kann genauso zerstörerisch sein wie der Glaube, wenn er von dahergelaufenen Ehrgeizlingen instrumentalisiert wird. Solche plötzlich an die Macht gekommenen Menschen sind häufig konservativ, weshalb sich manchmal ausgerechnet die schlimmsten Diktatoren als Förderer der Lektüre entpuppten. In der Sowjetunion waren Bücher günstig, in den Schulen wurde zaristische Literatur gelehrt – wenn auch nur, um zu beweisen, dass der Realsozialismus über die Feudalherrschaft gesiegt hatte –, und die Manuskripte der Klassiker wurden sorgsam verwahrt. Der aus Büchern geborene Bolschewismus stellte das Buch unter seinen Schutz. Marx hat Puschkin gerettet. Beide Mitglieder der schreibenden Zunft! Ich denke nicht ohne Melancholie an den Sommer 1988 zurück, den letzten fröhlichen Sommer für unsereins, die Elite der Partei, als wir auf der Terrasse unserer Datscha am Ufer des Schwarzen Meeres noch einmal Der Marxismus und die Fragen der Sprachwissenschaft von Josef Stalin lasen (das meiner Meinung nach besser ist als Die ökonomischen Probleme des Sozialismus in der UdSSR).
Man möge lieber meine Bücher verbrennen als Menschen.
Lücken lesen
Einer der ersten Erwachsenenromane, die ich las, war das Satyricon von Petronius (Leser: zweite Hälfte 20. Jahrhundert; Autor: Mitte 1. Jahrhundert), und ich habe mich sehr gefreut, als ich erfuhr, dass dieser Text als erster abendländischer Roman gilt. Es ist ein munterer Roman. Spitzzüngig. Und fragmentarisch. Man erklärte mir, von antiken Büchern seien nur Abschriften erhalten, die in mittelalterlichen Klöstern angefertigt worden seien. Den Mönchen ist es hoch anzurechnen, dass sie mit ihrer naiven Liebe zu allem Geistigen ein Leben lang Bücher abschrieben, deren Religion ihrem Glauben widersprach, Bücher, die manchmal äußerst gewagte Dinge enthielten. Schlug vielleicht schon die Stunde zum Vespergottesdienst, weshalb der Bruder, der sich um Petronius kümmerte, mit geraffter Soutane, die Abschrift unter dem Arm, zum Refektorium eilte? Sind ihm dann in seiner Hast einige Blätter entglitten, die vom Wind ergriffen und auf einen Haufen Papier getragen wurden, der für die Verpackung von Likörflaschen bereitlag? Oder wurden die alten Papierbogen von Insektenflügeln entführt? Jedenfalls liegt uns das Satyricon nur unvollständig vor. Die Lektüre seiner Lücken hat etwas Faszinierendes. Weniger als das, was geblieben ist, und nur existent aufgrund dessen, was geblieben ist. Was hat diese Lücke einst gefüllt?, fragt man sich jedes Mal und wird noch mehr zum Sherlock Holmes, als man es ohnehin bei jeder Lektüre ist. Angeblich ist das Satyricon erst im Laufe seiner Reise durch die Zeit zum Lückentext geworden. Nun gut. Wenn ich nun aber behaupte, es liege nicht an der Zeit, sondern an Petronius’ Genie? Dass er seine Lücken selbst entworfen hat? Die Herablassung, mit der die Gegenwart der Vergangenheit begegnet, ist manchmal geradezu lachhaft. Schon mal gehört, dass es auch früher intelligente Leute gab? Also habe ich mir gesagt: Schreiben wir einen Lücken-Roman. Gesagt, getan: Nos vies hâtives hat sich zugegebenermaßen nicht gerade blendend verkauft.
Der Leser schafft sich wohl seine eigenen Lücken, indem er Seiten überspringt.
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