Moni Kaspers

Trust me - Blindes Vertrauen


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      Leon massierte seine Schläfen und versuchte sich währenddessen auf die Straße zu konzentrieren. Seine Kopfschmerzen hatten sich in den letzten hundert Meilen massiv verstärkt und obwohl er Tabletten verabscheute, war er entschlossen, die nächste Ortschaft anzufahren und sich ein Medikament gegen das hämmernde Pochen zu besorgen. Neben ihm auf dem Beifahrersitz lag Twister, eine mittelgroße Promenandenmischung. Den Namen hatte er ihm gegeben, nachdem er ihn nach einem Tornado aus den Trümmern gezogen hatte. Er war nur zufällig an dem Ort vorbeigefahren, der Tage zuvor dem Erdboden gleichgemacht worden war. Die meisten Menschen waren rechtzeitig gewarnt worden und hatten sich vor der Naturgewalt retten können, doch an den kleinen Kacker hatte offenbar niemand gedacht. Er fand ihn in den Resten einer alten Scheune, als er anhielt, weil er pinkeln musste. Verdreckt, durchnässt und verletzt hatte der Hund zwischen den Brettern gelegen. Leon hatte ihn herausgezogen und sich bemüht, ihn in einem hoffnungslos überfüllten Tierheim abzugeben, doch die gestresste Mitarbeiterin bat ihn, sich des Hundes anzunehmen, bis sich eventuell jemand meldete. Sie erklärte ihm, dass die Menschen ihre Tiere oft sich selbst überließen und lieber ihre Wertsachen retteten. Um dem drohenden Unwetter zu entkommen, rannten die panischen Tiere oft kilometerweit davon, wenn sie es überlebten. Viele fanden ihre Besitzer nie wieder. Weidevieh wie Rinder, Schafe oder Pferde hatten die größeren Chancen auf eine Rückkehr zu ihren alten Besitzern, denn sie waren von Wert für die Farmer. Hunde oder Katzen waren es nicht, und wenn sie nicht das seltene Glück hatten, von liebevollen Besitzern vermisst und gesucht zu werden, wurde einfach ein neues Haustier besorgt. Twister gehörte zu den Hunden, die nicht vermisst wurden. Der kleine Kerl hatte ihm leid getan und er erklärte sich einverstanden, ihn mitzunehmen. Er hatte seine Nummer hinterlassen, doch die Dame aus dem Tierheim machte ihm wenig Hoffnung auf einen Anruf.

      „Wenn sie ihn mitnehmen“, hatte sie gesagt, „dann richten Sie sich darauf ein, dass Sie nun einen Hund besitzen.“

      Sie sollte recht behalten, denn seit über einem Jahr hatte sich niemand gemeldet. Wer nun dachte, Twister und er wären sofort ein Herz und eine Seele, der dachte falsch. So ganz war der Hund nicht davon begeistert, ihn als sein Herrchen zu akzeptieren, und auch er hatte zunächst gehofft, ihre Zweckgemeinschaft wäre eine zeitlich begrenzte Beziehung mit respektvoller Distanz. Doch nach und nach hatten sie sich damit abgefunden, Leon sogar eher als der Hund, dass sie es wohl miteinander aushalten mussten. Twister liebte das Autofahren und seinen Stammplatz im Fußraum. Er war oft kaum zu bewegen, den Wagen zu verlassen, als hätte er diesen zu seiner Schutzzone erwählt. Manchmal fragte er sich, ob es das Richtige für den Hund war. Ob es nicht besser wäre, eine Familie für ihn zu finden. Vor kurzem hatte Twister tatsächlich erst seine Pfote und dann die Schnauze auf Leons Oberschenkel gelegt und ihn mit freundlichem Blick angesehen. Das war das Netteste, was er je getan hatte. Das Eis war seither zwar gebrochen, doch da sie offenbar beide nicht zu Gefühlsausbrüchen neigten, beschränkten sich ihre gelegentlichen Zuneigungsbeweise auf ein leichtes Tätscheln oder ein Wippen mit der Schwanzspitze.

      Nun waren sie also unterwegs nach Tillamook. Irgendeinem Nest, auf ihrem Weg zu den Ölfeldern in der Nähe von Bakersfield. Hoffentlich war dieses Dorf wenigstens so groß, dass es eine Drogerie besaß und die Einwohner Tillamooks ebenfalls gelegentlich unter Migräne litten. Als er das Ortsschild passierte, breitete sich plötzlich der Gestank von Käse im Wagen aus. Leon öffnete angewidert das Fenster und bedachte Twister mit einem vorwurfsvollen Blick, doch der Geruch verstärkte sich, als die Luft in den Wagen strömte. Twister hielt die Nase in die Höhe, dann schubbelte er mit der Pfote über die Schnauze und nieste zweimal kräftig. Ihm schien der Käsegeruch auch nicht zu liegen. Der Übeltäter war schnell ausgemacht, sie näherten sich einer riesigen blauen Fabrikhalle, auf deren Wänden in monumentalen gelben Buchstaben ‚Tillamook Cheese Factory’ geschrieben stand. Mit einer Käsefabrik hatte er am Rande des Pazifiks nicht gerechnet. Eine Fischfabrik vielleicht, aber Käse? Entschädigt wurde er jedoch von der grandiosen Aussicht, die sich eröffnete, als er die Fabrik hinter sich ließ. Die Straße führte am Rande der Klippen vorbei und der Blick über den unendlich scheinenden Pazifik war atemberaubend. Ungezähmt und wild preschten die Wellen mit roher Gewalt gegen die hunderte Meter hohe Felsküste, die sich bis zum Horizont erstreckte. Wehe dem, der dort unten in Seenot geriet.

      Leon nutzte die Gelegenheit, um kurz anzuhalten und den Geruch von Käse aus den Lungen zu verjagen. Er ließ Twister sein Geschäft verrichten und legte ein paar Schritte Richtung Steilwand zurück. Schilder warnten vor zu nahem Herantreten an die Abbruchkante, also blieb er stehen und füllte seine Lungen mit kühler Seeluft. Wo die Gischt der brechenden Wellen in die Höhe stieg, war es dunstig, doch weiter hinaus legte sich der Schleier und gab den Blick auf tiefblaues Wasser frei.

      In diesem Moment hatte er unerwartet ein seltsames Gefühl im Bauch und er musste darüber nachdenken, was es bedeuten könnte. Er forschte in seinem Inneren und empfand so etwas wie Frieden. Als fiele etwas von ihm ab. Das war ihm fremd, so seltsam das klingen mochte, doch er kannte dieses zufriedene, geradezu glückliche Gefühl nicht. Es war wohl irgendwann verloren gegangen. Ohne es zu wollen, atmete er erneut tief ein, als hätte seine Lunge einen eigenen Impuls. Als schlüge sein Herz, ohne sein Dazutun plötzlich schneller. Was mochte die Ursache dafür sein? Der Blick auf den Pazifik? Den kannte er zur Genüge, er war nicht das erste Mal am Meer. Es war ein Gefühl, als wäre er endlich dort angekommen, wo er nie hinwollte. Wie wenn man etwas fand, was man nie gesucht hatte. Leon schüttelte den Kopf über seine wirren Gedanken und beobachtete Twister. Auch der verhielt sich anders als sonst. Statt nur schnell das Bein zu heben und gleich wieder auf seinen gewohnten Platz im Wagen zurückzukehren, schnüffelte er an den Wildblumen, trabte mit fröhlich erhobener Rute über die ausgestreckten Wiesen und schien ihren Stopp ausgiebig zu genießen.

      Das Pochen in Leons Schläfen erinnerte ihn jedoch schmerzlich an sein eigentliches Vorhaben und so rief er Twister zu sich und setzte seine Fahrt fort. Sie erreichten Tillamook und erstaunlicherweise gab es eine richtige Einkaufsmeile mit Geschäften, einer Tankstelle und einem Restaurant. Das hatte er dem Miniaturpunkt auf der Landkarte mit dem lustigen Namen nicht zugetraut, doch es kam ihm sehr gelegen. Er könnte seine Tablette einnehmen, etwas essen, tanken und dann würde ihn nichts mehr stoppen auf dem Weg nach Bakersfield. Er hatte noch eine Woche Zeit, seinen neuen Job anzutreten, und wollte sich nach einer Unterkunft umsehen, auch wenn er dafür etwas spät dran war. Das Treffen mit Jasper war schuld, dadurch war er einen Umweg gefahren. Er hätte sonst längst etwas finden können, doch nun drohte ihm die vorrübergehende Unterkunft in einer Arbeiterbaracke. Er hoffte, dass Twister dort kein Problem darstellte.

      Mit Schwung parkte er in der einzigen freien Lücke unmittelbar vor dem Drugstore und besorgte sich schnell eine Packung Schmerztabletten. Als er zum Wagen zurückkehrte, hörte er Twister aufgeregt bellen. Eine Ordnungshüterin tippte mit wichtiger Miene sein Kennzeichen in ihr Erfassungsgerät und als er sie erreichte, zückte sie ihr Mobiltelefon und machte Beweisfotos.

      „Ist das denn wirklich nötig?“, sprach er sie freundlich an. „Ich war nur zwei Minuten weg.“

      „Sir, Sie parken auf einem Behindertenparkplatz. Das sollte Ihnen aufgefallen sein.“

      „Hören Sie“, er bemühte sich seiner Stimme einen verständnisvollen Klang zu verleihen. Auf ein Ticket hatte er nun wirklich keine Lust. „Selbst wenn nun ausgerechnet in diesem Augenblick ein Mensch mit Handicap parken möchte, so war ich doch sofort zur Stelle und hätte ihm Platz machen können.“

      „Es ist ein Behindertenparkplatz, Sir. Sind Sie gehandicapt?“

      „Nein.“

      „Das sollte die Antwort auf Ihre Aussage sein.“

      Es hatte offenbar keinen Zweck, darum blieb er jetzt still. Sie tippte minutenlang auf ihrem Gerät herum und machte dann erneut Bilder. Ihm riss allmählich der Geduldsfaden.

      „Fällt Ihnen auf, dass Sie mich mittlerweile länger aufhalten, als meine Parkzeit gedauert hat?“

      Sie warf ihm stumm einen abschätzigen Blick zu, zückte einen Block und schrieb auf diesem weiter. Dann riss sie mit Schwung das oberste Papier ab und überreichte es ihm.

      „Hundertachtundzwanzig