Frederik Hetmann

Ich habe sieben Leben


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spielen, weil sie Ansteckung befürchten. Andere Kinder ekeln sich, wenn Ernesto nach seinen Anfällen Schleim ausspucken muss.

      Er stellt sich das Leben in den Baldios als eine ständige, ekelhafte Krankheit vor. Er träumt von einem Bündnis zwischen den Kindern der Armen und sich. Nur ist es schwierig, mit ihnen zusammenzukommen, außer in der Schule, und dort sitzen diese Kinder getrennt von den anderen. Einmal ist er allein hinaus in die Baldios gegangen und hat versucht, Rio, seinen Klassenkameraden, zu treffen. Ein Gewirr von zusammengeflickten Buden, Hütten, Wellblechbaracken, eine Kraterlandschaft. Erdlöcher, über die Säcke gespannt sind. Halbnackte Kinder, die sich um eine rostige Konservenbüchse balgen. Frauen, die vor ihren Behausungen hocken und apathisch vor sich hinstarren. Gestank. Fliegenschwärme.

      Er hat Rio nicht getroffen. Die Menschen, die er gefragt hat, haben ihn seltsam gemustert, so, als wollten sie sagen: Was hast du hier verloren? Er könnte den Lumpenkindern helfen, wenn ihre Banden im Sommer in die Oberstadt heraufkommen und versuchen, in den Gärten Obst zu stehlen. Mr. Harrow, der englische Ingenieur, der zwei Häuser weiter wohnt, hat einmal mit einer Schrotflinte nach einer Bande der Lumpenkinder geschossen. Eines ist verletzt liegengeblieben. Die Polizei ist gekommen und hat es ins Gefängnis gebracht. Rio hat erzählt, der Junge sei dort gestorben, weil die Polizisten es nicht für nötig befunden haben, einen Arzt zu rufen. Die Lumpenkinder haben gestohlen!

      Darf man stehlen, wenn man Hunger hat?

      Wie ist das, Hunger zu haben?

      Ernesto in seinem Bett denkt sich aus, er sitze dort im Garten der Harrows hinter den Sträuchern, und noch ehe der Engländer abdrücken kann, treffe ihn ein Stein aus Ernestos Schleuder ins Gesicht. Ein kleiner Stein, der ihn nur erschreckt, damit die Lumpenkinder Zeit haben, so viele Äpfel abzupflücken, wie sie wollen.

      Im nächsten Sommer wird er es so machen. Bis zum nächsten Sommer ist noch eine lange Zeit. Aber etwas anderes könnte er tun. Er wird nur noch in seinen ältesten Hosen und Hemden herumlaufen. Dem Vater wird das gleichgültig sein; der Mutter kann er erklären, dass dies ein Zeichen dafür ist, dass er für die Lumpenkinder kämpfen will.

      Vielleicht, dass sich Mr. Harrow darüber aufregt und den Vater deswegen anspricht. Da würde er aber schön abfahren ... so wie der Priester, der ins Haus gekommen ist, um darüber Klage zu führen, dass keines der Guevara-Kinder zur Messe geht.

      Der Vater hat zu dem Priester gesagt: »Ich bezweifle keinen Augenblick, dass Jesus der beste Mensch gewesen ist, der je auf Erden gelebt hat. Aber die Kirche hat seine Lehre ruiniert. Die Kirche ist das größte Geschäft, das je von einem Juden gegründet und von Italienern geleitet worden ist.«

      Der Priester hat seinen komischen Hut genommen und ist ohne ein Wort der Erwiderung und ohne einen Gruß gegangen.

      Erfahrungen

      »Don Manuel Santamarin IV gibt sich die Ehre, die Söhne und Töchter seiner verehrten Freunde anlässlich des 14. Geburtstages seines Sohnes Juan zu einem Empfang zu bitten. Die Geburtstagsfeier findet im Großen Salon des Sierra Hotels statt.«

      Don Manuel hat ausdrücklich Wert darauf gelegt, dass die Kinder bei dieser Gelegenheit eine Vorstellung davon bekommen sollen, wie es auf den Festen der Erwachsenen zugeht. Fünf, sechs Jahre hin, und sie werden sich auf dem glatten Parkett in den Häusern der großen Familien in der Hauptstadt mit Sicherheit bewegen müssen.

      Die Väter feiern mit Don Manuel im an den Salon angrenzenden Raucherzimmer. Die Mütter sind daheim geblieben. In der Mitte des Salons steht ein schwerer, langer Eichentisch mit der sich hoch auftürmenden Geburtstagstorte. Zwischen den beiden Flügeltüren, die auf die Terrasse hinausführen, ist ein kaltes Büfett aufgebaut. In einer Ecke, auf einem Podest, haben Gitarrenspieler in der Tracht der Provinz Aufstellung genommen. Zu beiden Seiten des gerafften Vorhangs, der den Raum gegen die Vorhalle des Hotels abschließt, steht je ein Reitknecht des Hauses Santamarin in Livree. Betritt einer der kleinen Gäste den Salon, so haben die Reitknechte Anweisung, mit ihren Stäben aufzustampfen und laut den Namen der betreffenden Familie auszurufen. Dann trippeln kleine Mädchen, deren Körper zwischen Wölkchen pastellfarbener Tüllstoffe zu schweben scheinen, und Jungen in Matrosenanzügen zu den beiden Gastgebern, den Geschwistern Santamarin, werden dort von ihren Gouvernanten und Hauslehrern noch einmal vorgestellt und überreichen ihre Geschenke.

      Das Fest ist seit zwei Stunden im Gange. Langsam fällt es schwer, die Kinder zu bändigen. Gleich wird man sich zur großen Schlusspolonaise aufstellen.

      In diesem Augenblick betritt Ernesto die Eingangshalle des Sierra Hotels. Dass er zum Kinderfest der Santamarins eingeladen worden ist, hat daheim einiges Erstaunen hervorgerufen. Die Guevaras verkehren nicht mit den Familien der Oligarquia.

      Oligarquia = Oligarchie wörtlich die Herrschaft weniger. In Südamerika: die Klasse der Reichen. Im Argentinien dieser Jahre etwa 200 Familien, durch Verwandtschaft und gemeinsame Interessen miteinander verbunden. Als Großgrundbesitzer, Besitzer der wichtigsten Exportfirmen, Industrien und Dienstleistungsbetriebe, beherrschten sie die Wirtschaft und bestimmten von daher die Politik. Vergleichbar in Europa in ihrer sozialen Stellung und politischem Einfluß den ostelbischen »Junkern« und Rittergutsbesitzern im Preußen des 19. Jahrhunderts.

      Vielleicht ein Missverständnis? Er soll nur hingehen, hat der Vater erklärt. »Du wirst dich wahrscheinlich schrecklich langweilen, aber man muss alles einmal mitgemacht haben.«

      Später sind die Eltern nicht mehr auf die Einladung zu sprechen gekommen. Ernesto hatte sich vorgenommen, nicht hinzugehen. Aber an diesem Nachmittag hat er niemand gefunden, mit dem er spielen kann, und hat sich entschlossen, es sich doch einmal anzusehen.

      Er trägt die üblichen Kleider, die er anhat, wenn er auf dem Golfplatz herumstromert, auf Bäume klettert oder mit dem Vater Tontauben schießen geht; ein verwaschenes blaues Hemd, kurze Hosen, die an den Beinen ausgefranst sind und Turnschuhe.

      Die Angestellten im Vestibül mustern ihn erstaunt, aber er kann ihnen eine Einladungskarte vorweisen, die er aus der Gesäßtasche seiner Hose hervorzieht. Sie deuten auf die Leere zwischen dem gerafften Vorhang. Die Schildwachen, die dort standen, haben sich zurückgezogen, da sie nicht mehr erwarteten, dass jetzt noch Gäste kommen.

      Ernesto ist völlig unbefangen. Er hört Musik. Er sieht, wie sich die Jungen und Mädchen zu Paaren aufstellen.

      Er geht auf ein Mädchen zu, das an der Spitze des Zuges noch allein steht. Es ist Rosa Santamarin. Die Gouvernante sucht noch nach einem Partner für sie. »Nicht Paco«, hat sie Rosa zugeraunt, »ich hole dir Felipe Asunto.« (Die Asuntos besitzen noch ein paar tausend Rinder mehr als die Santamarins.)

      Das Mädchen hat Ernesto nicht kommen sehen. Als er ihren Arm berührt, fährt sie herum, reißt sich von ihm los, nimmt Abstand und mustert ihn dann mit zornigem Gesicht. »Wer hat den dreckigen Schuhputzerjungen hereingelassen«, zetert sie.

      Erwachsene springen herbei. Die Kinder drängen sich um Ernesto. »Ruhe Kinder, Ruhe doch!«,

      »Raus mit dir!« schimpft Rosa.

      »Raus, raus, raus«, echoen die anderen Kinder, froh, dass sich endlich etwas Aufregendes ereignet.

      Ernesto schüttelt den Kopf. Er könnte hinausgehen, aber er will nicht. Die Aufregung breitet sich durch seinen Körper hin aus. Er kann nichts dagegen tun. Er sieht die Menschen um sich gestikulieren. Rosas Hand zuckt vor. Ihre Nägel hinterlassen einen Kratzer auf seiner Wange. Immer noch staunt er über soviel Empörung. Die Kinder schieben sich näher heran.

      Sie sollen Platz machen, denkt er. Die Luft ist so stickig. Er braucht Platz, um atmen zu können. Seine Hände verkrampfen sich. Er streckt die Arme aus, um die Menschen fortzuschieben.

      Sie verstehen das falsch. »... jetzt auch noch unverschämt werden!« Er erhält eine Ohrfeige. Er weiß nicht von wem. Er schlägt zurück.

      Der Hustenanfall beginnt. Er hustet, hustet.

      »Widerlich«, empört sich Rosa.

      Jemand packt Ernesto beim Kragen und versucht, ihn aus dem Salon zu zerren.

      Er macht sich steif.