Andre Alexis

Fünfzehn Hunde


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zeitweilige Unterkunft gedacht war, ein Ort, an dem sie nachdenken konnten über das, was mit ihnen geschehen war, war das Wäldchen ein Zuhause geworden, und sie konnten sich kaum noch vorstellen, es aufzugeben.

      Majnoun hatte irgendeinen Annährungsversuch von Frick, Frack, Max oder Atticus erwartet. Er hatte erwartet, dass einer von ihnen die Sache der Anführerschaft zur Sprache bringen würde. Das Rudel hatte eine Zeitlang auf einen Anführer verzichtet, eine unnatürliche Situation. Und wenn er selbst auch nicht führen wollte, wäre es für die anderen beleidigend gewesen, Atticus – den wahrscheinlichsten Kandidaten – dem Rudel aufzuzwingen, ohne zuerst seine (also Majnouns) Meinung zu erfragen. Früher hätten sie zweifellos darum gekämpft. Aber nach der Veränderung, die über sie gekommen war, schien Majnoun zumindest eine physische Auseinandersetzung nicht mehr der beste Weg zu sein, eine so komplizierte Sache wie die Führung eines Rudels zu lösen.

      (Wie seltsam die Veränderung war! Eines Tages, als Majnoun Menschen zuhörte, die mit ihrem Lieblingstier sprachen, machte er eine merkwürdige Erfahrung. Es war, als hätte die Sonne einen dichten Morgennebel wie einen Vorhand weggeschoben. Er verstand, was die Menschen sagten! Und nicht nur einige Wörter – Wörter, die er selbst tausendmal gehört hatte. Er glaubte, die Gedanken dahinter zu verstehen. Soweit Majnoun wusste, hatte noch nie ein Hund einen Menschen so verstanden wie er in diesem Moment. Er war sich nicht sicher, ob er verflucht oder gesegnet war, aber diese neue Sache – dieses Verstehen – verlangte natürlich eine Veränderung im Verhalten, etwas, das ihnen half, mit der unverminderten Fremdheit der Welt fertig zu werden.)

      Majnoun und Atticus liefen zusammen aus dem Wald in den Park. Der Himmel war voller Sterne. Alles war ruhig, außer dem endlosen Lärm der Grillen, die auch die kühle Nacht nicht verstummen ließ.

      Was werden wir jetzt tun?, fragte Atticus.

      Die Frage war eine Überraschung.

      Wogegen?, antwortete Majnoun.

      Ich habe die falsche Frage gestellt, sagte Atticus. Ich meine, wie sollen wir leben, nun da wir Fremde unter unsresgleichen sind?

      Mit Recht haben sie Angst vor uns, sagte Majnoun. Wir denken nicht mehr wie sie.

      Aber wir fühlen noch wie sie, nicht wahr? Ich erinnere mich, was ich vor jener Nacht war. Ich bin nicht so anders.

      Ich kannte dich vorher nicht, sagte Majnoun, aber ich kenne dich jetzt, und nun bist du anders.

      Einige von uns, sagte Atticus, glauben, dass es am bes­ten ist, das neue Denken nicht zu beachten und nicht mehr die neuen Worte zu benutzen.

      Wie kann man die Worte im Kopf zum Schweigen bringen?

      Niemand kann das, aber man kann sie überhören. Wir können zu der alten Lebensweise zurückkehren. Dieses neue Denken führt weg vom Rudel, aber ein Hund ist kein Hund, wenn er nicht dazu gehört.

      Das sehe ich nicht so, sagte Majnoun. Wir haben diese neue Art. Sie ist uns geschenkt worden. Warum sollten wir sie nicht gebrauchen? Vielleicht gibt es einen Grund für unsere Verschiedenheit.

      Ich habe nicht vergessen, sagte Atticus, wie es war, mit den anderen zu rennen. Aber du, du willst denken, immer weiter denken und dann wieder denken. Was ist das Gute an so viel Denken? Ich bin wie du. Ich kann Gefallen daran finden, aber es bringt uns keinen Vorteil. Es hält uns davon ab, Hunde zu sein, und es hält uns von dem fern, was richtig ist.

      Wir wissen Dinge, die andere Hunde nicht wissen. Können wir sie ihnen nicht beibringen?

      Nein, sagte Atticus. Nun ist es an ihnen, uns zu lehren. Wir müssen lernen, wieder Hunde zu sein.

      Hund, warum willst du meine Gedanken zu diesen Dingen wissen? Ist es dein Wunsch, der Anführer zu werden?

      Würdest du mich herausfordern?

      Nein, sagte Majnoun.

      Die beiden Hunde saßen eine Zeitlang zusammen und horchten auf die Geräusche der Nacht. Im Park wimmelte es von unsichtbarem Leben. Über ihnen war eine Weite so neu und unvergleichlich, wie sie alt war. Keiner von ihnen hatte je den Sternen und dem Nachthimmel viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nun machten sie sich ungewollt Gedanken darüber.

      Ich frage mich, ob der Hund, der so seltsam redet, Recht hat, sagte Atticus. Hat der Himmel wirklich kein Ende?

      Der Hund hat schöne Gedanken, sagte Majnoun, aber er weiß nicht mehr als wir.

      Glaubst du, dass wir das je wissen werden?

      Majnoun kämpfte mit der Frage und mit den Gedanken in seinem Kopf. Alles schien manchmal so hoffnungslos verworren. Er fragte sich, ob Atticus am Ende nicht doch Recht hatte. Vielleicht war es am besten, ein Hund zu sein, wie Hunde immer gewesen waren: nicht durch Denken von anderen getrennt, sondern Teil der Gemeinschaft. Vielleicht war alles andere sinnlos oder schlimmer noch eine Illusion, die einen vom Guten entfernte. Aber wenn auch ihre neue Art zu denken lästig war – ein Qual manchmal –, war sie nun ein Teil von ihnen. Warum sollten sie sich davon abwenden?

      Eines Tages, sagte Majnoun, wissen wir vielleicht, wo der Himmel endet.

      Ja, sagte Atticus, eines Tages oder auch nicht.

      Majnouns Instinkte waren intakt. Er hatte ein Zwiegespräch über die Führerschaft vorhergesehen, und obwohl Atticus die Diskussion vage gehalten hatte, war es um Macht gegangen. Majnoun hatte jedoch nicht alle Nuancen erfasst. Atticus interessierte sich nicht dafür, ob Maj­noun ihn als Anführer herausfordern würde oder nicht. Atticus war größer als Majnoun, und außerdem hatte er Frick, Frack, Max und Rosie auf seiner Seite. Was Atticus wirklich erkunden wollte, war, ob Majnoun zum Rudel gehörte, angesichts der Richtung, die er, Atticus, für es gewählt hatte. Ohne es zu wissen hatte Majnoun Atticus all die Informationen gegeben, die er brauchte.

      Am folgenden Tag, als sie auf Nahrungssuche sein sollten, trafen sich Frick, Frack, Max und Atticus am See auf der anderen Seite der Humber Bay Arch Bridge, weit weg von den anderen, weg von den Hunden ohne Leine.

      Ich habe mit all den anderen gesprochen, sagte Atticus. Um zu leben, wie wir leben sollen, muss es Veränderungen geben. Einige können bleiben. Andere müssen gehen.

      Was ist mit dem schwarzen Hund?, fragte Frack.

      Er ist keiner von uns, antwortete Atticus. Er muss verbannt werden.

      Es wäre besser, ihn zu töten, sagte Max.

      Das denkst du nur, weil er dich bestiegen hat, sagte Frick.

      Nein, sagte Atticus, der Hund hat Recht. Den schwarzen zu vertreiben, wird nicht leicht sein. Einige Hunde stehen treu zu ihm. Ich will ihn nicht töten, aber es wäre schwierig, wenn er bliebe.

      Was ist mit der Hündin mit der hohen Vagina? fragte Max.

      Sie favorisiert den schwarzen Hund, und sie ist zu stark, sagte Atticus. Wir müssen sie loswerden.

      Lass sie die kleine Hündin mitnehmen, sagte Max.

      Wie ist es mit Regeln?, fragte Frack.

      Es wird zwei geben, antwortete Atticus. Nur noch richtige Hundesprache und keine andere Lebensweise als die von Hunden. Wir werden leben, wie wir leben sollen.

      Ohne Herren?, fragte Frick.

      Wir werden keine Herren haben, sagte Atticus. Hunde ohne Herren sind die einzig wahren Hunde. Drei müssen gehen: die große Hündin, der schwarze Hund und der, der Worte auf so seltsame Weise benutzt. Wenn sie erst einmal weg sind, können wir leben, wie wir es sollen.

      Wirst du den schwarzen Hund herausfordern?, fragte Max.

      Nein, sagte Atticus. Wir müssen alle drei auf einmal loswerden. Wir werden schnell sein und tun, was getan werden muss, bevor die übrigen Hunde Partei ergreifen oder die Sache schwierig machen.

      Wann?, fragte Frick.

      Heute Nacht, sagte Atticus.

      Und auch wenn es nicht die wahre Hundeart war, so arbeiteten sie ihre Strategie bis aufs letzte Detail aus, wobei das letzte Detail der Überlegung galt, was sie