von 1871 rückblickend um zum »Ausgangspunkt einer deutschen Weltmachtpolitik«, die deutsche Bourgeoisie kanzelte er als »erfolgstrunken und friedensdurstiges Geschlecht« ab, und von der SPD hielt er gar nichts. Dafür erschien ihm die Kanzlerschaft Bismarcks – immerhin bei einem akademischen Initiationsritus und nicht am Stammtisch der Farbenbrüder von der Korporation »Germania« – »als öffne der Sachsenwald wie ein moderner Kyffhäuser seine Tiefen«.
»Die Weihe eines deutschen Krieges« (Max Weber 1916) hatte ihr ideologisches Fundament in der Macht- und Verantwortungsmetaphysik – das reale Fundament war die wirtschaftliche Macht des prosperierenden Kaiserreichs. Und dass beide Fundamente nichts miteinander zu tun hätten, behaupteten nicht einmal mehr besonders ausgewiesene kriegerische Feuilletonisten. Bereits mit seiner Antrittsvorlesung von 1895 bemühte sich Max Weber, aus der gestiegenen ökonomischen Potenz des jungen Reiches weitläufige politische Ansprüche eines »Herrenvolkes« gegenüber dem »Polentum« und dem Rest der Welt abzuleiten. Derlei brutale Dummheiten und Vereinfachungen als Wissenschaft zu drapieren, schafften selbst die plattesten Stalinisten nicht.
Heute verbucht eine vulgäre Geschichtsphilosophie die wirtschaftliche Potenz der BRD als quasinatürlichen Auftrag zu militärischen Interventionen rund um den Globus. Diese Redeweise plädiert für die Beseitigung jeglicher geschichtsphilosophischer oder utopischer Gehalte aus theoretischen und politischen Debatten, was angeblich der Zusammenbruch des »realexistierenden Sozialismus« zwingend nahelege. Vermeintlich purer Realismus wird nun verordnet. Dessen Prediger merken gar nicht, wie sie gerade im emphatischen »realpolitischen« Rückgriff auf ’89 das »vereinigte Deutschland« zum »welthistorischen Moment« (FAZ 2.3.1990) und zum »Epochenbruch, durch den sich wohl die gesamte bisherige Gestalt der Menschwerdung ändert« (taz 14.12.92) frisieren; so kommt die Schwundstufe von Geschichtsphilosophie im Namen ihrer Beseitigung daher.
Biedersinniges Normalisierungs- und Positivierungsstreben – endlich mal dabei sein beim »nationalstaatlichen« Anstreichen der Geschichte wie die Urgroßväter nach Sedan – leitet und stimuliert die jüngste Sinnstiftung. Die geschichtsphilosophische Ideologie der Zustimmung, die als Terminator aller Geschichtsphilosophie auftritt, ist das Mastfutter, von dem sich die neuste Stimmung im Westen ernährt. »Verantwortung« ist der Verdünner, mit dem behäbige wirtschaftliche Macht in agile militärische Gewalt verwandelt werden soll.
Die Frage, wohin man deutsche Soldaten in welcher Konstellation rauslassen soll, stellte sich zuerst nicht etwa an Stammtischen, sondern innerhalb der staatstragenden Parteien, im akademischen Diskurs und natürlich im Feuilleton. Wer bei den bevorstehenden Kriegen zur Erhaltung jenes globalen Status quo, an dem voraussichtlich die Hälfte bis zwei Drittel der Welt verderben werden, überhaupt etwas gewinnen kann, ist höchst fraglich – und gerade deshalb tabu. Darum wurde das Thema gesinnungsmäßig zur Schlacht um die »Verantwortung der BRD für die Welt« aufgerüstet. Und nun beklagen Bonner Minister und Hinterbänkler, Bild und FAZ, Fatzkes und Motzkis, anpassungswillige Friedensforscher und verstaatlichte Grüne an den männlichen und weiblichen Deutschen ungefähr dasselbe wie Max Weber an der deutschen Vorkriegs-Bourgeoisie – die rational begründete Skepsis gegenüber Kriegen und militärischen Interventionen: »Die Deutschen haben ein gebrochenes Verhältnis zum Militärischen« (FAZ 23.2.93). Woraus gefolgert wird, die Verfassung sei umgehend an transkulturelle Schäferhundebesitzer-Schrebergärtner-Mentalitäten sowie ziemlich alte militaristische und relativ junge imperialistische »Normalitäten« anzupassen.
Man muss froh sein, dass jene, die vom Kriegsgeschäft eine klare Vorstellung haben – deutsche und ausländische Offiziere –, sehr viel skeptischer sind gegenüber Interventionen auf dem Balkan und anderswo als die journalistischen und akademischen Sandkastenstrategen. Die Dialektik der Aufklärung wird überboten von den Realitäten: Ehedem der Aufklärung verpflichtete Intellektuelle militarisieren sich, und der Generalinspekteur der Bundeswehr präsentiert sich in voller Montur als Anwalt von politischer Vernunft, humaner Verhältnismäßigkeit und ziviler Gelassenheit.
Der letzte Golfkrieg hat neben unbestimmten ein bestimmtes Ergebnis gezeigt: Viele deutsche Intellektuelle zwischen Garmisch und Flensburg sind über Nacht zu Militär- und Kriegs»experten« geworden. Endlich erscheint die Welt handhabbar nach all den abstrakten Illusionen, Utopien und Theorien. Der Horizont wird überschaubar verengt. Stirnvernagler und Scheuklappenproduzenten machen jetzt Kasse am Buchmarkt. Fast alles reduziert sich auf militärische Arithmetik: Wo kann man, wo muss man, wo darf man »rein« – alles nur eine Frage des Eintrittspreises.
Das wäre weiter nicht schlimm, denn noch kommandiert der neudeutsche akademische und journalistische Irrationalismus keine Armeen. Aber gleichzeitig kriegt man den Eindruck vermittelt, militärische Kreise und über Macht verfügende Eliten bedienten sich der akademischen und journalistischen Vorläufer als Weichspüler und Weichkocher for the gallery – den glotzenden Haufen. Die Folgen sind absehbar geworden. Kein deutscher Angriffskrieg oder dritter Weltkrieg steht vor der Tür, aber die Verfassung wird Stück für Stück demontiert. Für viele spielt es schon keine Rolle mehr, dass man eine Frage schnell und einfach »entscheidet«, obwohl sie rechtlich höchst strittig und die »Entscheidung« verfassungsrechtlich vermutlich nicht gedeckt ist. Weg mit dem Formelkram; souverän ist, wer endlich wieder vorne mitmischt. Die Republik wird »dekonstruiert«, der »nationale« Staat rekonstruiert. Erst brannten die Häuser der Ausländer, und nun beginnt die Marschmusikstunde mit Stalingrad-Anekdoten, moderiert von jenen, die gestern auf Kanzeln, Kathedern und in den Feuilletons noch auf »Zivilgesellschaft« machten.
Dem Buchstaben nach (GG Art. 4,3 und 12a, Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht; Art. 26, Verbot des Angriffskrieges; Art. 87a, Beschränkung des Streitkräfteeinsatzes auf den Verteidigungsfall usw.) und auch dem Geist nach besitzt das Grundgesetz eine solide antimilitaristische und pazifistische Imprägnierung. Diese höchst ehrenwerte, historisch bedingte Grundierung – deutsche Regierungen und ihre militärischen und gesellschaftlichen Eliten haben einen Weltkrieg fast allein und einen ganz allein zu verantworten – soll nun gründlich abgekratzt werden. Unbestritten, dass es nebenher zwischen 1949 und 1989 auch eine gar nicht antimilitaristische deutsche Waffenproduktion gab, die exportierte, was das Zeug hielt. Aber eine der gültigen Geschäftsgrundlagen der alten BRD war die antimilitaristisch-pazifistische Orientierung in minoritären, aber doch ziemlich weiten Kreisen der Bevölkerung.
Wie gewohnt liefert das Fernsehen die vermeintlichen Plausibilitäten für militärische Interventionen live und blutig ins Haus: Hungernde somalische Kinder und Frauen sowie schwerbewaffnete Söldnerbanden (mit westlichen und/oder östlichen Waffen) harren der »Befreiung« durch die »neue Weltordnung«. Warum es zu Zuständen wie in Somalia kam, fragt fast keiner mehr. Und auch die entscheidenden Unterschiede zwischen effizienten technischen und medizinischen Katastrophenhilfskorps und realen UNO-Eingreiftruppen auf der einen, mehr oder weniger eigenhändig, eigenmächtig und situativ-interessiert zuschlagenden »Weltordnungsmächten« auf der anderen Seite gehen im »Verantwortungs«gedöns völlig verloren.
Der politische Gedanke pendelt nicht mehr vom Herz über den Kopf zur theoretischen und politisch-moralischen Reflexion über politische Ziele und militärische Mittel sowie deren Verhältnismäßigkeit, sondern torkelt aus der Talkshow direkt zur Forderung nach Militäreinsätzen: Im Hessischen Rundfunk unterhielten sich kürzlich eine kroatische Nationalistin und ein »volksdeutscher Spätheimkehrer« ernsthaft darüber, wie man am Rande der Genfer Vance-Owen-Konferenz den einen oder anderen serbischen Delegierten und Bürgerkriegskontrahenten durch Verhaftung und kurzen Prozess ausschalten könnte, um den Kriegszielen (die man »Frieden« nennt) etwas näher zu kommen.
Interventionsscheu in ihren »Hinterhöfen« und »Einflusszonen« wird man auch den amerikanischen Administrationen, französischen Präsidenten und britischen Regierungen nicht nachsagen können. Und was ist das Ergebnis der Dutzenden von militärischen Interventionen in Mittelamerika und Afrika? Peace, freedom and democracy? Paix, liberté et démocratie? Mit »dem Glück der Völker« steht es bekanntlich schlecht in der Geschichte, aber dort, wo militärische Interventionen von innen und außen an der Tagesordnung sind, sind die Völker der Hegelschen »Schlachtbank« allemal noch näher als anderswo.
Im tagespolitischen Handgemenge scheint es nur noch um zwei Listen zu gehen: um die Länderliste »sicherer Drittstaaten«,