Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen


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(»Walte« ist ein Synonym für »Herrschaft«.)

      Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine vage Vorstellung vom Recht auf »nationale« Selbstbestimmung gegen Ende des Ersten Weltkrieges in Umlauf brachte, warnte ihn sein Außenminister Robert Lansing vergeblich davor, solches »Dynamit« als friedensstiftendes Hausmittelchen feilzubieten: »Ich fürchte, dass es tausende und abertausende Leben kosten wird.« Das Mittel löst keine Konflikte, sondern verschärft bestehende und schafft laufend neue.

      Solange man mit Begriffen hantiert wie mit Plastikjetons, kann das Spiel beliebig lange hin- und hergehen. Für die Trümmer aus dem zerfallenden Jugoslawien klagte ein großer Teil der Presse frühzeitig und ganz selbstverständlich die »nationale« Anerkennung ein, als ob Nationalitäten unterscheidbar wären wie Birnen und Äpfel. Der zentrale Terminus ist ein wahrer Kobold: das national bzw. ethnisch gefasste »Recht auf Selbstbestimmung«. Alle drei Komponenten des »nationalen« Selbstbestimmungsrechts – Nation, Selbstbestimmung und Recht – werden mindestens doppel- bzw. mehrdeutig (und damit ebenso unbrauchbar wie illusorisch), wenn das Selbst, das angeblich bestimmt, gleichzeitig national und rechtlich verfasst sein soll. Wird die Nation ethnisch bestimmt, gerät universalistisches Recht zur juristischen Fiktion innerhalb willkürlich festgelegter ethnischer Ab- und Ausgrenzungen. Das Fremde und das Andere erhalten einen minderen oder gar keinen Rechtsstatus. Hält man sich dagegen an Recht, das diesen Namen verdient, muss man alle Hoffnung auf Fremdes ausgrenzenden Nationalitätenzauber ebenso fahren lassen wie Identitätsstifterei durch rechtliche Privilegierung einer zur Nation deklarierten Gruppe.

      Gegenüber den älteren und jüngeren Begriffsakrobaten, die national definierte Selbstbestimmung für etwas Besseres als eine verkappte Menschenfresser-Parole halten, gilt es festzuhalten: Es gab niemals ein allgemein akzeptiertes und akzeptables Verfahren für die Bestimmung dessen, was eine »Nation« ist. Es gab und gibt keine konsensfähige Theorie und Praxis, wie und von wem das »Selbstbestimmungsrecht« der »Nation« legitim in Anspruch genommen bzw. durchgesetzt werden soll. Und weil für beides auf absehbare Zeit keine Lösung in Sicht ist, läuft das famose Recht auf »nationale« Selbstbestimmung schnurstracks auf die Gleichsetzung von Recht und Gewalt um der ethnischen Territorialisierung willen hinaus.