(»Walte« ist ein Synonym für »Herrschaft«.)
Die Wissenschaftler und Politiker des vorigen Jahrhunderts wussten also genau, warum sie nicht vom »nationalen Selbstbestimmungsrecht« oder vom »Selbstbestimmungsrecht der Völker« sprachen. Sie hatten eine durchaus realistische Vorstellung davon, was passieren kann, wenn man Individuen, Gruppen oder gar pauschal dem Volk ein »Selbstbestimmungsrecht« einräumt. Mit »Nationalitäten« meinte das 19. Jahrhundert im Wesentlichen existierende Staaten; diese hatten Rechte, nicht das Volk.4 Weder Konservative noch bürgerliche Republikaner oder bürgerliche Demokraten wollten das Volk bestimmen lassen. Volksherrschaft hieß schlicht »Pöbelherrschaft«, unter Gelehrten »Ochlokratie«. Den Bürgern des 19. Jahrhunderts waren die Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 sowie zahlreiche kleinere Aufstände noch zu lebendig in Erinnerung, als dass sie dem Volk irgendwelche Selbstbestimmungsrechte einräumen wollten. Im fachphilosophischen Jargon mochte der Kantische Begriff »Autonomie« bzw. »Selbstbestimmung« angehen, in der Politik hing ihm der Ludergeruch der Revolution und der »classes dangereuses« an. Außerhalb der gerade nicht national kostümierten Theorien des Anarchismus und des Sozialismus hatten Begriffe wie »Selbstbestimmung«, »Emanzipation« und »Autonomie« deshalb geringe Bedeutung und keinerlei gesichertes theoretisches oder politisches Heimatrecht (von ihrer Eignung für nationalistische Rituale träumte noch nicht einmal jemand).
Als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson seine vage Vorstellung vom Recht auf »nationale« Selbstbestimmung gegen Ende des Ersten Weltkrieges in Umlauf brachte, warnte ihn sein Außenminister Robert Lansing vergeblich davor, solches »Dynamit« als friedensstiftendes Hausmittelchen feilzubieten: »Ich fürchte, dass es tausende und abertausende Leben kosten wird.« Das Mittel löst keine Konflikte, sondern verschärft bestehende und schafft laufend neue.
Die Prognose kann an einem Beispiel überprüft werden. Eine völkerrechtliche Dissertation von 1939 und ein politischer Kommentar aus dem Jahr 1993 machen aus Serbien mit dem begrifflichen Joker »nationale« Selbstbestimmung gleich beides – einen »Nationalstaat« und einen »in der Luft hängenden« Unstaat. Die Dissertation fasst als Ergebnis zusammen: »Wie sich aus dem historischen Teil ergibt, lief der jahrhundertelange Kampf der jugoslawischen Stämme um ihre nationale Einheit in dem Dezemberakt aus. Die politische Forderung des jugoslawischen Volkes, in einem einzigen nationalen Staat vereinigt zu werden, die ähnlich wie die deutsche und italienische Forderung nach völkischer Einheit ihre Legitimation in dem Recht auf nationale Selbstbestimmung fand, wurde mit der Einverleibung Montenegros und der jugoslawischen Gebiete der früheren Donaumonarchie in Serbien, d. h. mit der Ausdehnung des serbischen Herrschaftswillens auf diese Gebiete erfüllt. Vollstrecker dieses nationalen Wunsches des jugoslawischen Volkes war Serbien. Damit war Jugoslawien, d. h. das um diese Gebiete vergrößerte Serbien de facto geschaffen. Diese historisch-politische Tatsache, die eine Veränderung des Gebietsstatus der europäischen Völkerrechtsgemeinschaft zur Folge hatte, fand ihr endgültiges de-iure-Gepräge ... in einer Reihe völkerrechtlicher Dokumente und Verträge ... Jugoslawien ist mit Serbien völkerrechtlich identisch.«6 Den Sack zu, de facto und de iure ist alles in Butter! Akademisch gab es für diesen Dissertations-Ertrag bei Carl Schmitt und Viktor Bruns 1939 einen Berliner doctor iuris utriusque für den nicht an prominenter Stelle in die Geschichte eingegangen Karl Schilling.
Eine große deutsche Zeitung hält sich einen Berufskroaten, um propagandistisch umzudrehen, was gestern noch akademische Weihen erhielt: »Das vergangene Jugoslawien hing in seiner Existenz daran, dass seine Teilrepubliken zusammenblieben. Verließen einige die (Zwangs-)Föderation, konnte es kein Jugoslawien mehr geben. Der weitaus größte Teil dessen, was übrigblieb, ist Serbien ... Was heute vom Belgrader Regime Milosevic beherrscht wird, ist nicht Rest-Jugoslawien, sondern das völkerrechtlich in der Luft hängende Serbien«7. Soweit das Programm für die nächste völkerrechtliche Dissertation, die aus der alten Gleichung Serbien = Jugoslawien problemlos den Unstaat Serbien herausdestillieren wird – im Namen des Rechts.
Solange man mit Begriffen hantiert wie mit Plastikjetons, kann das Spiel beliebig lange hin- und hergehen. Für die Trümmer aus dem zerfallenden Jugoslawien klagte ein großer Teil der Presse frühzeitig und ganz selbstverständlich die »nationale« Anerkennung ein, als ob Nationalitäten unterscheidbar wären wie Birnen und Äpfel. Der zentrale Terminus ist ein wahrer Kobold: das national bzw. ethnisch gefasste »Recht auf Selbstbestimmung«. Alle drei Komponenten des »nationalen« Selbstbestimmungsrechts – Nation, Selbstbestimmung und Recht – werden mindestens doppel- bzw. mehrdeutig (und damit ebenso unbrauchbar wie illusorisch), wenn das Selbst, das angeblich bestimmt, gleichzeitig national und rechtlich verfasst sein soll. Wird die Nation ethnisch bestimmt, gerät universalistisches Recht zur juristischen Fiktion innerhalb willkürlich festgelegter ethnischer Ab- und Ausgrenzungen. Das Fremde und das Andere erhalten einen minderen oder gar keinen Rechtsstatus. Hält man sich dagegen an Recht, das diesen Namen verdient, muss man alle Hoffnung auf Fremdes ausgrenzenden Nationalitätenzauber ebenso fahren lassen wie Identitätsstifterei durch rechtliche Privilegierung einer zur Nation deklarierten Gruppe.
Dagegen bejaht der Philosoph Rüdiger Bubner die Frage »Brauchen wir einen Begriff Nation?« und versucht in gut hegelianischer Manier, »die Notwendigkeit eines Begriffs der Nation«8 – gegen die Tatsachen und umso schlimmer für diese darzutun. Das gelingt ihm nur mit einer ebenso grotesken wie unhistorischen Gleichsetzung von Staat und Nation sowie auf Kosten eines argumentativen Tricks, den seine Branche eine petitio principii nennt. Nämlich etwas »schlichtweg zu unterstellen, um dessen Gültigkeit« es gerade geht. Bubners großkalibrige Behauptung (»der Nationalstaat ist eine bestimmte Allgemeinheit in Gestalt konstitutionell begründeter Rechtsordnung, die sich mit einem besonderen Profil einer auf Grund ihrer Geschichte unterscheidbaren Nation vermittelt«) zerschellt an den tatsächlichen Formationsprozessen von Staaten, und die vermeintliche »Rechtsordnung vermittelt« sich historisch und in der Gegenwart mit der »Nation« vornehmlich mit dem betörenden Charme einer wilden Metzelei an der »Schlachtbank«, wie die Geschichte bei Hegel einmal genannt wird. Bubners hilflosem Versuch, »das historisch greifbare Selbst« als Substrat von »Selbstbestimmung« ausgerechnet im Konstrukt Nation anzusiedeln, ergeht es wie dem »historischen Recht«: der regressus ad infinitum ist so unvermeidlich wie der salto mortale in die Operettenwelt geschichtsphilosophischer Spekulation. Solcher Begriffsturnerei pfiff Ernest Renan schon 1871 die Melodie vor: »Lothringen hat einmal zum deutschen Reich gehört, darüber besteht kein Zweifel. Fast überall, wo die hitzigen deutschen Patrioten sich auf ein altes germanisches Recht berufen, können wir ein noch älteres keltisches belegen, und vor den Kelten lebten dort, wie man sagt, die Allophylen, die Finnen, die Lappen; und vor den Lappen waren es Höhlenmenschen und vor den Höhlenmenschen die Orang-Utans. Für eine solche Geschichtsphilosophie gibt es als ein dingliches Recht in der Welt nur das Recht der Orang-Utans, die ungerechterweise von der bösen Zivilisation vertrieben worden sind.«9
Gegenüber den älteren und jüngeren Begriffsakrobaten, die national definierte Selbstbestimmung für etwas Besseres als eine verkappte Menschenfresser-Parole halten, gilt es festzuhalten: Es gab niemals ein allgemein akzeptiertes und akzeptables Verfahren für die Bestimmung dessen, was eine »Nation« ist. Es gab und gibt keine konsensfähige Theorie und Praxis, wie und von wem das »Selbstbestimmungsrecht« der »Nation« legitim in Anspruch genommen bzw. durchgesetzt werden soll. Und weil für beides auf absehbare Zeit keine Lösung in Sicht ist, läuft das famose Recht auf »nationale« Selbstbestimmung schnurstracks auf die Gleichsetzung von Recht und Gewalt um der ethnischen Territorialisierung willen hinaus.
Der grauenhafte Bürgerkrieg auf dem Balkan hat viele Facetten. Ob wenigstens die nicht direkt Beteiligten etwas lernen können? Geschichte und Gegenwart lehren von sich aus längst niemanden mehr irgendetwas. Vielmehr tönt aus ihnen nur zurück, wie und was man hineinruft. Es käme darauf an, mit kritisch