Rudolf Walther

Aufgreifen, begreifen, angreifen


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der weltlichen und kirchlichen Herren, mit der das gemeine Volk nichts zu schaffen hatte. Bei den anderen europäischen Großvölkern und Nationen verhielt es sich nicht anders.

      Ludwig XIV.: »Die Nation ist kein Staatsstand (corps d’état) in Frankreich«, und »die Nation ist vollständig in der Person des Königs verkörpert«. Keine hundert Jahre später wird Emmanuel Joseph Sieyes seinen fulminanten Traktat mit dem Satz beginnen: »Der dritte Stand ist eine vollständige Nation« (Abbé Sieyes 1789). Das war keine empirische Beschreibung, sondern ein bürgerlich-revolutionäres Programm – in seiner ganzen Widersprüchlichkeit zwischen Emanzipation und erneuter Ausgrenzung derer, die man zur Nation nicht, nicht mehr oder noch nicht zählen mochte. Die Französische Revolution schuf den modernen, der Tendenz nach demokratischen Nationsbegriff. Die Beziehung zwischen moderner Nation und moderner Demokratie ist zwar genetisch unbestreitbar, aber praktisch lose und extrem provisorisch, theoretisch irrelevant und juristisch kriminell.

      Anachronistische Rückprojektionen: »Deutschland«

      Es ist ein fast unauflösbares Volksvorurteil und ein Anachronismus, im Blick auf Frankreich von einer »alten« Nation zu reden, obwohl sich diese über fünf Jahrhunderte langsam und mit Rückschlägen entwickelte und erst in und nach der Revolution von 1789, vor allem in den Kriegen gegen das aristokratisch-monarchische Europa regelrecht geschaffen wurde. Carnot, der Kriegsminister, gilt nicht nur als »organisateur de la victoire«, sondern auch als einer der Schmiede der modernen Nation, als deren Kinderstube Schule und Kaserne fungieren (»die Schule wird zum Vorraum der Kaserne«, Hippolyte Taine 1893). Das ist nicht falsch, greift aber zu kurz, denn es dauerte noch eine ganze Weile, bis der französische Zentralstaat mit seinen Präfekten, Offizieren und Schulmeistern als nationalen Rasenmähern die überkommenen sozialen, kulturellen und sprachlichen Gewächse einheitlich zurechtgestutzt und zur Grande Nation (uni-)formiert hatte. Dazu mussten die Volkssprachen und Dialekte systematisch herabgesetzt werden, bis in der Öffentlichkeit nur noch das akademisch normierte Hauptstadtidiom Französisch aufzutreten wagte; dazu mussten vor allem die allgemeine Schulpflicht und mit ihr eine verbindliche Nationalsprache »eingeführt« werden; »eingeführt« verharmlost die Brutalität, mit der der Pariser Zentralismus regionale Sprachen und Dialekte buchstäblich ausrottete.

      Es ist schon ein schwieriges Geschäft, nachzuzeichnen, wie die französische Nation in Schule und Kaserne herangezüchtet, von national eingestellten Intellektuellen herbeigeschrieben und wie die französische Hochsprache staatlich verordnet wurde; für das Deutsche ist das noch etwas dornenreicher, weil man es nicht nur mit nationalistisch eingefärbten Anachronismen zu tun hat, sondern seit Beginn der deutschen Geschichtswissenschaft mit einer militanten Ideologieproduktion, die sich – pragmatisch entschärft – in Teilen der deutschen Mediävistik und Rechtsgeschichte bis heute durchhält.

      Der Beginn der deutschen Historiographie fällt zeitlich zusammen mit der Wahrnehmung nationaler, nationalstaatlicher Defizite in den Staaten des Deutschen Bundes gegenüber dem nachrevolutionären Frankreich. Das sollte kompensiert werden mit einer programmatisch deutschnationalen Lesart der mittelalterlichen Quellen: Die Probleme der Gegenwart bestimmten die Wahrnehmung und Aufbereitung der Vergangenheit.

      Der »deutschen Nation«, einer geschichtsphilosophischen und politischen Konstruktion par excellence, verliehen national gesinnte Historiker den Charakter eines Naturtatbestandes, indem sie »Germanen« und »Deutsche« nicht nur gleich-, sondern als »von Anfang an« vorhandenes, homogenes Großvolk voraussetzten, das im mittelalterlichen Kaiserreich eine »deutsche Einheit« angeblich verwirklicht hatte und dann fahrlässig (»Italienpolitik«) verspielte. Die richtige Voraussetzung, dass gentile Verbände, Völkerteile, Völkerschaften, »Stämme« und Völker älter sind als »Staaten«, »Reiche« und »Nationen«, verlängerte die deutsche Historiographie und Rechtsgeschichte zur Vorstellung eines immer schon existierenden »deutschen Volkes«, das eben nur Pech gehabt habe mit seinen von Italien berauschten Herrschern und herrschsüchtigen Päpsten und deshalb in punkto Staatlichkeit und Nationalität gegenüber »Frankreich« (das es damals so wenig gab wie ein »deutsches« Kaiserreich) ins Hintertreffen geraten sei.

      Germania und Gallia waren von der römischen Antike bis ins Mittelalter und die Neuzeit hinein geographische Begriffe. Der Rhein bildete die Ost-West-Grenze. Das Wort Germania in mittelalterlichen Quellen zielt immer auf diese geographischen Grenzen und nicht auf die ethnische Abstammung der Bevölkerungen oder politische Substrate. Die nach Gallien gewanderten Franken waren ebenso Germanen wie die diesseits des Rheins verbliebenen. Als »Deutsche« bezeichneten sich freilich weder die einen noch die andern.

      Anders verhält es sich mit der Sprachenbezeichnung; »deutsch« bzw. »theodiscus«, gebildet aus althochdeutsch diot (Volk), meint alle nicht-romanischen Volkssprachen. Die nationes theodiscae umfassen z. B. nicht-romanisch sprechende Franken in den heutigen Ländern Flandern, Deutschland und Frankreich, Sachsen in England, Goten und Langobarden in Italien; hier heißen Franken, die nicht-romanisch reden, deshalb teutonici oder tedeschi, und umgekehrt nennen diese die romanische Sprachen verwendende Umgebung »Welsche«. Nicht-romanisch sprechende Sachsen in England oder Franken in Flandern bzw. Italien tauchen in den Quellen als nationes theodiscae auf, können jedoch nicht »deutsche Stämme« oder gar »Deutsche« gewesen sein, da sie niemals dem politischen Gemeinwesen angehörten, das – 962 als ostfränkisches Reich gegründet – erst im 11. Jahrhundert gelegentlich als regnum Teutonicum (1073) auftaucht. Die anderen Franken, Sachsen usw. gehören selbstverständlich zu den konstituierenden Bestandteilen der anderen im Entstehen begriffenen Großvölker in »England« bzw. »Frankreich« (K. F. Werner 1992).

      Mit regnum meinen die mittelalterlichen Quellen einen sekundären Herrschaftsverband; man erklärt sich dessen Entstehung aus sesshaften gentilen Verbänden, die sich eben durch diese Sesshaftigkeit kulturelle, rechtliche und politische Strukturen schaffen und dabei die zu verschiedenen Zeiten eingewanderten wie die »eingeborenen« gentilen Verbände assimilieren. Diese Teilreiche (regna oder auch patriae) umfassten also immer Verbände unterschiedlicher Herkunft und Abstammung: Gothia, Burgundia, Francia, Saxonia, Lotharingia, Baioaria, Alemannia, Italia, Provincia sind keine homogenen Gebilde wie die anachronistischen Begriffe »Stamm« oder »Stammesherzogtum« suggerieren, sondern über lange Zeit entstandene melting pots. Die deutsche Übersetzung für regnum ist in der Regel rich oder lant regnum Baioariae, Baiernlant. Für eine Mehrzahl von regna auf dem Territorium des ostfränkischen Reiches existiert vor dem 16. Jahrhundert für »Deutschland« ganz selbstverständlich und logisch nur der Plural »deutsche Lande«. Der Alemanne, Sachse oder Baier existierte nicht von Anfang an, sondern entstand in einem geschichtlichen Prozess im Zuge der Vermischung und Verbindung von gentilen Verbänden zu Teilreichen/regna; gleichzeitig als Baier und Deutscher oder Sachse und Deutscher konnte man erst ab dem 11. Jahrhundert bezeichnet werden – gut 500 Jahre nachdem Alemannen, Baiern, Sachsen, Franken usw. belegt sind. Wie unwichtig das »Deutschsein« neben der faktischen Zugehörigkeit zu einem regionalen Teilreich und seiner Herrschaft (regnum, patria) blieb, beweist die Tatsache, dass der politische Begriff »deutsches Volk« erst nach der Französischen Revolution und in Anlehnung an die revolutionäre Terminologie vom souveränen »peuple français« nachzuweisen ist (K. F. Werner 1992).

      Das »Deutsche Kaiserreich«, angeblich 962 von Otto dem Großen gegründet, gehört zu den Fiktionen der nationalstaatlich imprägnierten Historiographie des 19. Jahrhunderts, die bis heute in schlechten Schulbüchern und im common sense fortleben. Ottos Imperium Romanum (erst seit 1157 mit dem Zusatz Sacrum und erst seit 1442 mit der Präzisierung »nationis germanicae«, also: »Heiliges Römisches Reich germanischer (!) Nation« und erst seit dem Kölner Reichsabschied von 26.8.1512 und bis zum Untergang des Reiches (12.7.1806) hieß es offiziell und adjektivisch »Heiliges römisches Reich deutscher (!) Nation«, war nicht eines der »Deutschen«, womöglich gar der »deutschen Nation« im modernen Sinne, sondern jenes der Franci et Saxones (Franken und Sachsen). Diese beanspruchten die Erbschaft des »Sacrum Imperium Romanum« für sich. Franci et Saxones musste man allerdings geographisch näher bezeichnen, um sie z. B. von den französischen bzw. englischen Sachsen und Franken abzugrenzen – deshalb der spätere Hinweis auf die rechtsrheinisch gelegene Germania im Zusatz »nationis germanicae«, nicht etwa »teutonicae« oder »theodiscae«. Näherhin meinte Otto der Große mit den Franci et Saxones, in deren Namen er