Ricardas Gavelis

Friedenstaube


Скачать книгу

Hitzetage war er plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Ich meinte schon, ein paar Wochen Ruhe zu haben, aber von wegen. An seiner Stelle hat er mir diese Horrortaube beschert. Nie hätte ich gedacht, dass ein solches Geschöpf einen so hartnäckig verfolgen könnte. Keinen Schritt konnte ich allein tun, immer zuckelte das Mistvieh hinter mir her. Zuweilen startete es unbeholfene Flugversuche, um dann zu Boden zu stürzen, das war grotesk, aber komisch war es nicht. Hatte ich im Hof zu tun, schien es zunächst verschwunden, aber dann spürte ich, wie es mich aus irgendeinem Versteck heraus beobachtete. Das war entsetzlich, das raubte einem sämtliche Kraft. Meine Hände fühlten sich taub an, im Hirn schien ein Eisklumpen zu schmelzen. Bis in die Nacht hinein hielt mich die Bestie in Atem. Dann lag ich wach, wusste, sie hockt draußen auf dem Fensterbrett. Und wird mir im Schlaf den Garaus machen.

      Längst war ich es, der sich versteckte. Auf leisen Sohlen schlich ich herum, nervös und gehetzt, in meinen eigenen vier Wänden. Ich sah in den Spiegel: Das Gesicht war bleich, die Wangen eingefallen, die Augen glänzten fiebrig. Man musste sich wehren, es gab sonst keine Rettung. Andere um Hilfe zu bitten, war sinnlos. In Vilnius kennt keiner seinen Nachbarn, weiß nicht mal seinen Namen. Mit wem sich auch anfreunden, wenn in der ganzen Gegend nur noch dreieinhalb Litauer übrig geblieben sind? Alles musste man allein tun, sich selbst Mut machen, sich selbst trösten. Und da fiel mir ein grünliches Pulver ein.

      Ein sehr nützliches Pulver: Es tötete alles, was man wollte. Einen Wurm, eine Ratte oder einen Hund. Zwei Mal hab ich davon geträumt, Rugaitis eine Torte zu überreichen, die über und über mit diesem grünen Pulver bestreut war. Sogleich bereitete ich der Taube eine leckere Mahlzeit und gab so viel von dem Zeug dazu, dass es für ein Pferd hätte reichen müssen. Obwohl ich, nach allen Erfahrungen, partout nicht glauben wollte, dass es klappen könnte. Doch gierig machte sie sich darüber her. Mich überkam eine große Ruhe. Ich goss mir selbst einen ein und wartete darauf, dass sie krepierte. Oho, schon kippte sie etwas zur Seite, ich griff bereits nach einem Eimer. Doch als ich mich bückte, hätte sie mich beinahe wieder angefallen. Noch heftiger als zuvor. Sie schien regelrecht aufgedunsen und zischte wie eine Natter. Dachte gar nicht daran, zu krepieren. Nur das rechte Bein zog sie noch mehr nach. Es war alles umsonst. Es gab kein Entrinnen.

      Wäre nicht dieser hinkende und schlurfende Gang gewesen, mir wäre vielleicht nie etwas aufgefallen. Erst allmählich begriff ich, dass ich Rugaitis lange nicht mehr gesehen hatte.

      Er hatte sich mir in den Weg gestellt damals, an jenem Sommertag, und ist seitdem nicht mehr von meiner Seite gewichen. Es war ebenso teuflisch heiß gewesen, deshalb auch geriet ich in einen Hinterhalt. Fünf Jahre lang war es ihnen nicht gelungen, mich zu erwischen, bis dieser Gnom auftauchte. Hündisch hatte er auf der Lauer gelegen. Ich hatte mich eben mal seitwärts in die Büsche geschlagen, um zu pissen, da stand er plötzlich vor mir. »Ergib dich, du hirnloser Bandit!«, das waren seine Worte. Und dabei glotzte er mir auch noch zwischen die Beine. Jahrelang hab ich im Bunker gehockt, ihnen immer wieder ein Schnippchen geschlagen, nur um mich am Ende diesem Zwergpinscher ergeben zu müssen. Ich stand noch immer, die Hände erhoben, und der starrte immer an die gleiche Stelle, mir wurde schon kalt untenherum. Das war’s, Povilas, sagte ich mir. Sag deinem Ding da unten auf Wiedersehen, denn alle deine Kinderlein werden gleich in den Himmel fahren, bevor sie auch nur angefangen wurden. Es ist alles aus.

      An diese fatale Szene erinnerte ich mich später immer wieder, im Lager und danach. Das war mein Grunderlebnis: Vor mir dieser mickrige Kerl, den man mit links hätte erledigen können. Und du stehst da, beim Pissen festgenommen, und kannst nichts tun.

      Dieses Gefühl des Unvermögens, des Nichtstunkönnens zog sich fortan durch mein Leben. Damit stand ich auf, damit ging ich zu Bett. Zuerst einmal hatte ich keine Freiheit, überhaupt keine, nicht die geringste. Gras durfte ich fressen, halb verfaulte Beeren von den Sträuchern klauben. Und jeden Tag Rugaitis. Später konnte ich nicht arbeiten, wo ich wollte. Anfangs dachte ich, dass er sich nur in meiner Einbildung mit mir befasse. Doch es zeigte sich, dass er tatsächlich jeden meiner Schritte verfolgte, dieser verfluchte Stribas[1]. Selbst von denen ist keiner mehr geblieben, er ist der einzige in ganz Litauen. Mich auf der Stelle kaltzumachen, hat er damals nicht gewagt. So hat er wohl beschlossen, mir ganz allmählich die Luft abzudrehen. Wohin es mich seither auch verschlug, überall spürte ich seine Hand. Dazu ein lautlos geflüstertes »hirnloser Bandit«. Es gab Zeiten, in denen ich mich wieder unter Menschen wagte, zu vergessen suchte, dieses und jenes zustande brachte. Und dann tauchte er auf jeden Fall auf.

      Es gibt da so eine Meinung, stammelte einer, dass diese Tätigkeit für Sie ungeeignet ist. Was für eine Meinung, fragte ich, welchen Namen hat diese Meinung? Aber man hätte gar nicht zu fragen brauchen, alles war klar. Von einem Rayon zog ich in den nächsten und er hinter mir her. Und je höher er kletterte auf der Karriereleiter, desto mehr suchte er mich nach unten zu drücken. Hatte ich erfahren, dass man ihm einen noch einflussreicheren Posten anvertraute, wusste ich: Er wird mich noch tiefer in den Dreck stoßen. Rugaitis hat meine Existenz ruiniert. Meine Frau ist früh gestorben, er ist schuld. Der Sohn kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben, ohne Rugaitis wäre das nicht passiert. Ich weiß nicht, wie er es schaffte, die Straße zu präparieren oder die Bremsen zu lockern, aber das ist seine Handschrift. Tropfen um Tropfen wollte er mich wie einen Stein aushöhlen. Bis ich ihm vor die Füße stürze und um Gnade winsele.

      Mindestens tausend Mal hab ich ihn getötet. Beinahe jede Nacht. Tagsüber tat er das Seine, nachts zahlte ich es ihm heim. Oft war es schwer, den Abend abzuwarten, so viele Schuftigkeiten hatte ich wieder ertragen müssen. Dabei war es mein größter Wunsch, mal etwas Schönes zu träumen, eine blühende Wiese oder die Küste eines Meeres. Aber kaum war ich eingeschlafen, ging es schon wieder los. Und zuweilen erschien das seltsam lebensecht. War ich erwacht, blieb unklar, ob ich mich an einen Traum erinnerte oder an eine tatsächliche Begebenheit. Dabei wollte ich diesen Horror gar nicht träumen, wirklich nicht. Aber am Morgen danach fühlte ich mich besser. Ich wusste, ich würde den Kerl auch weiter auf dem Hals haben, aber die größte Wut war verflogen. Man hatte mir noch nicht alles genommen, wenigstens Träume waren mir geblieben. Am besten fühlte ich mich, wenn nicht ich persönlich ihm den Garaus machte, sondern das Schicksal selbst oder die Natur. Einmal war ich eine Biene, die wusste, dass ihr Stachel nur für einen tödlich sein konnte, andere würden den Stich gar nicht spüren. Ich musste mich vorsehen, nicht den Falschen zu erwischen und mein Gift zu vergeuden. Ich summte und brummte die ganze Nacht, dann hatte ich Rugaitis ausgemacht und ihn gestochen – er trank gerade in seiner Villa tschechisches Bier. Ein anderes Mal verkörperte ich ein von Perkunas[2] geweihtes Schwert, mit dem ein litauischer Recke Rugaitis die Brust durchbohrte. Er hatte unsere Burg an die Kreuzritter verraten. Selbst ein Stein bin ich gewesen, der ihm zentimetergenau auf den Kopf fiel. Ich stürzte aus großer Höhe und freute mich, wie sein Schädel immer näher kam. Solche Träume waren das. Ich war wirklich ein Stein, aber ich sah alles und konnte selbst mein Ziel bestimmen.

      So kam es, dass Rugaitis und ich ewig miteinander im Clinch lagen. Er quälte mich tagsüber, ich rächte mich in den darauf folgenden Nächten.

      Ein Tag verging wie der andere, die Hitze hatte sich gelegt, die Menschen atmeten leichter. Und ich verstand plötzlich das Geheimnis der hinkenden Taube. Es gab nur eine Erklärung: Rugaitis war gestorben, war endlich in die Grube gefahren. Aber mich gedachte er noch lange nicht freizugeben. Nicht umsonst heißt es, Tauben seien die Sendboten der Toten. Nun begriff ich, welchen Namen die hier hatte. Und Rugaitis’ Gang erkannte ich, der zog ebenfalls das rechte Bein nach. Er hatte damit gerechnet, mich zu seinen Lebzeiten kleinzukriegen. An die neuen Verhältnisse hatte er sich angepasst, ein Herrchen war er geworden, mit immer mehr Macht und immer größeren Befugnissen. Aber er vergaß eine einfache Tatsache: dass nämlich erst der Tod die endgültige Rechnung aufmacht. Der große Stribas war hinüber und ich als Sieger auf dem Kampfplatz geblieben, sogar noch recht gut bei Kräften. O, wie musste ihn das wurmen! Dass er es nicht geschafft hatte, was für ein Abteilungsleiter oder gar Halbminister er auch gewesen war. Daher fasste er den Entschluss, mich auch noch aus dem Grab heraus zu verfolgen. So etwas kann nur Kazimieras Rugaitis einfallen, ich kenne ihn wie keinen anderen. Aber er hat sich abermals verrechnet. Mich überkam beinahe so etwas wie ein Glücksgefühl. Jetzt war die Gelegenheit, ihn für immer loszuwerden. Man musste nur noch diesen gefiederten Satan vernichten. Ein Leben lang, so schien mir jetzt, hatte ich insgeheim auf diesen