Barbara Sichtermann

Fremde in der Nacht


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die Polizei eingeschaltet?«

      »Besser nicht, denk ick.«

      »Wieso nicht?«

      »Fällt auf mich zurück, wa?«

      »Na aber, Frau Maaßen. Sie könn’ Ihren Neffen doch nicht anbinden. Und die Erziehung - für die sind Sie ja nun gar nicht verantwortlich.«

      »Nee, das fällt auf mich zurück. Wennse wüssten...«

      Da gibt’s also ein Geheimnis. Karli ist scheint’s kriminell oder lebt sonstwie gefährlich. Die Maaßen mag gar nichts erzählen. Doch wozu ist man Vertrauensperson? Abwarten ist alles. Wir trinken Kaffee.

      »Und das mit der Versicherung«, sagt die Frau am Rand der Tränen, »das ist ja nun wohl hinfällig, wa?«

      »Aber nicht doch, ganz im Gegenteil. Gerade so’n Problemkind wie Ihr Karli braucht den Schutz, das isses doch, ‚n strebsamer Jugendlicher erarbeitet sich zur Not seine Ausbildung selbst, ’n gefährdeter Jugendlicher, der ist drauf angewiesen, dass vorgesorgt wird, nicht wahr? Da ist dann die Versicherungssumme sozusagen der Haltegriff, der ihn vorm Absturz rettet.«

      Mir scheint, Frau Maaßen empfindet die Wörter »Haltegriff« und »Schutz« als Trost, sieht ihren Karl schon auf der Straße des Erfolges und ist nun doch bereit, sich mir anzuvertrauen. Ich hole angelegentlich das Notebook raus. Sie redet. Ogottogott, dieses Kind. Aber sie könne nun nicht so schnell gutmachen, was ihre Schwägerin über Jahre hinweg versaubeutelt habe. Das Schlimmste mit Karli sei, dass er sich nicht ausspreche. Man wisse ja nicht, was in ihm vorgehe. Sie sei auf Vermutungen angewiesen.

      Und sie erzählt von einer Kinderbande, die ihr Hauptquartier hier im alten Bahnhof gehabt hat, im Mäuseturm. Da ist der Karli immer mitgezogen, da hatte er seine zweite Heimat, seine besten Freunde, auch ein Mädchen ist dabei gewesen, an der er sehr gehangen hat. »Heute fangense ja so früh an, Sie glaubens nicht.« Ich muss an die kleine Gang von vorhin denken und frage mich, ob Karli dabei war.

      »Wie sieht er aus, Ihr Neffe? Haben Sie ein Foto?«

      Sie steht auf, geht zum Regal und sucht in einem Album. Seit die Bauarbeiten im Bahnhof begonnen haben, sind die Kinder, erfahre ich, zum Alex umgezogen, Karli wohl mit ihnen. Sie kämen nur noch manchmal hier vorbei, vor allem abends, wenn die Bauarbeiter weg sind. Karli ist öfter schon über Nacht ausgeblieben - aber zwei Nächte, das ist neu. »Was treiben diese Kinder denn?«

      »Na, klauen, Automaten knacken, solche Sachen ebent.«

      »Und... äh ... Drogen?«

      »Oh - der Karli nich. Nee, das hätt ich gemerkt.«

      Sie reicht mir ein Foto rüber. Netter kleiner Lausejunge, blond, schmal, helle Augen. War er dabei auf der Brücke? Ich kann’s nicht sagen. Hab eigentlich nur die Medusa gesehen - und den Schwarzen.

      »Verstehense, dass ich... mit der Polizei... lieber gar nich erst anfangen will? Verstehense?«

      Klar verstehe ich. Will gerade - und strecke die Hand aus - ihren Arm ein wenig tätscheln, blicke hoch, und da steht Frau Maaßen mit zuckendem Gesicht und weint. Ihre Ohren flammen.

      »Was soll ich denn bloß machen? Herr Schäfer!«

      Sie fällt in den Stuhl. Legt die Stirn in beide Hände, und mir kommt das Notebook auf dem Tisch jetzt reichlich albern vor. Ich klopfe der Tante sanft auf die Schulter. Sie fasst sich. Von ihrer Oberlippe wischt sie eine Träne.

      Da sage ich:

      »Vielleicht kann ich ... helfen ...?« und wünsche sofort, ich hätte es nicht gesagt. Ja, bin ich denn völlig verrückt? In Frau Maaßens Gesicht kommt starke Bewegung. Ein Lächeln arbeitet sich durch ihre Sorgenfalten, und ihre Augen leuchten gegen den Tränenflor an. Sie stammelt:

      »Das würden Sie tun?«

      Ich räuspere mich. Sie fragt:

      »Hamse auch Kinder?«

      Ich verneine.

      Aber Respektsperson kann ich trotzdem sein. So lasse ich wissen:

      »Dem Karli gehört doch nur mal die Meinung gegeigt, wie? Der iss doch im Grunde ‚n guter Junge, he? Wenn man dem das mal ganz klar sagt, dass seine Zukunft aufm Spiel steht...«

      Soweit denkt Frau Maaßen gar nicht. Ihr reicht es, wenn der Lümmel aufgefunden und nach Hause geschleift wird, ein bisschen Körperkraft würde das ja erfordern. Und sie ist mit ihrer Arthritis dazu nicht mehr so fähig. Wenn ich den Zugriff übernähme und das Schleifen... Ohrfeigen täten nicht nötig. Sie würde sich dann morgen mit ihrem Bruder in Verbindung setzen.

      Aber ich bin nicht in der Stimmung, jetzt mit der Tante auf Streife zu gehen. Schütze eine weitere Verpflichtung vor, hier in der Gegend, und verspreche, die Augen offenzuhalten, auch im Mäuseturm nachzusehen. Frau Maaßen nickt mit dem Kopf. Ihr wird klar, dass sie mein Hilfsangebot ein bisschen zu großzügig ausgelegt hat. Ich packe das Notebook ein.

      Sie putzt sich die Nase, bringt mich zur Tür und gibt mir zum Abschied die Hand. Ich springe die Treppen runter, als könnte ich die Medusa und ihren Tross noch einholen.

      Draußen geht jetzt ein kräftigerer Wind, aber es ist immer noch heiß. Über die Warschauer Brücke strömen die Friedrichshainer Werktätigen heimwärts. Sie haben alle diese Ost-Verschlossenheit in ihren Mienen - eine Mischung aus Ärger und Gier. Tja, Leute, jetzt kommt der Weststandard, und eine günstige Hausratversicherung sollte drin sein - bevor Karli und seine minderjährige Chefin bei euch einbrechen und den gerade erworbenen Videorecorder abräumen. Ich schwenke rüber zur S-Bahn - nicht ohne vorher kurz hinter die Plastikplanen der Bahnhofsbaustelle gespäht zu haben. Nichts. Um Frau Maaßens willen sollte ich tatsächlich am Alex ein bisschen herumgucken. Zwar überlege ich, ob es nicht besser sei, diese Kundin zu vergessen, aber die Tante ist ja schließlich auch ein Mensch, und als solcher tut sie mir einfach leid.

      Am Alex steige ich immer gerne in die U-Bahn um: wegen Grenander.

      So heißt der Architekt des Bahnhofs. Halb Berlin hat er untertunnelt, vor allem in den zwanziger Jahren, und mein Schicksalsbahnhof Wittenbergplatz stammt auch von ihm. Ist Heidelberger Platz die schönste, so Alex die großartigste aller Berliner Stationen. Einst lief die Mauer durch das Gewölbe, als Westler konnte man mit der Gesundbrunnen-Neuköllner Linie auch den Alex unterfahren, aber die Züge hielten nicht an, und vom Herumspazieren in den Riesenkellern war nur zu träumen. Und obwohl das jetzt alles schon vier Jahre anders ist, weitet es mir jedesmal wieder das Herz, wenn ich zur Hönower Linie herabsteige.

      Vom unteren Bahnsteig her riecht es verführerisch nach Ackerkrume und Schmieröl - ich bin in meinem Element. Ich brauche gar keinen Geheimauftrag von Frau Maaßen, ich habe ganz von selber Lust, hier rumzulaufen. Sei mir gegrüßt, Grenander. Du hattest nicht viel Platz für das Zwischengeschoss, wie? Und konntest auch nicht wissen, dass die Menschen gegen Ende des Jahrhunderts gern mal zwei Meter hoch werden. Jetzt müssen sie ihre Köpfe einziehen, bevor die Tiefe sie aufnimmt. Dort aber werden sie reichlich belohnt. Der Hönower Bahnsteig ist ein grüner Dom, hoch, weit und unwirklich wie die Kultstätte eines verschollenen Stammes Innerirdischer, die nur künstliches Licht kennen. Der einzige Luxus ist Höhe. Der einzige Schmuck sind die Nieten an den vierkantigen Trägern - wenn man von der Wandkeramik absieht. Die erscheint zunächst schlicht grün. Guckt man aber genauer hin, erkennt man, dass der Schimmer changiert. Es sind nur geringe Farbnuancen, worin sie sich unterscheiden, aber die genügen, damit die Wände leben. Später ausgebesserte Stellen erkennt man sofort: an der dicken farbigen Gleichförmigkeit, von der ein deprimierender Schwimmbad-Effekt ausgeht. Auch sonst ist die Entwicklung unterm Pflaster seit Grenander rückläufig. Einst wurden für Fahrkartenschalter Architektenwettbewerbe ausgeschrieben! Heute gibt es nur noch Automaten, ohne jeden Reiz.

      Nach dem Mauerfall warf ich mich auf die Ostbahnhöfe. Ich machte den Versuch, Almut an meiner Passion teilnehmen zu lassen, und fuhr mit ihr durch Grenanders Welt. Es klappte anfangs prima; sie hörte sich geduldig meine Ausführungen