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Urbanität und Öffentlichkeit


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eine der grössten Herausforderungen der heutigen Zeit ist. Eigentlich ist es uns Menschen ja nicht von Natur aus gegeben, uns selbst zuschauen zu können. Das ist erst durch das Filmen möglich geworden und kann jemanden, der sich zum ersten Mal zuschauen kann, wenn er oder sie sich unbeobachtet fühlt, sehr verunsichern. Sich sehen, wie man ist, kann ein erster Schritt sein zum sich-Erkennen. Es wird dann wichtig, sich mit gnädigen Augen anzuschauen und sich so zu akzeptieren, wie man eben ist. Mit gnädigen Augen, oder mit den Augen eines gnädigen Gottes, eines Gottes, der die Wahrheit kennt und Barmherzigkeit übt. Diesen Gott gilt es aber erst einmal zu finden. Oder mindestens eine Ahnung von ihm/ihr zu bekommen. Diese Ahnung allein kann Kraft und Mut, verleihen, sich selber zu erkennen. Jedenfalls ermöglicht Gotteserkenntnis Selbsterkenntnis und nicht umgekehrt.

      Wie und wo aber finden wir Gotteserkenntnis? Wäre das nicht der usp, das Alleinstellungsmerkmal der Kirche? Finden wir sie, wie neu postuliert wird, eher in der urbanen Kirche, wo man unbeobachtet suchen kann, wo erste Schritte möglich sind, wo man Fehler machen darf, ohne gleich an den Pranger gestellt zu werden?

      Stadt und Identität

      Jede Stadt hat selbst eine eigene Identität. Da sind zuerst einmal die Gebäude, die Strassen und Gassen, die Plätze, die ihr ein Gesicht geben. Dann das, was man darin findet: Geschäfte und Restaurants. In jeder Stadt isst man anders, jede hat ihre Bars, Kinos, ihr Nachtleben, ihre Sportstadien, Ausstellungen, Museen und nicht zuletzt ihre Kirchen. Zur Urbanität gehört, dass man seine Orte auswählen kann und die Zeitpunkte, da man sie aufsucht und damit an der Identität der Stadt teilhat.

      Die Stadt ist ein riesengrosser Treffpunkt. In der Stadt treffen sich Menschen immer noch oder heute gerade erst recht wieder real. Die elektronischen Medien lösen nämlich die reale Welt nicht einfach ab. Das Bedürfnis nach lebendigen anderen besteht nach wie vor, aber vielleicht anders. Die elektronischen Medien bieten den Einstieg dafür.

      Man schaut die Stadt zuerst im Internet an. Das ersetzt aber das Hingehen eben nicht.

      Man sucht sich einen Partner mit »Parship«, treffen muss man sich dann aber real. |44|

      Man trifft sich zum Besäufnis real. Wo es stattfindet, erfährt man aber auf Facebook, oder über SMS. Man schaut das Fussballspiel nicht allein an, zu Hause vor dem Bildschirm, sondern im Public Viewing.

      Wer keinen Facebook-Account besitzt, hat zu vielen Gruppen keinen Zugang. Das gilt vor allem für Jugendliche, die ein grosses Bedürfnis haben, real dazuzugehören. Auch unerwartete Erstkontakte laufen heute über das Internet. Das österreichische Zisterzienserkloster Heiligenkreuz vermeldete als eines der wenigen einen Boom von Anmeldungen. Ausnahmslos alle Kandidaten hatten den Erstkontakt über die Homepage des Klosters gefunden.

      Die realen Orte und das reale Sich-Treffen sind nicht zu ersetzen. Aber man findet sie und sich anders.

      Eine Vielfalt realer Orte gehören zur Urbanität. Aber die Wahl trifft man oft im Internet. Die irreale und die reale Urbanität ergänzen sich. Die realen Orte werden daher in Zukunft nicht aufgegeben, wie man glaubte, im Gegenteil, sie werden wichtiger. Es braucht sie, da die virtuelle Kommunikation nach realem Sich-Treffen ruft. Nach sinnlichem Wahrnehmen, Sehen, Hören, Anfassen. Auch Orte wollen sinnlich wahrgenommen werden. Die anfassbaren Kirchen aus Stein und Holz, die erfahrbaren Räume mit ihren Klängen und Gerüchen, mit ihrer Atmosphäre sind Orte der Identität. Aber sie werden oft über die elektronische Urbanität gefunden. Dass dann eine Kirche auf ihrer Homepage nur gerade touristisch dargestellt wird, müsste Kirchenvertretern nicht genügen. Hier muss kommuniziert werden, dass es um mehr geht.

      Die Verantwortlichen im Kloster Heiligenkreuz berichten, dass manche der neu Eingetretenen erzählt hätten, wie sie mehrmals die Website des Klosters besucht hatten, bis sie den Mut fanden, real hinzugehen.

      In nächster Zeit wird darüber diskutiert werden, was mit den nicht mehr benötigten Kirchen in den Städten geschehen soll. Geben wir acht, dass wir sie nicht leichtsinnig preisgeben, sie sind Schätze, deren Wert wir noch nicht bis in alle Konsequenzen hinein wahrgenommen haben. Orte können Identität haben und Identität vermitteln.

      Wo es um Identität geht, wo es um Selbsterkenntnis geht, um die tiefsten Seins-Sehnsüchte der Menschen, hat die Kirche vom Evangelium her eine Aufgabe und darf nicht durch Abwesenheit glänzen. Sie muss wissen, was im Gange ist. Das heisst nun eben nicht, dass sie selber einsteigen soll in alle Trends. Gerade durch meine Arbeit als Fernsehredaktorin bin ich allen Events gegenüber skeptisch geworden, allem was Showcharakter hat, allem was anbiedernd wirkt, bei dem die Kirche mithalten will, auch dabei sein will. Man merkt dann, dass es ihr um sich selbst geht und ist verstimmt.

      Es soll ihr um die Menschen gehen und um das Evangelium oder umgekehrt, um das Evangelium und um die Menschen. Um deren Wohl. Wenn die Kirche |45| den Menschen bei ihrer Selbstfindung helfen will, wenn sie ihnen Selbsterkenntnis ermöglichen will, muss sie ihnen einen Weg zur Gotteserkenntnis anbieten.

      Städte waren immer wichtig für das Christentum. Paulus predigte in den Städten. Er ging von Stadt zu Stadt. Die Reformation breitete sich über die Städte aus. Hier hatten die Menschen die Möglichkeit, zu neuer Identität zu finden.

      In diesen Sommerferien hatte ich Gelegenheit, einige grosse Städte in China zu besuchen und einen Einblick zu bekommen, wie dort Christentum neu erwachen kann. Ich konnte zum Beispiel in Nanjing einen evangelischen Gottesdienst besuchen. In einer Kirche, die bei 37 Grad nur durch Ventilatoren etwas gekühlt wurde, sassen 1000 Menschen, eng nebeneinander, wissbegierig und konzentriert bis zum Schluss. Die Predigt allein dauerte 70 Minuten. Da in jener Kirche regelmässig nicht alle Platz finden, hat man im Nebenhaus Räume zu Kapellen umgebaut, mit klapprigen Stühlen und uralten Bänken und überträgt die Predigt per Video dorthin. In diesem Nebenhaus nahmen weitere 500 Personen am Gottesdienst teil, dies jede Woche dreimal am Samstag, dreimal Sonntag und an zwei Abenden während der Woche.

      Man mag nun rätseln über die Gründe dieses plötzlichen Aufbruchs. Was ich erlebt habe war eine Stimmung der Erwartung und der Freude. Die Menschen in China haben in den letzten 100 Jahren mehrmals ihre Identität verloren wie kein anderes Volk und sie suchen eine neue. Wenn wir über urbane Religiosität reden, sehe ich dort heute einen Brennpunkt. Etwas Neues könnte entstehen. Urbanität kann helfen, dass Menschen sich freier fühlen, Neues lernen und erfahren können.

      Menschen wollen wissen wer sie sind. Orte können Identität geben. Kirchen könnten auch bei uns neu solche Orte werden. |46|

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      Kybernetische Voraussetzungen und Konsequenzen für die Kirche von heute und morgen. Gedanken zum Begriff der Urbanität

      Hans Strub

      1. Urbanität

      Es lässt sich wohl endlos diskutieren, ob Zürich z. B. eine grosse Kleinstadt oder eine kleine Grossstadt ist, ob die Schweiz mehrere Metropolitanräume hat oder ein einziger solcher Raum ist. Klar ist, dass sich die «Alpenrepublik Schweiz» innerhalb weniger Jahrzehnte radikal verändert hat. Auch wenn sich aufgrund der seit langem föderalistischen Staatsform – im Unterschied zu den Nachbarländern – keine wirklichen Machtzentren herausgebildet haben, so stellen wir heute fest, dass das Land immer dichter besiedelt ist, dass die ursprünglich kleinen Städte sich immer mehr ausdehnen und sich so ihr Einzugsgebiet rasch vergrössert, dass die Entwicklung der öffentlichen Transportsysteme neue und urbane Netzstrukturen massiv befördert, dass die Schweizerinnen und Schweizer zu einem Volk von Pendlern geworden sind, dass die wirtschaftlichen Konzentrationsräume bestimmen, wo man arbeitet und wohnt, und dass das, was früher als «Land» bezeichnet wurde, immer stärker integriert wird in zusammenhängende städtische Gebilde. Deutlich wird das z. B. entlang den S-Bahn-Linien; hier siedelten sich in den letzten 20 Jahren viele neue Industrie- und Dienstleistungsbetriebe an, was zu einer bemerkenswerten Erweiterung der Überbauungszonen geführt hat.42

      Prägender noch als die geografisch-soziologische Situation dürfte die mediale Entwicklung sein. Da zeigt sich ganz deutlich, dass die tonangebenden Medien urbane sind,