Peter Ames Carlin

Paul McCartney - Die Biografie


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es bei „Yesterday“, diesem Geschenk des eigenen Unterbewusstseins, dessen Melancholie von jenem tief empfundenen Verlust der Mutter gespeist wurde, der ihn als Teenager traf und dazu brachte, sich an seine Gitarre zu klammern und sie nie wieder loszulassen. „Let It Be“ erzählt eine andere Version derselben Geschichte. Mother Mary erscheint hier höchstpersönlich. Dann noch einmal eine Verbeugung vor John Lennon, die viel komplexer gelagert ist – angesichts all dessen, was geschah und was nicht geschah, angesichts der Stelle, an der er heute steht und singt, und angesichts der Tatsache, dass Yoko Ono im Publikum sitzt, wie er weiß, und jede seiner Bewegungen genau beobachtet.

      I read the news today, oh boy …

      Das hat er noch nie versucht, eine Liveversion von „A Day In The Life“, dem vielleicht kompliziertesten Song, den die Beatles je aufgenommen haben. In vielerlei Hinsicht ist es der Höhepunkt und das Herzstück seiner Zusammenarbeit mit John Lennon, die übergangslose Verquickung der existenziellen Düsternis des einen mit der surrealen Spaßeslust des anderen. Die Kameras haben Yoko in der Menge ausgemacht; ein schwarzer Zylinderhut thront elegant auf ihrem rabenschwarzen Haar, und sie lächelt und nickt, als die Livemusik auf der Bühne ausgeblendet wird und eine Aufnahme des berühmten Orchesterlärms ertönt, das über die überforderten Lautsprechertürme im Stadion zu einem nicht ganz überzeugenden Crescendo anschwillt. Eine kleine Drehung, und die Band setzt wieder ein, mit dem hymnischen Refrain von „Give Peace A Chance“. All we are saying … Nun strahlt Yoko und klatscht mit, und Paul macht auffordernde Handbewegungen, damit die Menge noch lauter mitsingt. Die Liverpooler sind nun außer sich vor Begeisterung, sie brüllen und winken zu Ehren eines gefallenen Helden, eines Heiligen, eines Märtyrers, der für die gute Sache eintrat. Und genau das wollte Paul auch, selbst wenn ihn diese Verehrung gleichzeitig ein wenig ärgerte.

      Jetzt rasch die Tränen trocknen und die Nase geputzt, denn wir blenden zurück in die Kellerlokale seiner Jugend. Wieder zurück zu den verschwitzten Jungs, voller Leben und Begeisterung und noch so völlig ahnungslos, was die Zukunft bringen wird.

      A-one, two, three, four!

      Das Konzert geht zu Ende, und so kehren wir zum Anfang zurück, zu den vier Arbeiterkindern, die nichts hatten außer ein paar Akkorden, billigen Instrumenten und dem unbändigen Wunsch, keinen richtigen Job ergreifen zu müssen. How could I dance with another? Paul hat eine neue Band, die letzte Auflage der vielen, die er im Laufe der Jahre um sich geschart hat, und die riesige Videoleinwand hinter der Bühne zeigt wieder die Beatles, wie sie auf dem Höhepunkt ihrer Beliebtheit durch die Gegend rannten und sprangen und tanzten, sich wild hin- und herdrehten und einander in die Arme fielen. Sie waren so jung, so stark auf einander fixiert und völlig von dem wundervollen Lärm erfüllt, der mühelos aus ihnen hinausströmte. Paul brüllt, so laut er kann, das Stadion rockt, und die Wände wackeln buchstäblich durch den pulsierenden Rhythmus. Aber alle starren den alten Film an, und auch Paul kann sich einen kleinen Blick über die Schulter nicht verkneifen. Wie er damals aussah, wie sie damals klangen – das war way beyond compare: unvergleichlich.

      Viele Jahre zuvor waren die McCartneys zu viert gewesen. Jim und Mary und ihre beiden ungebärdigen Jungen, Paul und Michael. Jim und Mary waren älter, als man hätte erwarten können. Jim war schon über vierzig, als Paul zur Welt kam, und Mary war in den Dreißigern, als Michael zwei Jahre später die Familie komplett machte. Vielleicht war das der Grund dafür, dass sie ihr Familienleben so zu schätzen wussten – trotz der dunklen Wolken, die beide Eltern bereits am Horizont aufziehen sahen. Davon abgesehen hatte sich der McCartney-Clan stets durch einen starken Familienverbund ausgezeichnet, und wenn es an einem Winternachmittag dunkel und kalt wurde, dann setzte sich die Familie im Wohnzimmer zusammen, Jim zog die Klavierbank nach vorn, setzte sich und ließ die Finger über die glatten, weich polierten Tasten gleiten.

      Er war kein überragender Pianist; als junger Mann hatte er viel lieber die Trompete gespielt. Aber Jim hatte ein gutes Ohr und flinke Finger, die den Rhythmus und die Melodie der damals beliebten Lieder schnell erfassten und dann mit so viel Schwung zu spielen wussten, dass der Deckel des Klaviers gegen den Rahmen schlug. Ragtime-Schlager, Big-Band-Hits. Mary hingegen war nicht musikalisch – sie war eine Krankenschwester, die aus dunklen, freundlichen Augen in die Welt sah. Dennoch liebte sie es, dass ihr Mann so ein Gespür für Musik hatte, und es rührte sie, wenn Paul zu seinem Vater aufsah, wenn die sanften braunen Augen des Jungen leuchteten und die runden Wangen sich zu einem breiten Lächeln verzogen. Er wünschte sich seine Lieblingslieder, beispielsweise „Lullaby Of The Leaves“, aber von all den Songs, die sein Vater auf den Partys im Freundes- und Familienkreis gern spielte, forderte er vor allem immer wieder George Gershwins „Stairway To Paradise“. Spiel das noch mal, Dad! Spiel es noch mal!

      Das tat Jim natürlich auch, mit einem breiten Lächeln, und seine Finger wanderten mit der aufsteigenden Akkordfolge nach rechts (Hörst du das? Genau wie eine Treppe!), während er mit seiner angenehmen Stimme davon sang, wie verrückt es doch war, sich schlecht zu fühlen, wenn man doch einfach die Treppenstufen erklimmen konnte, die direkt zum Glücklichsein führten.

      I’ll build a stairway to paradise with a new step every day!

      Der kleine Paul liebte diesen Song, er liebte es, wenn sein Dad ihn spielte, und wie er dann, wenn er fertig war, über die Schulter guckte und ein wenig winkte, als ob er sich bei einem aufmerksamen Publikum bedankte. Schließlich hatte er schon oft vor Zuschauern gespielt, und deswegen stellte Paul den Rat niemals infrage, den Jim ihm nach einem der spontanen kleinen Hausmusik-Abende gab: „Du solltest ein Instrument lernen. Wenn du ein Instrument spielen kannst, dann wird man dich zu jeder Feier einladen.“

      Der Junge nahm sich den Rat zu Herzen, ebenso, wie Jim ihn befolgt hatte, als sein eigener Vater ihm lange Jahre zuvor das Gleiche gesagt hatte. Sie nahmen einander ernst, die McCartneys. Vielleicht, weil sie immer schon zu arm gewesen waren, als dass ihnen Außenstehende viel Respekt entgegengebracht hätten. So war es immer schon gewesen, seit die ersten McCartneys aus Irland nach Liverpool gekommen waren, wie die meisten Einwanderer mit wenig mehr als den Kleidern, die sie am Leib trugen, und ihrer Muskelkraft, dazu große Hoffnungen und den Kopf voller Ideen, die ihnen dabei helfen mochten, die Vergangenheit abzustreifen und in eine selbstbestimmte Zukunft aufzubrechen.

      Man kann nur spekulieren, was die McCartneys dazu bewog, diese Reise anzutreten. Leichter ist es zu beschreiben, was sie vorfanden, als sie ankamen. Liverpool war eine blühende Hafenstadt im Nordwesten Englands an der Mündung des Mersey, jenes Flusslaufs, der wie ein Meeresarm des Atlantiks ins Landesinnere ragt. Liverpool war gewissermaßen das Sprungbrett nach England und dem dahinter liegenden Europa. Am Ufer des Flusses entlang erstreckten sich die Hafenanlagen, und dicht anein­andergedrängt legten hier die Schiffe an, die Zucker, Rum, Tabak und Baumwolle brachten und mit Textilien, abgepackten Nahrungsmitteln und Fertigwaren wieder davonfuhren. Liverpool war zudem ein Anlaufpunkt für die Sklavenschiffe, die von Afrika in die Vereinigten Staaten unterwegs waren und hier ihre Vorräte auffüllten. Dadurch entstand ein so enges kulturelles und wirtschaftliches Band, dass die Regierung der Amerikanischen Konföderation eine inoffizielle Botschaft in der Stadt unterhielt.

      Während manche noch nach Liverpool einwanderten, wanderten andere schon wieder aus, um sich an den unbevölkerten Ufern der Neuen Welt oder im sonnigen, leeren Australien niederzulassen. Jene, die blieben, fanden ihr Auskommen – manchmal ein sehr einträgliches – im Liverpooler Handel. Vor allem, als die vom Hafen gestützte Wirtschaft in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebte. Besucher staunten über die imposante neoklassizistische Architektur, die Hochbahn und die kosmopolitische Atmosphäre der Stadt. Aus den Türen der Restau­rants drangen die Wohlgerüche der Karibik, Asiens und Afrikas. Das Adelphi Hotel, das Juwel unter den georgianischen Bauten oberhalb des Stadtzentrums an der Lime Street, war wegen seiner luxuriösen Zimmer und der Schildkrötensuppe, die man im Restaurant bereitete, weltberühmt. Charles Dickens nannte es das beste Hotel der Welt.

      Was in London exotisch oder schlicht bizarr gewirkt hätte, sorgte am Mersey nicht einmal für hochgezogene Augenbrauen. Afrikaner gingen Arm in Arm mit blassen Damen in der Stadt spazieren, und niemand fand das merkwürdig. Schon früh wurde in Liverpool der Jazz bekannt, der direkt aus den verrufensten Bezirken von New Orleans und New York kam und sich am Mersey häuslich niederließ. Ein Jazzclub nannte sich Storyville, nach dem