Aristoteles

Aristoteles: Nikomachische Ethik


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zu empfinden. Da müssen wir uns mit eigener Anstrengung auf die andere Seite zu bringen suchen. Denn indem wir so dem Verkehrten recht weit aus dem Wege gehen, werden wir zur Mitte gelangen, ähnlich wie man es macht, um krummes Holz grade zu biegen.

      Bei allen Dingen müssen wir am meisten vor der Lust und dem, was sie hervorruft, auf der Hut sein, da wir hier nicht als unbestochene Richter urteilen. Wie die Volksältesten sich der Helena gegenüber verhielten, so müssen wir es der Lust gegenüber tun und uns das Wort der troïschen Greise immer wiederholen.53 Denn wenn wir sie in dieser Art von uns weisen, werden wir am wenigsten fehlen. Dies also ist, summarisch gesprochen, das Verfahren, um nach Möglichkeit die Mitte zu treffen. Das mag, besonders in den einzelnen Fällen, schwer sein. Es ist nicht leicht, zu bestimmen, wie und wem und aus welcher Veranlassung und wie lange man zürnen soll, und wir loben bald die, die darin zu wenig tun, und nennen sie sanftmütig, bald rühmen wir cholerischen Personen männlichen Charakter nach. Wer aber das rechte Maß nur um ein kleines verfehlt, sei es durch ein Zuviel oder ein Zuwenig, den trifft kein Tadel, wohl aber den, der es bedeutend verfehlt, weil er nicht unbemerkt bleibt. Von welchem Punkte und Grade an man aber Tadel verdient, läßt sich nicht leicht in Worte fassen, wie das ja überhaupt in der Natur des sinnlich Wahrnehmbaren liegt. Solches aber, was dem Bereich des Handelns angehört, ist singulär und konkret und untersteht deshalb dem Urteil des Sinnes54.

      Soviel jedoch gelte nun als ausgemacht, daß der mittlere Habitus zwar in allen Dingen lobenswert ist, daß man aber hin und wieder nach seiten des Zuviel oder des Zuwenig abweichen muß, um die Mitte und das Rechte leichter zu treffen.

      Drittes Buch.

       Inhaltsverzeichnis

      Erstes Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Da die Tugend es mit Affekten und Handlungen zu tun hat und diese, wenn sie freiwillig sind, Lob und Tadel finden, wenn aber unfreiwillig, Verzeihung, zuweilen auch Mitleid, so kann der Moralphilosoph nicht wohl umhin, den Begriff des Freiwilligen und des Unfreiwilligen zu erörtern. Aber auch für die Gesetzgeber ist dieses von Nutzen behufs der Feststellung von Belohnungen und Strafen.

      Unfreiwillig scheint zu sein was aus Zwang oder Unwissenheit (1110a) geschieht. Erzwungen oder gewaltsam ist dasjenige, dessen Prinzip außen liegt, und wo der Handelnde oder der Gewalt Leidende nichts dazu tut, z. B. wenn ihn der Wind oder Menschen, in deren Gewalt er ist, irgend wohin führen. Wenn aber etwas aus Furcht vor größeren Übeln oder wegen etwas Gutem getan wird – z. B. wenn ein Tyrann, der unsere Eltern und Kinder in seiner Gewalt hat, eine schimpfliche Handlung von uns verlangte und jene geschont würden, wenn wir die Handlung verrichteten, dagegen sterben müßten, wenn wir uns ihrer weigerten –, so kann man zweifeln, ob solche Handlungen freiwillig oder unfreiwillig sind. Die gleiche Bewandtnis hat es mit den Gütern, die man bei einem Seesturm über Bord wirft. Schlechthin freiwillig tut das niemand, dagegen um sich und die Anderen zu retten, tut es jeder, der Vernunft besitzt. Derartige Handlungen sind also gemischter Natur, indessen neigen sie sich mehr auf die Seite des Freiwilligen. Denn im Augenblicke ihrer Ausübung sind sie frei gewählte, und das Ziel und die Vollendung einer Handlung richtet sich jedesmal nach der Zeit. Und darum muß etwas mit Rücksicht auf die Zeit der Handlung als freiwillig und unfreiwillig bezeichnet werden. Nun geschieht sie aber, wann sie geschieht, freiwillig. Denn auch das Prinzip, das bei derartigen Handlungen die Glieder des Leibes bewegt, liegt in dem Handelnden selbst. Liegt aber das Prinzip der Handlung in ihm, so steht es bei ihm sie zu verrichten oder nicht. Mithin ist solches freiwillig, schlechthin aber vielleicht unfreiwillig, da niemand sich für derartiges an sich entscheiden würde.

      Man wird aber auch wegen solcher Handlungen bisweilen gelobt, wenn man nämlich Schimpfliches oder Schmerzliches erträgt, wo es für Großes und Schönes geschieht; fehlt aber diese Bedingung, so wird man getadelt. Denn das Schimpflichste ertragen, wo keinerlei Gut oder nur ein kleines auf dem Spiele steht, verrät den schlechten Mann. Für manche Dinge erhält man zwar kein Lob, aber Verzeihung, wenn man nämlich tut, was man nicht sollte, aus Furcht vor Dingen, die über das Vermögen der menschlichen Natur hinausgehen und von niemanden ertragen werden könnten. Indessen mag es auch solche Handlungen geben, zu denen man sich nicht zwingen lassen darf und denen man den Tod unter den größten Qualen vorziehen muß. Was z. B. den Alkmäon des Euripides zum Muttermorde gezwungen hat, ist offenbar lächerlich55.

      Es ist aber zuweilen schwer zu entscheiden, welches von zwei Dingen man wählen, und welches von zwei Übeln man ertragen soll; noch schwerer aber ist es, bei dem als Pflicht Erkannten zu beharren. Denn meistens ist das, was man zu erwarten hat, schmerzlich und das, wozu man gezwungen werden soll, schimpflich. Darum hat man für jemanden Lob oder Tadel, je nachdem er dem Zwange (1110b) nachgegeben hat oder nicht.

      Was soll nun also als erzwungen gelten? Das, antworten wir, dessen Ursache außen ist und wo der Handelnde nichts dazu tut. Was an sich unfreiwillig ist, aber für den Augenblick und aus der und der Rücksicht gewählt wird und sein Prinzip in dem Handelnden hat, ist an sich zwar unfreiwillig, jedoch für jetzt und um der und der Rücksicht willen freiwillig. Doch hat es mehr von der Art des Freiwilligen, da die Handlungen stets in bestimmten Fällen erfolgen und die Tat im bestimmten Falle eben freiwillig ist. Welche Wahl aber jedesmal zu treffen ist, läßt sich nicht leicht bestimmen, weil es von Fall zu Fall zahlreiche Verschiedenheiten gibt56.

      Wollte man aber das Lustbringende und das sittlich Gute für ein Zwingendes ausgeben, insofern es nämlich außen ist und darum Zwang ausüben soll, dann wäre alles ohne Ausnahme zwingend. Denn um dieser Dinge willen tuen alle alles. Auch sind die erzwungenen und unfreien Handlungen schmerzlich, während das um der Lust und des Guten willen Getane uns Freude macht. Es ist also lächerlich, die äußeren Güter anzuklagen und nicht sich selbst, der man so leicht von Derartigem gefangen wird, lächerlich, das Gute sich selbst zuzuschreiben, das Schimpfliche aber auf Rechnung des äußeren Reizes zu setzen. Erzwungen ist und bleibt doch wessen Prinzip außen ist, wo aber das den Zwang Erduldende nichts dazu tut57.

      Zweites Kapitel.

       Inhaltsverzeichnis

      Was aus Unwissenheit geschieht, ist zwar alles nicht freiwillig getan, aber für unfreiwillig können doch nur diejenigen Handlungen gelten, denen Schmerz und Reue folgt. Wer etwas aus Unwissenheit getan hat, aber über die Handlung kein Mißfallen empfindet, hat zwar nicht freiwillig in dem gehandelt, was er ja nicht wußte, aber auch nicht unfreiwillig, da er keine Betrübnis darüber fühlt. Wer also das aus Unwissenheit Getane bereut, erscheint als jemand, der unfreiwillig gehandelt hat, wer es aber nicht bereut – dies soll nämlich ein Anderes sein –, als jemand, der nicht freiwillig gehandelt hat. Denn da er sich von jenem unterscheidet, so erhält er besser eine besondere Bezeichnung.

      Es ist auch gewiß nicht das nämliche, ob man etwas aus Unwissenheit tut oder ohne es zu wissen. Wer betrunken oder zornig aufgeregt ist, handelt sicher nicht aus Unwissenheit, sondern aus einer dieser beiden Ursachen, aber nicht mit Wissen, sondern ohne Wissen. Aber nun weiß auch jeder Bösewicht nicht, was er tun und was er meiden soll, und eben dieser Mangel ist es, durch den der Mensch ungerecht und überhaupt schlecht wird.

      Endlich darf da von unfreiwillig keine Rede sein, wo man nicht weiß, was einem frommt. Freigewollte Unwissenheit ist keine Ursache des Unfreiwilligen, sondern der Schlechtigkeit; auch nicht die Unkenntnis der allgemeinen sittlichen Vorschriften – denn gerade ihretwegen erfährt man Tadel –, sondern die Unkenntnis des Einzelnen, in (1111a) dem und um das sich das Handeln bewegt. Hier findet ja auch Mitleid und Verzeihung statt. Denn wer ein Einzelnes nicht weiß, handelt unfreiwillig.

      Es ist nun wohl nicht unpassend, anzugeben, welche und wie viele Einzelheiten überhaupt bei einer Handlung in Betracht kommen können. Es