Benjamin Markovits

Spieltage


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Scheu war Beleg dafür, wie selbstsicher er seit seiner Kindheit in den Straßen von Middletown geworden war.

      Aber kurz vor dem College-Abschluss hatte auch ich so meine Erfahrungen gemacht. Und irgendwann in den vier Wanderjahren des Studiums kam ich auf die Idee, professionell Basketball zu spielen – niemand in meinem Bekanntenkreis hatte je vom Schreiben leben können.

      Ein Freund filmte mich in der Uni-Sporthalle, wie ich ganz für mich allein Bälle warf und dunkte. Das war die Bewerbung, die ich verschickte, begleitet von der kleinen, aber entscheidenden Information, dass meine Mutter Deutsche war, was mir erlaubte, die europäische Quote für ausländische Spieler zu umgehen. Während meine Kommilitonen sich eifrig für Aufbaustudiengänge bewarben, Jura oder Medizin, und auf ihre Zulassungsbescheide warteten, verließ ich an einem windigen Märztag das Büro des Dekans und hatte die vier dünnen Seiten eines Vertrags in der Hand, den ein Agent gerade durchgefaxt hatte. Und ich zeigte ihn jedem, der in meine Nähe kam. Das hatte so etwas wunderbar Unplausibles. Ich hatte mit siebzehn das letzte Mal ein Trikot getragen, aber trotzdem gab es da jemanden in Ober-Ramstadt, der sich entschieden hatte, mich zu vertreten.

      Ich wollte zu irgendetwas zurückkehren, zur Kindheit meines Vaters ebenso sehr wie zu meiner eigenen. Ein zielsicherer Jumpshot und eine gute linke Hand waren ihm viel wichtiger gewesen als Berufsausbildung, Gehalt, Festanstellung oder Hypothek. Ein normales Leben als Erwachsener kam mir vor wie einer dieser gesellschaftlichen Anlässe, zu denen man als Kind mitgeschleppt wird – wo man Anzug und Krawatte trägt, die einem nicht passen, und Sachen sagt, von denen man nicht überzeugt ist. Basketball war meine Entschuldigung, nicht hinzugehen. Außerdem wollte ich endlich die Dinge tun, die ich in der Highschool versäumt hatte.

      Zwei Tage nach dem Studienabschluss flog ich nach Hamburg und verbrachte den Sommer damit, von einem Zug zum nächsten und vom Hotel in die Sporthalle zu gehen. Damals hatte ich nicht viel Gepäck, nur meine Sporttasche mit einer Ersatzgarnitur für alles, inklusive Sneakers, sowie dem dicken Ball in der Mitte. Die Klamotten wusch ich in dem Waschbecken, das gerade zur Verfügung stand. Die meisten der großen Städte waren vom Fußball dominiert, nur auf dem Land, in den Dörfern und Marktgemeinden, hatte der Basketball Luft zum Atmen. Ab Ende Juli war ich dann in Landshut, nordöstlich von München, bei einer Zweitligamannschaft unter Vertrag, die in der Gegend als «Yoghurts» bekannt war. Ich hatte einen Monat Zeit und flog nach Hause, um den Sommer wie üblich damit zuzubringen, zwischen der Kälte der Klimaanlage und der grellen, reflektierenden Hitze des väterlichen Basketballcourts zu pendeln. Ende August stieg ich dann in den Flieger nach München, um mein neues Leben zu beginnen.

      Mein Vater brachte mich zum Flughafen und blieb bei laufendem Motor eine Minute lang im Auto sitzen. Er legte mir die Hand auf die Schulter; ich wusste, dass er einen Ratschlag vorbereitet hatte. «Tu mir einen Gefallen, ja?», sagte er schließlich. «Mach keinen Quatsch mit diesen Jungs, diesen Spielern.»

      «Was meinst du mit Quatsch machen?»

      «Du weißt, was ich meine», sagte er. «Zocken oder so. Das sind nicht die Kids, mit denen du aufgewachsen bist. Und wo wir gerade dabei sind: Hüte dich auch vor den Frauen, die um sie herumschwirren.»

      Als ich dann die Sicherheitskontrolle, das Einchecken und den langen, fensterlosen Korridor zum Gate hinter mich brachte, spürte ich etwas Seltsames. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Angst vorm Fliegen.

      3

      Der Club schickte jemanden, der mich am Flughafen in Empfang nahm, einen Amerikaner namens Bo Hadnot, vom Akzent her Südstaatler. Er war so eins sechsundachtzig, eins achtundachtzig groß; vermutlich ein ehemaliger Spieler, dachte ich. Mit großen Zähnen, die seine Lippen ein wenig aufdrückten und ihn durstig aussehen ließen. Und mit kräftigen Händen – er nahm mir die Reisetasche ab. Das schien mir eine eher traurige Aufgabe für einen Expat.

      Ich wurde in diesem Sommer öfters «in Empfang genommen», an Flughäfen, Bahnhöfen, Busterminals, von diversen Teamchefs und Clublakaien. Dicke, schlecht gekleidete Männer, deren letzter Rest von Jugend darin bestand, dass sie noch bei ihren Eltern wohnten. Ein Freund aus der Clubleitung hatte ihnen irgendeinen Job verschafft: Übernachtungen und Ablaufpläne organisieren, Spieler vom Hotel zur Halle befördern, danach die Umkleide putzen, Trikots waschen etc. Trotzdem spielten sie sich vor den nervösen Neuankömmlingen auf, vor Typen wie mir. Die meisten wussten gar nicht, wie ich heiße, und Hadnot war da keine Ausnahme. Ihnen genügte, dass ich Basketballspieler war, sie rechneten damit, meinen Kopf schon irgendwie über den anderen erkennen zu können.

      Ich war nach dem Flug verschwitzt und verschüchtert und schlief auf der Fahrt schon nach wenigen Minuten ein. Hadnot verfuhr sich auf dem Weg vom Flughafen. Er weckte mich an einer Tankstelle, damit ich nach dem Weg frage, und sagte dabei erst leise, dann immer lauter: «Junge! Junge!» Er hatte mitbekommen, wie ich mit einem der Zollbeamten Deutsch gesprochen hatte. Wieder im Auto fragte ich ihn, wie lange er schon hier sei, und ohne Ironie oder Scham meinte er, fünf Jahre. Was er die ganze Zeit gemacht habe, fragte ich.

      «Basketball gespielt.»

      Irgendwann überwanden wir das Gitternetz an Autobahnen rund um den Flughafen und fuhren durch eine ländliche Gegend, die einladend und ordentlich bewirtschaftet aussah. Landstraßen, links und rechts von hohem Getreide gerahmt. Und Dörfer, die von Oberüber Mittel- zu Unter- eine ganze Skala von Namen aufwiesen, keines davon größer als eine Kurve und ein paar Bauernhäuser. Die Stadt selbst war recht hübsch und alt. Wir rumpelten ein paar Minuten lang über die Hauptstraße, vorbei an einer Kirche mit Backsteinturm, so nüchtern wie ein Fabrikschlot, bevor wir direkt am Fluss vor einem kleinen italienischen Restaurant namens Sahadi anhielten. Unter einer rotgestreiften Markise hingen Korbflaschen im Fenster. Die meisten Autos, die hier parkten, waren blaue, zweitürige Fiats mit brandneuen Nummernschildern: ein Anzeichen dafür, dass sich das Basketballteam hier versammelt hatte. Hadnot meinte, er müsse noch seine Tochter von ihrer Großmutter abholen, und fuhr los, kaum dass ich die Tür zugeschlagen hatte.

      Das Sahadi trug den Namen seines Besitzers, eines Türken, der aus Turin über die Alpen gekommen war, als die Deutschen Ende der Achtzigerjahre die Einwanderungsbestimmungen lockerten. Er war die Sorte Mann, die mein Vater liebt, ein wurzelloser, polyglotter Verkäufertyp – mit Leuten wie ihm hatte ich meinen Dad meine ganze Kindheit über «parlieren» gesehen. Er hielt mich wegen meiner Größe für einen weiteren Spieler und führte mich unter mehreren niedrigen Backsteinbögen durch, allesamt von Weinreben umrankt. Die Bayern, sagte er mir (genau wie mein Vater das getan hätte, überhäufte ich ihn mit Fragen), würden die türkische Küche nicht sonderlich schätzen, weshalb er italienisch kochte, gelegentlich aber versuchte, auch ein paar östliche Elemente einfließen zu lassen. Herr Sahadi schien überglücklich, einen neuen Basketballspieler kennenzulernen. Unter einem der Bögen legte er mir die Hand auf den Arm, damit ich stehen blieb und er seinen Sermon loswerden konnte – die erste Andeutung von Berühmtheit.

      Der letzte Raum war kaum mehr als eine Höhle; er enthielt einen niedrigen Tisch sowie ein halbes Dutzend Männer, die um ihn herum saßen und versuchten, irgendwie ihre Knie unterzubringen.

      «Wo ist Hadnot?», rief jemand, als ich unter einer eingetopften Weinrebe den Kopf einziehen musste und einen freien Stuhl suchte. Er müsse seine Tochter abholen, sagte ich. «Bist du der Amerikaner?», fragte die gleiche Stimme. «Setz dich her, brother, setz dich her, denn mir beliebt mit dir zu sprechen.»

      Die Stimme gehörte einem der beiden schwarzen Männer im Raum. Er machte mir neben sich am Tischende Platz und griff nach einem sauberen Teller, auf den er aus einer von Sprudelflaschen umringten Schüssel Spaghetti häufte. Die meisten anderen hatten schon gegessen. Es war nicht mehr viel übrig, aber er suchte zusammen, was er konnte, und präsentierte es mir: Grissini und Hummus, kalte Calamari, Parmesan, Zitrone, ein bisschen Frascati. Sein Name sei Charlie, sagte er, Charlie Gold, dann stellte er mir den Rest der Mannschaft vor: Olaf Schmidt, Axel Plotzke, Willi Darmstadt, Milo Moritz und Karl.

      Charlie bestritt den Großteil des Gesprächs. Er hatte ein eher unmarkantes Gesicht, tiefhängende Augenbrauen und einen zurückweichenden Haaransatz – verschmitzt, aber keineswegs jugendlich. Zum Beispiel hatte er sich