Martin Heipertz

Von einem, der auszog, einen Staat aufzubauen


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Milošević an den Albanern im Kosovo Völkermord zu begehen im Begriff gestanden habe.

      Der damalige deutsche Außenminister Joseph Fischer klang mir noch im Ohr:

      »Ich habe nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg. Ich habe auch gelernt: Nie wieder Auschwitz.«

      Milošević war demnach so etwas wie der neue Hitler. Nach wochenlangen Bombardierungen rückte die Nato mit Bodentruppen in das Kosovo ein, das die Serben nahezu kampflos räumten. Der Feldzug des Westens beendete die serbische Herrschaft über das Kosovo. Ein Interregnum setzte ein: Die Region wurde unter internationale Verwaltung der Uno gestellt, und nur noch formal gehörte sie weiterhin dem Staat Serbien an. Damit war die Frage nach dem Status des Kosovos aufgeworfen: souveräner Staat oder restjugoslawische Verwaltungseinheit? Nach einer ersten, jahrelangen Phase von Verhandlungen, in denen die albanische Seite von den Amerikanern und die Serben von ihrer traditionellen Schutzmacht Rußland protegiert wurden, schien die Lösung dieser Frage unter stillschweigendem Einverständnis der sogenannten Internationalen Gemeinschaft auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben worden zu sein. Standards vor Status – so lautete das im Rückblick reichlich naive Motto, unter dem erst einmal eine Verwaltung aufgebaut und das Kosovo wirtschaftlich entwickelt werden sollten, ohne daß man die staatliche Verfaßtheit auch nur im Ansatz geklärt hätte. Hauptsache, die Lage blieb ruhig, keine Toten verwesten in den Straßengräben und keine Flüchtlingsströme ergossen sich nach Mitteleuropa wie in den neunziger Jahren. Doch die Lage tat der Internationalen Gemeinschaft keineswegs den Gefallen, ruhig zu bleiben …

      Keine fünf Jahre nach dem Waffenstillstand kam es im Jahre 2004 zu Pogromen, nunmehr aber der Albaner gegen die Serben. Der fünfzehnjährige Jovica Ivić wurde in der serbischen Enklave Čaglavica von Albanern erschossen, die aus einem vorbeifahrenden Auto wahllos mit einer Maschinenpistole auf Passanten feuerten. Jovica wurde von Kugeln in den Magen und den Arm getroffen und verblutete auf dem Weg ins Krankenhaus. Seinen Bruder lernte ich Monate nach meiner Ankunft im Kosovo kennen. Er zeigte mir das Mahnmal an der Hauptstraße; an der Stelle, wo auf Jovica geschossen worden war. Der Bruder aber war vier Jahre später Friedensaktivist geworden und arbeitete mit Studenten einer Organisation aus Belgrad zusammen, die sich der Verständigung von Albanern und Serben verschrieben hatte.

      Einmal nahmen mich diese Leute auf eine wilde Turbo-Folk-Party nach Čaglavica mit, die in einer Scheune am Dorfrand stattfand. Turbo-Folk ist eine Mischung aus serbischer Volksmusik und Techno. Von Menschenmassen, die nächtelang Turbo-Folk tanzten, wurde im Luftkrieg von 1999 eine wichtige Brücke über die Save in Belgrad gegen die Nato-Bomber geschützt. Die amerikanischen Piloten sollten so viele zivile Opfer nicht in Kauf nehmen – man befand sich schließlich an der Schwelle zu einem neuen, zivilisierten Jahrtausend. Also mußten die Bomberpiloten abdrehen, und sie tauften ihr unangreifbares Zielobjekt resigniert die Rock’n’Roll-Bridge, denn was sollten sie schon von Turbo-Folk wissen. Mir gefielen der Turbo-Folk in der Scheune von Čaglavica, die alten Lieder, welche die Jugend mit Trotz in der Stimme zu der modernen Maschinenmusik sang, und die darin ausgedrückte kulturelle Selbstbehauptung und Aufsässigkeit gegenüber dem Westen, die diese Klänge transportierten. Das hatte etwas, was ich zu Hause kaum noch bemerkte: Identität.

      Doch im Jahre 2004, nach dem Tod von Jovica Ivić, wurde in Čaglavica kein Turbo-Folk getanzt. Die Serben errichteten Straßenbarrikaden. Am nächsten Tag ertranken drei albanische Kinder im Fluß Ibar, der die ethnische Grenze zu dem mehrheitlich serbisch besiedelten Norden des Kosovos darstellt. Es hieß damals, die Kinder seien aus Rache für Jovica Ivić von den Serben ertränkt worden. Tags darauf fielen zehntausende Albaner über die serbische Minderheit in den verschiedenen Enklaven her. Marodierende Banden wurden aus Albanien mit Bussen in das Kosovo gebracht und zogen eine Spur der Verwüstung durch das Land. Klöster wurden niedergebrannt, zahlreiche Mönche verstümmelt und totgeschlagen – alles unter den völlig überraschten Augen der Nato, die dem Gewaltausbruch nichts entgegensetzte und sich darauf beschränkte, die Serben zu evakuieren. Noch heute kursieren im Internet Videos von Schaulustigen, die jugendliche Täter dabei filmten, wie sie Kirchen in Brand setzen. Von einem dieser Filmchen ist mir in Erinnerung, wie die Glocken einer kleinen Kirche von höherer Macht geläutet zu werden scheinen, während das ganze Schiff schon in Flammen steht. Schlagartig verstummen die Rufe und Schmähungen der Albaner, und man hört nur noch das Knacken und Fauchen des Feuers und darüber die läutenden Glocken, bis der Turm zusammenbricht.

      Die Internationale Gemeinschaft schreckte im Jahre 2004 gehörig auf, ließ Standards vor Status fallen wie eine plötzlich heißgewordene Kartoffel und beschloß, diese offensichtlich doch nicht zu umgehende Statusfrage nunmehr vordringlich zu regeln. Ein neuer, zermürbender Verhandlungsmarathon setzte ein, der drei Jahre dauern sollte, jedoch die Hoffnungen auf einen Friedensschluß nicht erfüllen konnte. Er war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die von serbischer Seite den Albanern vorgeschlagene Autonomielösung wurde immer weitergehend ausgestaltet und erreichte schließlich die Qualität des im Völkerrecht als Ausnahmefall geltenden Statuts von Südtirol im italienischen Staatsverbund. Aber die Albaner lehnten auch die am weitesten gehenden Vorschläge ab. Die Meinungen in den Zeitungen, die ich las, gingen auseinander: Die Wunden säßen zu tief, lautete ein Argument, und nach dem versuchten Völkermord durch Milošević sei es doch nicht zumutbar, von den Albanern zu verlangen, noch länger mit den Serben in einem Staat zu leben. Die Albaner hätten nie ernsthaft verhandelt, schrieb eine kleine Minderheit von kritischen Journalisten, weil die Amerikaner ihnen unter der Hand immer versichert hätten, ihre vollständige Loslösung von Serbien zu unterstützen, wenn erst die Verhandlungen formell gescheitert seien. Die albanische Minderheit in den USA sei die bestorganisierte politische Lobby nach der jüdischen, wagte ein Kommentator in Südeuropa zu behaupten. Außerdem verfügten die Amerikaner mit einem von Belgrad unabhängigen Kosovo, das nach ihrer Pfeife tanze, über eine militärische Basis inmitten der Südwestflanke der russischen Einflußsphäre – eine Basis, in der sie nach Gutdünken schalten und walten könnten wie weiland die alten Römer in ihrer Provinz Dardania.

      Ich las weiter, die Europäische Union sei tief gespalten in der Statusfrage. Großbritannien halte in Treue zu den amerikanischen Alliierten. Deutschland habe zwar erhebliche Bedenken hinsichtlich des Völkerrechts, das nunmehr, neun Jahre nach dem Krieg, zugunsten der Serben spreche, weil die humanitäre Not der Albaner schließlich auf Dauer behoben sei. Immerhin habe es im Jahr 2000 in Serbien eine Revolution gegeben, welche die Milošević-Diktatur in den Orkus der Geschichte geschickt und durch eine Demokratie ersetzt habe, die sich ernsthaft um Aufnahme in die EU bemühe. Aber aus Hörigkeit gegenüber den Amerikanern unterstützte Berlin trotz dieser Bedenken die Unabhängigkeit des Kosovos, wie letztlich auch Paris. Andere Mitgliedstaaten der EU nähmen die gegenteilige Position ein, entweder aus traditioneller und kultureller Nähe zu den orthodoxen Serben, wie Griechenland und Zypern, oder im Hinblick auf nationale Minderheiten im eigenen Land, die ebenfalls separatistische Tendenzen verfolgten, etwa Spanien und das – zudem orthodox geprägte – Rumänien. Diese Spaltung der EU sei den Amerikanern wiederum nur recht, denn damit habe die Union ein unlösbares Problem vor der eigenen Haustür, an dem sich die kränkliche sogenannte gemeinsame Außenpolitik der Europäer noch auf Generationen die Zähne würde ausbeißen können.

      Eine Lautsprecherdurchsage forderte zum Einsteigen auf und riß mich aus meiner Lektüre. Ich blickte um mich und sah die Gebirgsjäger in Reih und Glied antreten und in das Flugzeug einrücken. Ich begab mich an das Ende der Abteilung und nickte meinem wortkargen Gesprächspartner noch einmal zu – ohne Reaktion.

      Offensichtlich war ich aber doch nicht der einzige Zivilist auf dem Flug nach Priština: Zwei bewaffnete Gendarmen in Schutzwesten kreuzten auf einmal auf und begleiteten einen jungen, verwegen blickenden Mann mit dunklen Haaren, schwarzglühenden Augen und einer scheußlichen Narbe quer über dem Gesicht zum Einstieg. Es mußte sich um einen jener Bürger des neuzugründenden Staates handeln, die nicht nur in Österreich hin und wieder unangenehm aufzufallen die Angewohnheit hatten und der deshalb zurück in die Heimat expediert wurde. Wenn auch vermutlich nicht für lange. Kosovo-Albaner genießen überwiegend nicht den Ruf von Liebenswürdigkeit, und etwas bange war mir dann doch, daß ich nun in einen Flieger stieg, der mich mit niemand anderem als zahlreichen Soldaten und dieser zumindest zweifelhaften Person meinem Bestimmungsort für diesen neuen Abschnitt meines Lebens zuführte.