Katherine V. Forrest

Tradition


Скачать книгу

Dayton hob die Hand und deutete, ohne hinzusehen, links neben Kate. Ein Adrenalinstoß jagte durch ihren Körper, als sie auf eine schwarze Mülltüte starrte, die oben mit einem gelben Band zusammengebunden war und etwas abseits der geschlossenen Apartmenttür stand.

      »Kyle sagte, ich soll’s wegschmeißen«, fuhr Dayton fort. »Ich für meinen Teil würde den Kram nicht mal anrühren, wenn der Müllwagen direkt in unserem Flur halten würde. Stellen Sie sich bloß mal vor, die Tüte reißt.«

      Kate dachte an Charlotte Mead und an die Tests, die sie mit diesen vielleicht entscheidenden Beweisstücken durchführen konnte. Sie atmete tief durch.

      »Kate?«, fragte Taylor.

      Sie sah ihn an, ihre Gedanken rasten – sie wusste, dass er Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihres Vorgehens hatte, wusste, dass sie jetzt keinen Fehler machen durfte.

      Sie hatten keinen Durchsuchungsbefehl. In jedem Totschlagprozess, ganz zu schweigen von einem Mordprozess, konnte jede Verletzung des vierten Zusatzartikels zur Einstellung des Verfahrens führen, ganz gleichgültig, wie eindeutig die Beweislage für die Schuld des Verdächtigen sprechen mochte. Sie und Taylor hatten sich ordnungsgemäß ausgewiesen, und man hatte ihnen Einlass in diese Wohnung gewährt. Ohne einen Durchsuchungsbefehl konnten sie nur mit Burt Daytons Erlaubnis die anderen Zimmer untersuchen, in keinem Fall durften sie irgendetwas aus dem Schlafzimmer, das Kyle Jensen mit Burt Dayton teilte, entfernen. Doch das Wohnzimmer war quasi ein öffentlicher Raum, zu dem man ihnen offiziell Zugang gewährt hatte, und man hatte sie auf einen potenziellen, deutlich sichtbaren Beweis hingewiesen. Mit ruhiger Stimme sagte sie zu Taylor: »Hol eine Beweistüte. Und mach diesem Fotografen Beine.«

      »Was für ein Riesenmist«, murmelte Dayton vor sich hin, als Taylor die Wohnung verließ.

      »Wir müssen oft wesentlich mehr tun, als nötig ist, um den Vorschriften Genüge zu tun«, sagte Kate beruhigend.

      »Erzählen Sie bloß Kyle nicht, dass ich was gesagt hab. Der bringt mich glatt um.«

      »Wenn’s kein Problem gibt, gibt’s kein Problem, richtig?«, sagte Kate. Während Dayton noch verwirrt versuchte, hinter den tieferen Sinn dieser Plattitüde zu kommen, fragte sie beiläufig: »Ist er ein solcher Hitzkopf?«

      »Er ist ganz in Ordnung. Wenn man ihn nicht zu sehr reizt.«

      »Ist er leicht reizbar?«

      Er sah sie stumm an. Sie hatte das Gefühl, dass sie nicht länger auf seine Kooperationsbereitschaft zählen konnte.

      »Wo können wir Shirl erreichen? Wir müssen mit ihr reden.«

      »Keine Ahnung.«

      »Wo arbeitet sie?«

      »Keine Ahnung.«

      »Wie ist ihre Telefonnummer?«

      »Fragen Sie Kyle.«

      »Wie lange kennen Sie Kyle schon?«

      Er sah sie durchdringend an und umkreiste wieder mit dem Zeigefinger seine Lippen. »Lange. Wir sind zusammen hierher gezogen.«

      »Von wo, Mr. Dayton?«

      »Pittsburgh.«

      »Tatsächlich?« Sie wählte einen leichten Plauderton. »Das soll eine nette Stadt sein.«

      »Eine tote Stadt. Tot und begraben. Los Angeles – da tobt der Bär.«

      Sie betrachtete ihn und fragte sich, wie diese Flohkiste von Wohnung besser sein konnte als das, was er verlassen hatte. »Sie und Mr. Jensen kennen sich also von klein auf?«

      Er schien angestrengt darüber nachzudenken, ob diese Frage eine neue Falle darstellte. »Sozusagen. Mal mehr, mal weniger. Wir machen beide unser eigenes Ding. Aber er ist in Ordnung, klar? Was das hier auch für ’ne Sache ist, er hat keinen Dreck am Stecken.«

      Als Taylor mit einem großen Beweisbeutel in die Wohnung zurückkam, fragte Kate: »Wie steht’s mit Ihnen, Mr. Dayton? Haben Sie Dreck am Stecken?«

      »Ich hab keine Probleme«, sagte er, während er Taylor beobachtete, der die schwarze Plastikmülltüte einpackte und das Beweissiegel ausfüllte.

      Kate fragte beiläufig: »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns ein bisschen umsehen, Mr. Dayton?«

      »Nichts da. Und lassen Sie den Mr.-Dayton-Scheiß. Nichts da, Lady. Wenn Sie mich weiter löchern wollen, hol ich mir erst mal ’nen Rechtsverdreher.«

      »Das ist natürlich Ihr gutes Recht, Burt.« Sie erhob sich und zog eine Karte aus ihrem Notizbuch. »Kyle muss ja nicht unbedingt erfahren, wie wir an den Kleiderbeutel gekommen sind. Sie sollten die Sachen doch in den Müll werfen, nicht wahr? Falls Sie Shirl sehen, sagen Sie ihr, dass sie uns anrufen soll, ja?«

      Er stand auf, nahm die Karte und stopfte sie in die Gesäßtasche seiner Jeans. »Klar, mach ich«, sagte er und auf seinem Gesicht erschien fast so etwas wie ein Lächeln.

      Ted Carlson fotografierte das Innere und Äußere des Müllcontainers und den Boden drum herum. Als er fertig war, streiften Kate und Taylor sich Plastikhandschuhe über.

      Kate zog ihr Jackett aus und drückte es Carlson in die Hand. Sie wappnete sich und sagte dann zu Taylor: »Hilf mir hoch.«

      »Oh Gott«, grummelte Taylor. »Er allein weiß, was da drin ist. Und heutzutage kann man sich Gott weiß was fangen.«

      »Es könnte schlimmer sein«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Taylor, der seine Finger zu einem Steigbügel ineinanderhakte. »Die Müllabfuhr muss gestern, höchstens vorgestern hier gewesen sein …«

      Kate stemmte sich hoch und sprang in den Container. Sie landete auf glitschigem, nachgiebigem Moder und griff haltsuchend zur Containerwand. Entschlossen ignorierte sie den Gestank. Die Bazillen in diesem Container würden schon nicht lebensbedrohlich sein – oder vielleicht doch? Sie warf einen prüfenden Blick auf den Abfall, in dem sie bis zu den Waden versunken war. Sie sah etwas Silbernes aufblitzen, fischte den Gegenstand heraus und reichte ihn zu Taylor hoch.

      »Was zum Teufel …«, sagte er. »Ein Rad … von einem gottverdammten Rollstuhl

      »Sieht so aus«, sagte sie. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie so ein Gegenstand in einer Mülltonne landen konnte.

      Dankbar erspähte Kate die Annehmlichkeit einiger geschlossener Mülltüten, die sie einzeln zu Taylor hinausreichte, bevor sie ihm methodisch jeden festen Gegenstand aushändigte, den ihre behandschuhten Finger zu fassen bekamen. Taylor legte die Fundstücke säuberlich auf dem Zement vor dem Müllcontainer aus: leere Flaschen, Bierdosen, Aluminiumverpackungen, Pappkartons und Zeitungen. Schließlich wurden ihre Füße nur noch von einer knapp knöcheltiefen morastigen Brühe umspült, die sich aus Hähnchenknochen, Tomatenhäuten, Eierschalen, Filtertüten, verschimmeltem Obst und anderen unidentifizierbaren Essensresten zusammensetzte. Kate stemmte sich mit den Händen an der Containerwand hoch und kletterte unbeholfen hinaus.

      Während Carlson die leeren Eingeweide des Containers fotografierte, packten sie und Taylor die Mülltüten aus. Kate übernahm es, mehrere Zellstoffartikel zu inspizieren, deren rostfarbene Flecken sich als eingetrocknetes Menstruationsblut entpuppten. Überrascht entdeckte sie, dass jemand vier zerbrochene Spritzen weggeworfen hatte. Das hohe Aidsrisiko bei Drogenabhängigen hatte mindestens ebenso viel mit der Wiederverwendung gebrauchter Spritzen wie mit Unwissenheit zu tun – viele Junkies schreckten nicht davor zurück, sich den Stoff mit zerbrochenen Spritzen zu injizieren.

      »Wundervolle Motive«, kommentierte Carlson, während er auf dem Boden kniete, um die Abfallsammlung zu fotografieren. »Ich sollte die Aufnahmen bei einem Wettbewerb einreichen.«

      »Erster Preis«, murmelte Taylor.

      Während Carlson seine Sachen zusammenpackte, warfen Kate und Taylor den Abfall zurück in den Container. Bei der ganzen Unternehmung waren sie weder leise noch heimlich vorgegangen. Mehrere Bewohner hatten sie von den Fenstern aus beobachtet, aber niemand hatte auch nur gefragt, was