ihre Kinder verlieren? Stirbt ein Elternteil, so verliert man ein Stück Vergangenheit. Stirbt ein Kind, so verliert man ein Stück Zukunft. Man erfährt aber auch einiges über ihr glückliches Leben in der Kindheit und Jugend. Eine Frage aber immer offen bleiben wird, deren Beantwortung nicht mehr möglich ist. Warum hat sich Mutter mehr als nötig in diesem SED System engaschiert. Das sie es tun musste, schon wegen ihrer Kinder, keine Frage. Aber warum mehr als nötig, dass verstehe ich nicht ganz? Ich schreibe unsere Familiegeschichte für meinen Vater. Weil ich endlich wissen muss wer er war. Ich bin schließlich ein Teil von ihm. Er auch zu jener Generation gehörte, die durch zwei Weltkriege geprägt und gebeutelt wurde. Sein Leben und seine Geschichte wurden genauso eindeutig vom Krieg bestimmt. Ich erzähle sein wahres Leben, seine Qualen die er durchleben musste, aber auch seine Aufrichtigkeit, damit nicht vergessen wird, was passiert ist. Er sein leben lang gegen den Strom schwamm, in der Hoffnung dessen Quelle zu finden oder sie zu erreichen. Am Ende unter ging. Sein politisches Ziel nie erreichen sollte oder konnte. Vielleicht findet er durch mich eine Anerkennung in unserer Familie, oder in der Geschichte. Ich kannte ihn nicht, versuche aber ihn auf diesem Weg ein Denkmal zu setzen, damit er nicht vergessen wird. Denn wenn ein Mensch nicht vergessen wird, lebt er fort. Wie ich glaube, hat er dies mehr als verdient. Er auf keinen Fall ein Feigling war, wie von Tante Mischa behauptet, sondern zu den wenigen Deutschen gehörte, die in dieser schrecklichsten Zeit der deutschen Geschichte, Haltung und Würde bewahrte. Er höchstens ein spätes Opfer dieser Zeit war oder wurde. Möge sich der Leser ein Bild darüber machen, zu was der Mensch fähig sein kann. Möge er das gestern mit dem heute vergleichen und sich fragen: „Hat die Menschheit aus ihrer Geschichte gelernt, ist sie klüger geworden oder kann so etwas unvorstellbares wieder passieren?“ Diese Frage muss ein jeder für sich allein beantworten! Ich glaube, keiner aus meiner Generation oder aus den nächsten kann sich diese körperlichen und seelischen Schmerzen vorstellen, die die KZ-Gefangenen damals hatten. Heutzutage muss hoffentlich niemand mehr Strafen wie „Baumhängen“ oder „Bock“ oder teilweise tagelanges Strafestehen bei –10 °C ertragen. Oder doch? Alle Worte in dieser Geschichte sind Tatsachen, die ich herausgefunden habe, ich habe es im Vorwort schon erwähnt. Ich hoffe, man kann meinen betriebenen Aufwand nach dem Lesen des Kapitels erahnen, damit sie wahrheitsgetreu entstehen konnte. Der „Selbstmord oder Mord“ lässt sich leider nicht mehr bis ins letzte beweißen, zumindest bis zum jetzigen Zeitpunkt der Nachforschungen. Im Rahmen meiner Recherchen habe ich auch viele Bücher und Dokumentationen über Buchenwald gelesen und gesichtet. Dabei stellte ich gravierende Übereinstimmungen seiner Dokumente und Notizen mit den in diesen Büchern enthaltenen Zeugenaussagen und Berichten fest. Ja, in vielen Fällen waren sie sogar Deckungsgleich. Aber nirgends fand ich Buchenwald so lückenlos umschrieben, so persönlich Emonzional, von jemandem, der von Anfang bis Ende diese Hölle durchlaufen hat. So beschreibt er, wie er dies alles seelisch verkraftet hat und konnte, wie er dachte und fühlte. Auch sein Buch, „Erlebnisse eines politischen Gefangenen im Konzentrationslager Buchenwald“, 1946 im damaligen Thüringer Volksverlag erschienen, ist „nur“ in Berichtsform geschrieben, und vor allem nur ein Teil seiner Lebensgeschichte. Man sollte alle Kapitel dieses Buches lesen, nur so versteht man seinen Lebensweg, den er gegangen ist, bis er zum Gegner dieses menschenverachtenden Systems wurde. Alle seine Dokumente und Notizen bilden eine Einheit, die sein wahres Leben zeigen, es bestand ja nicht nur aus Buchenwald, von Anfang bis zum tragischen Ende. Fasziniert haben mich in seinen Notizen formulierte politische Gedanken und Einschätzungen, die zeigen, dass er für die damalige Zeit ein außergewöhnlicher Mensch aus unserer Familie war. Sie zeugen von seinem hohen politischen Wissensstand, welches er sich im laufe der Jahre selbst aneignete, gepaart mit seinen Lebenserfahrungen. Er erkannte schon damals, was durch heutige Geschichtsschreiber Stück für Stück ans Tageslicht kommt. Er, der Kommunist war, vielleicht aber auch nur ein Utopist, der ein menschenwürdiges Dasein für alle Menschen auf diesem Planeten anstrebte. Ich persönlich würde sagen, gäbe es den Faktor Menschen nicht, dann würden seine Ideen vom Kommunismus funktionieren. So konnte er seine im April 1945 wiedererlangte Freiheit nie richtig ausleben, obwohl er es sich so gewünscht und erhofft hatte. Sein Lebensweg sich letztendlich immer mehr in ein Trümmerfeld seiner politischen Ideen und Ideale hineinbewegen musste, welches auch durch sein neu gefundenes privates Glück in der Familie nicht ausgeglichen werden konnte. Seine Aufzeichnungen enthalten aber leider auch keine endgültige, allumfassende Wahrheit auf alle Fragen nach dem Sinn des Lebens, Gott, Krieg und Frieden, Wirtschaft und überhaupt allem. Ich denke, dass diese komplette Wahrheit kein Mensch auf der Welt kennt. Schon gar nicht diejenigen, die das von sich behaupten. Es gibt aber durchaus Menschen auf der Welt, die in der Erkenntnis schon sehr weit gekommen sind. Es sind allerdings im allumfassenden Bereich nur sehr wenige. Einer von diesen Menschen, denke ich, war mein Vater. Ich bin überzeugt: Das geschriebene Buch unserer Familie ist ein Schatz, den es zu bewahren gilt!
Aber wo soll ich nun mit seiner Lebensgeschichte anfangen und wo aufhören? Wer eine Geschichte aus dem Leben kennt, kennt meist nur ihr Ende. Das Ende in diese Geschichte kennen wir. Sie endet mit einem, „Selbstmord“. Wollen wir jedoch den „Selbstmord“ verstehen, das Wieso oder Warum hinterfragen, müssen wir zu ihrem Kern vordringen. Wollen wir aber zu ihrem Kern vordringen, müssen wir an ihren Anfang, an ihren Wurzeln beginnen. Nur so können wir im Lichte der Wahrheit versuchen zu verstehen. So lasst mich von vorn beginnen! Ich werde euch seine ganze Lebensgeschichte von der Geburt bis zum Tod erzählen. Beginnen werde ich aber nicht wie in einem Märchen, womöglich mit „es war einmal … “. Beginnen werde ich auch nicht mit seiner Geburt sondern mit dem 22. Mai 1951, seinem Todestag.
Der 22. Mai 1951
Heute ist der 22. Mai 1951. Ich stehe wie immer sehr früh auf, und gehe zum Fenster. Einfach nur am Fenster zu stehen, aus ihm zu schauen, um das draußen zu betrachten. Einfach schön. Das was ich sehe, ist das Wirken von gegenseitiger Anziehung und es machte mir große Freude, nicht nur Freude, sondern auch Dankbarkeit. Der Frühling ist da, nicht nur in der Natur, sondern auch in mir. Blühende Bäume, die Sonne strahlt. Die Welt kann so schön sein. Es wird heute wieder ein herrlicher Tag werden. So ist das halt morgens im Frühling, die Sonne geht auf und die Vögel zwitschern. Es ist ein Pfeifen der Anerkennung, so wie die Männer schönen Frauen manchmal hinterher pfeifen. Der allmorgendliche Blick in die Schönheit der Natur, in die Freiheit, den ich genieße und brauche, ist mir nach Buchenwald zur Gewohnheit geworden. Auch wenn es nur ein kurzer Ausblick ist, ich sauge ihn auf. Er gibt mir täglich neue Lebenskraft. Ein immer wieder faszinierender Anblick, wie es die Sonne schafft, die Natur jeden Morgen zu neuem Leben erwachen zu lassen. Das Licht das die Naturwelt durchströmt, es läßt sich nicht wiedergeben. Man muss es sehen und erleben. Wie in den Urgewalten des Windes die Bäume tanzen. Natur ist etwas Kostbares! Gleich werden die Leute vom NKWGviii kommen, um mich zum „Erfahrungsaustausch“ nach Karlshorst abzuholen. Wieder so ein sinnloses Verhör. Wieder diese bohrenden Fragen zu meiner Gesinnung, meiner Einstellung zur Sowjetunion, was ich über Stalin, den großen Führer denke. Ob ich die Entwicklung in der Sowjetzone gutheiße, die SEDix, die neue Staatsführung, die Deutsche Demokratische Republik (DDR). Warum ich mit einem Zeugen Jehovasx verkehre? Immer wieder diese Fragen, die ich seit meiner „Strafversetzung“ von Weimar nach Teltow hier über mich ergehen lassen muß. Zu der neuen Arbeitsstelle gehört dieses von der Sowjetarmee konfiszierte Einfamilienhaus in Rangsdorf, im Grenzweg, in welches ich mit meiner Familie einziehen durfte. Es lag etwas abseits. In einer schönen Waldsiedlung. Schon in Weimar hat man versucht mich aus dem Verkehr zu ziehen. „Wegen meiner demokratischen Ansichten“, die im sowjetisch besetzten Sektor anscheinend nicht mehr gefragt sind. Hier war ihre Strategie, mich auf Arbeit zu demütigen oder mich kalt zu stellen. Beinah wäre es ihnen gelungen. Ich musste mich in psychiatrische Behandlung begeben, war auch einige Zeit in der Psyachtrie in Jena untergebracht. Diese Demütigungen machten mir anfangs schwer zu schaffen. Als die „neuen Genossen“ in der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands aber merkten, dass sie keine Wirkung mehr bei mir erzielten konnten, wurde ich eben nach Teltow versetzt. Ab da beschäftigte sich der NKWD mit mir. Ein Grund war sicherlich auch, uns Buchenwaldkameraden zu trennen, denn ich war nicht der einzigste von uns, der wegen seiner politischen Gedanken Schwierigkeiten bekam. Oder haben sie vielleicht Angst vor uns Buchenwaldlern? Sehen uns in diesem neuen System als ungebetene Konkurrenten, die unangenehme Fragen stellen? Ich habe meine Konsequenzen aus diesem ganzen politischen Schwindel gezogen, ich werde mich