von Mietskasernen wirken deprimierend. Irgendwo steht immer ein Mülleimer herum, und die großzügig bereitgestellten Plastikrutschen, mit denen träge Stadtkinder zur körperlichen Ertüchtigung animiert werden sollen, sehen sogar aus der Satellitenperspektive schäbig aus.
Die Frau schnarchte leise. Den hervortretenden Adern ihrer herunterhängenden rechten Hand nach zu urteilen, musste sie um die Vierzig sein, wie er selbst. Sie hatte ihm nicht einmal gesagt, wie sie hieß. Ihr Gesicht verschwand fast zwischen seinen Biber-Bett-Kissen, ein protestantisches Sopranistinnen-Gesicht, dessen Trägerin geschieden ist, Kirchentage besucht, für den Weihnachtsbasar jede Menge Spekulatius bäckt, mit den Kindern vorm Zubettgehen Gebete rezitiert und vom Schutzengel erzählt. Sollte er jetzt zu ihr in sein Bett steigen, sie von hinten umarmen, bis sie sich umdrehte und ihm ihren kühlen evangelischen Atem ins Gesicht blies? In den tollen Tagen passierten die tollsten Dinge. Ihre blauen Augen allerdings waren keine Clownsschminke.
Draußen läutete eine Kirchturmglocke. Bald würden die ersten Streifen der Dämmerung über die Stadt kriechen und den letzten Feiernden neues Licht geben. Milton war aus seinem Kleid gestiegen und hatte sich in einem bequemen dunklen Jogginganzug vergraben. Seine Müdigkeit war weg. Er könnte seine alte Kinder-Plastikknarre aus dem Keller holen und damit eine Bank überfallen. Es war sechs Uhr, Zeit für den Nachtwächter-Schichtwechsel und die ersten Geld-Transporte. Mit seiner alten Skimütze und den Wildleder-Laufschuhen würde er einen glaubwürdigen Bankräuber abgeben. Kurz vor Schichtende würde er die Überwachungskamera mit einer selbst gekauten Packung Orbit White überkleben, dem gähnenden Nachtwächter seine Kinderknarre an den Hinterkopf halten und ihn dazu bringen, ihm eine Plastiktüte voller knitterfreier Banknoten zu überreichen. Damit würde er sich aus dem Staub machen, bevor der Alarm losging. Im Stadtpark würde er sich der Knarre entledigen, die Plastiktüte im hinter einem Baum versteckten Minirucksack verstauen und mit dem Geld auf dem Rücken als harmloser Jogger nach Hause rennen, während die Polizei Straßensperren errichtete und jeden verdächtigen PKW nach großen Scheinen durchfilzte.
Die Frau hieß Silke. Diplompsychologin Silke Weidemann, eine Freundin seiner Schwester Mime. Kein Wunder, dass Milton zunächst nicht wusste, wer sie war. Sie hatte sich verändert. Vor etwa einem Jahr war sie noch eine feiste Frischvermählte gewesen. Inzwischen trug sie deutlich weniger Gewicht mit sich herum und ihr Ehering schien abgefallen zu sein. Dafür hatte sie sich ein neues Problem eingefangen.
„Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einem Patienten.“ Silke schob sich ein Haarband zwischen die Zähne. „Er ist das große V für Versagen, das an der Decke klebt und zu mir herabgrüßt, sobald ich morgens die Augen aufmache. Ich sollte ihn an einen Psychiater überweisen, damit er Psychopharmaka bekommt. Doch er will das nicht, er sagt, er kriegt Pestbeulen davon. Wenn das so weiter geht, kriege ich noch selber Pestbeulen, weil ich aus schierer Verzweiflung die Mittel schlucke, die eigentlich für ihn sind“, brachte sie undeutlich hervor, während sie ihre Haare zu einem bescheidenen Zopf zusammenraffte und mit dem Band umwickelte. „Er war der Meinung, ich sei nicht seine Mutter.“
„Womit er vermutlich recht hat.“
„Seine Mutter hat ihn früher auf dem Stuhl festgebunden, bis er seinen Teller leer hatte. Selbst Milchreis musste er essen, bis zum letzten Korn.“
„Was ist an Milchreis auszusetzen?“, erkundigte sich Milton.
„Es macht ihm noch mehr Beulen. Laktoseunverträglichkeit. Aber dieses Wort kannten in den sechziger Jahren höchstens ein paar Laborratten. Nicht mal die haben daraus die notwendigen Schlüsse gezogen.“
Milton betrachtete die Milchtüte, die immer noch auf dem Frühstückstisch stand. Einskommafünf Prozent Fett. EU-Öko-Siegel. Pasteurisiert. Homogenisiert. Genau das Richtige, um es sich in den Kaffee zu schütten.
„Danach fängt man an zu schmatzen“, sagte er.
„Bitte?“ Die Frau sah ihn hoffnungsvoll und ein bisschen verängstigt an. Milton fragte sich, was sie von ihm erwartete. Sollte er etwa über sie herfallen und ihr die Reste ihres jämmerlichen Kostüms vom Leib reißen? Oder wollte sie nur mit ihm reden? Über einen Problempatienten, dessen Geisteskrankheit schon dadurch diagnostiziert war, dass er sich ausgerechnet diese Frau als Psychotherapeutin ausgesucht hatte.
„Milch hat eine extreme Oberflächenspannung“, erklärte Milton. „Beim Sprechen löst sich die Zunge schwer vom Gaumen und macht so ein klickendes Geräusch. Ein Schmatzen. Das kann äußerst störend sein, besonders bei Tonaufnahmen. Ist er vielleicht Synchronsprecher?“
„Er ist zwanghaft.“ Silkes Stimme klang weich. „Und in seiner Freizeit dreht er schöne kleine Filme über sein Leben, die keiner sehen will. Ich meine, vielleicht … vielleicht haben Sie ja recht.“
„Was?“
„Er dreht Filme aus der extremen Subjektive und beschreibt gleichzeitig, was er da sieht“, sagte Silke. „Er sagt, er will den Augenblick festhalten zwischen Zukunft und Vergangenheit. Also filmt er einen Baum und sagt: Das ist die Kastanie vor meinem Haus. Eine wunderschöne Idee, sehr künstlerisch. Aber dafür muss er eben laufend ins Mikrophon sprechen.“
Milton versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem ihm eine innere Stimme pausenlos die Welt erklärte. Er war sich sicher, dass es einen Namen für dieses Leiden gab. Selbst als Film musste es eine quälende Angelegenheit sein, dumpf und schwerfällig, unironisch, wortgetreu, eindeutig, unverblümt. Ein Film für Blinde. Die absolute Wahrheit.
„Woher wussten Sie das?“, fragte Silke.
„Es ist zum Durchdrehen.“ Milton vermerkte enttäuscht, dass sie auf seinen primitiven kleinen Wortwitz nicht reagierte. „Ich wusste es nicht. Ich weiß eigentlich nie etwas. Ich habe bloß geraten.“
Daraufhin begann sie zu lachen, lang anhaltend und atemlos. Es klang, als wollte sie weinen.
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