führte Julius Lilienblum ins Gästezimmer und gab ihm Gelegenheit, sich zwei, drei Stunden lang auszuruhen. Dann wollte man weitersehen.
Auch Erkenbrecher warf sich auf die Couch. Ins Institut musste er nicht mehr, sein Professor hielt nichts von festen Arbeitszeiten, und eine Lehrveranstaltung lag heute auch nicht an. Er rief nur schnell seine Verlobte an, dann hielt er Siesta und wachte erst wieder auf, als er seinen Vater kommen hörte.
Ernest Erkenbrecher malte zwar, fotografierte kunstvoll, spielte Cello, komponierte Filmmelodien und unterrichtete im Fach Architektur, war aber in der Hauptsache Kulturmanager, warb Gelder ein und organisierte Festivals. Er kannte Hinz und Kunz und konnte auf Knopfdruck Erhabenes sagen, so dass er ständig Festvorträge halten musste und stets im Gespräch war, wenn in Berlin ein neuer Kultursenator gesucht wurde. Er war 1916 in Liegnitz geboren worden, aber seine Eltern waren nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gegangen, wo sie in Schöneberg einen Lebensmittelladen eröffnet hatten. 1933 hatten sie Hakenkreuzfähnchen ins Schaufenster gestellt, was Ernest, ein Verehrer Max Liebermanns, gar nicht gut gefunden hatte. Nach dem Abitur hatte er Architektur studiert, war aber bald eingezogen worden. Die Eltern und eine Schwester waren ins Erzgebirge evakuiert worden und dort hängengeblieben. Ein paar Mal leicht verwundet, hatte Ernest an der Westfront überlebt und zwei bittere Jahre in französischer Kriegsgefangenschaft einigermaßen unversehrt überstanden. 1947 war er nach Berlin zurückgekehrt, hatte ein Leben als Bohemien begonnen und war mit Chuzpe und Können zu dem aufgestiegen, was er jetzt war: einer Größe im West-Berliner Kulturleben.
Den Cousin aus Massachusetts begrüßte er so theatralisch, als würden sie auf der Bühne des Schillertheaters stehen: «Willkommen, mein lieber Julius, willkommen in Berlin. Mensch, wie freu ick ma! Um es mit Max von Schenkendorf zu sagen: Muttersprache, Mutterlaut! / Wie so wonnesam, so traut! / Erstes Wort, das mir erschallet, / Süßes erstes Liebeswort. / Erster Ton, den ich gelallet, / Klingest ewig in mir fort. / Überall weht Gottes Hauch, / Heilig ist wohl mancher Brauch; / Aber soll ich beten, danken, / Geb ich meine Liebe kund, / Meine seligsten Gedanken, / Sprech ich wie der Mutter Mund.»
Lilienblum lachte. «Hör auf mit so viel Pathos, Ernest. Bei der Mutter Mund denke ich sofort an einen Muttermund, der sich nicht öffnet, und frage mich, was ich meiner Patientin spritzen soll, damit sie ihre Wehen besser ertragen kann.»
Die beiden lagen sich nun in den Armen, und Erkenbrecher bemerkte schmunzelnd, dass die ältere Nachbarin, die dem Schauspiel hinter ihrer Hecke atemlos folgte, schon Tränen in den Augen habe.
Man setzte sich auf die Terrasse, um Kaffee zu trinken, dann wurde beschlossen, in die Stadt zu fahren und dem Gast die Mauer zu zeigen. Das war ein Ritual, das dem West-Berliner als unverzichtbar galt. Die Mauer erhöhte ihn, denn keine andere Stadt im gesamten Kosmos hatte ein solches Bauwerk aufzuweisen, und sie sorgte für große Gefühle: Man konnte dem Gast das eigene Elend schildern, mehr aber noch aus tiefstem Herzen das Schicksal der Deutschen drüben beklagen, der Brüder und Schwestern, man konnte die kommunistischen Diktatoren in Moskau und ihre DDR-Vasallen verfluchen. Hinzu kam die große Wut auf die Nationalsozialisten, ohne deren Schandtaten der Potsdamer Platz turbulenter gewesen wäre als Times Square und Broadway zusammen und nicht eine jämmerliche Brache. Die Mauer wühlte jeden auf, der auf die Podeste kletterte, die man an prominenten Stellen errichtet hatte.
Auch Lilienblum war ergriffen, als sie am Potsdamer Platz angekommen waren. «Nichts als Leere, wo früher einmal … Da drüben hat das Haus Vaterland gestanden, in dem ich immer mit Claire gesessen habe in einem der vielen Säle … Grinzing, Löwenbräu, Wild-West-Bar, Csardas, Bodega, Rheinterrassen … Du brauchtest nicht extra zu verreisen, mitten in deiner Stadt warst du woanders.»
«Das würde heute nicht mehr funktionieren», sagte Ernest Erkenbrecher. «Man will reisen, reisen, reisen.»
«Und dass sie das nicht können, ist für die Leute drüben in der DDR ganz besonders schmerzlich», fügte Georgia Erkenbrecher hinzu. «Wenn ich da an Carola denke …»
Günther Zützer war vor zehn Jahren aus Bad Urach geflohen. Zum einen, um der Bundeswehr zu entgehen, denn als West-Berliner war man von der Wehrpflicht befreit, zum anderen, weil er fürchtete, in der Enge der Kleinstadt zu ersticken. Die schwäbische Gemütlichkeit war ihm ein Greuel geworden, und gern zitierte er Nietzsche: Gutmütig und tückisch – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland: Man lebe nur eine Zeitlang unter Schwaben!
Eine Weile hatte er in West-Berlin studiert, mal dieses, mal jenes, es dann aber zu seinem Beruf gemacht, an Demonstrationen teilzunehmen und leerstehende Häuser «instand zu besetzen». Schließlich hatte er sein Studium sausen lassen und verdiente nun sein Geld als Kleindarsteller sowie mit einer Kneipe in der Kreuzberger Oranienstraße. An deren Wänden standen Sprüche wie Lieber eine schmutzige Unterhose als eine saubere Uniform oder Lieber eine Schwester im Puff als einen Bruder beim Bund.
Wenn Zützer etwas hasste, dann war es das Establishment, und zu dem zählte er auch die Erkenbrecher-Sippe. Besonders verhasst war ihm Ernest Erkenbrecher. Nicht nur wegen seiner Villa in Lichterfelde – galt doch: «Frieden den Hütten, Krieg den Palästen!» –, sondern auch, weil er, Zützer, alles Schöngeistige und Parfümierte ebenso verabscheute wie alle Kulturfunktionäre. Ernest Erkenbrecher war für ihn der GröSchwäZ, der größte Schwätzer aller Zeiten, oder ersatzweise Old Sabberlippe.
Auch auf Georgia Erkenbrecher hatte er sich eingeschossen, denn die Lehrkräfte der West-Berliner und westdeutschen Gymnasien waren für ihn allesamt Büttel des Kapitalismus, von den Herrschenden engagiert, um die Arbeiterklasse und Kinder der kleinen Angestellten und Beamten – mochten sie auch noch so begabt sein – von den Universitäten und damit den Schalthebeln wie den Fleischtöpfen dieses Landes fernzuhalten.
Dass ausgerechnet Rainer Erkenbrecher sein bester Freund war, erschien Günther Zützer als Witz der Weltgeschichte. Aber so war es nun einmal. Die berühmte Chemie. «Wie bei Romeo und Julia», spottete er des Öfteren.
Kennengelernt hatten sie sich ganz unspektakulär bei einem Sit-in an der FU, und zwar im Gebäude der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät an der Garystraße. Als ein paar Professoren dumme Reden geführt hatten, waren zwei Kommilitonen neben ihm auf die Idee gekommen, einen Feuerwehrschlauch aus einem Kasten zu reißen, ihn an einen Hydranten anzuschließen und die Räume der Hardliner unter Wasser zu setzen. Ihm war es bei dieser Aktion zugefallen, eine Glastür zu zertrümmern, während Rainer Erkenbrecher versucht hatte, die gusseiserne Spritze durch die Öffnung zu schieben. Dabei hatte Erkenbrecher sich die Unterarme aufgerissen und so geblutet, dass sich Zützer sein Oberhemd vom Körper gerissen hatte, um ihn zu verbinden. Anschließend war er mit Erkenbrecher ins Krankenhaus gefahren, und sie waren sozusagen Blutsbrüder geworden. Unter Fotos aus dieser Zeit stand: Winnetou und Old Shatterhand an der FU.
So fand er es auch nicht verwunderlich, dass er von Rainer Erkenbrecher gebeten wurde, Yvonne von zu Hause abzuholen und mit nach Lichterfelde zu bringen. Yvonne wohnte in einer WG in der Pflügerstraße und war Schauspielerin. Sie gehörte zum Ensemble eines Off-Theaters, verdiente ihr Geld als Statistin beim Film, insbesondere als unterklassige Liebesdienerin, und träumte von einer großen Karriere an der Schaubühne. Zützer hatte mit ihr zwei- bis dreimal geschlafen und sie sofort ins Spiel gebracht, als Erkenbrecher davon gesprochen hatte, seine Eltern und seine Verlobte damit schocken zu wollen, dass er sich eine Nutte zum Geburtstag wünsche. Eine echte zu engagieren hatte er dann aber doch nicht gewagt. Zützer hatte kommentiert, Erkenbrecher habe die besten Anlagen, um einmal bei den Sozialdemokraten zu landen.
Als er Yvonne in der Pflügerstraße am Straßenrand stehen sah, stieß er die Tür auf der Beifahrerseite auf.
«Wie viel kostet es heute bei dir?»
«Fünfzig, aber mit Präser.»
«Gut, die zahl ich gerne.» Zützer zog den Zündschlüssel ab und schwang sich aus seinem Kleinwagen.
«Das ist Rainers Geburtstagsgeschenk und nicht deines!», rief Yvonne.
«Ja, symbolisch. Du denkst doch nicht etwa, dass Martina ihn einen Augenblick aus den Augen lässt und ihr beide wirklich …» Schon