Horst Kempa

Kurzgeschichten vom Land aus Vergangenheit und Gegenwart


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Mutterkuhherden sind dafür regelrechte Treibjagden erforderlich. Dort wo Mastbullen lose in Boxen gehalten werden, ist das bei Tieren der höhern Gewichtsklassen lebensgefährlich.

      Um das alles etwas zu entschärfen, suchen die Behörden und Landwirte nach Kompromissen.

      So lange das Tier noch eine Ohrmarke hat, wird oft ein Auge zu gedrückt. Das Einziehen der Ersatzohrmarke erfolgt dann, wenn das Tier so wieso eingefangen werden muss (tierärztliche Untersuchung, Klauenpflege).

      Bei Mastbullen, die zur Schlachtung gingen, wurde die Ersatzmarke lose zum Schlachthof mit gegeben.

      Dass diese Erleichterungen nicht immer und überall möglich sind und die Behörden oft nach Buchstabe und Gesetz vorgehen, zeigt folgendes Beispiel.

      In unserm Mastbullenstall wurden die Tiere in Laufboxen zu je acht Stück gehalten. In den Boxen gibt es immer wieder Rangkämpfe, bei denen auch die Ohrmarken herausgerissen werden. Viele, besonders die älteren schweren Tiere, hatten deshalb nur noch eine Ohrmarke. Als der Kreistierarzt eine Kontrolle durchführte und das feststellte, wurde er schon unruhig. Als er dann aber an eine Box kam, in der schlachtreife Bullen mit einem Gewicht von über 700 kg standen und sah, dass ein Bulle keine Ohrmarke mehr hatte, verlor er die Fassung. Er erklärte mir, dass es diesen Bullen nicht gibt und dass das Tier sofort zu entfernen ist. Ich blieb ruhig und sagte, das ist nicht so schlimm, die Tiere gehen so wieso in den nächsten Tagen zum Schlachten. Er donnerte los.

       Ausgewachsene Mastbullen

      Das geht gar nicht, das Tier gibt es nicht und deshalb kann es auch nicht geschlachtet werden. Jetzt verlor ich die Fassung. Zwei erwachsene studierte Männer stehen vor einen leibhaftigen 700 kg Bullen und streiten, ob es dieses Tier gibt oder nicht. Und das alles nur, weil es keine Ohrmarke hat. Dazu kann man nur sagen: typisch deutsch.

      Nachdem der Tierarzt und der Landwirt richtig Dampf abgelassen hatten, haben wir noch eine Lösung gefunden.

      Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war im Volkseigenen Gut (VEG) Sommerfeld ein Reserveoffizier der Nationalen Volksarmee (NVA) Direktor. Das war ein fähiger Mann, der alle Voraussetzungen hatte den Betrieb wieder in die Gewinnzone zu führen. Er hatte jedoch den Fehler, dass er den Kasernenton nicht ablegen konnte. Das hat vielen Mitarbeitern nicht gefallen.

      Im Frühjahr 1963 musste der Direktor für drei Monate zum Reservistendienst einrücken. Ich war zu diesem Zeitpunkt gerade ein halbes Jahr im Betrieb und erst 22 Jahre alt. Mir traute man deshalb die alleinige Führung des Betriebes in dem Vierteljahr nicht zu. Es wurde ein kommissarischer Direktor eingesetzt. Der war das ganze Gegenteil vom eigentlichen Chef. Seine fachlichen Fähigkeiten waren begrenzt, er trat nicht wie ein Chef auf sondern wirkte eher wie ein Seelsorger. Das wiederum gefiel einigen Mitarbeitern.

      In einer Belegschaftsversammlung sollte der Betriebskollektivvertrag (BKV) abgeschlossen werden. Der BKV wird zwischen der Betriebsgewerkschaftsleitung (BGL) und der Betriebleitung abgeschlossen. Er beinhaltet im Wesentlichen die sozialen Leistungen, die der Betrieb erbringt. Rechtlich gesehen hatte der BKV wenig Bedeutung, da die meisten Dinge gesetzlich geregelt waren. Er dokumentierte aber ein demokratisches Mäntelchen und war deshalb politisch hoch angebunden.

      In der Versammlung haben sich einige Mitarbeiter, die den Seelsorger als Direktor behalten wollten, über den alten Chef beschwert. Nach dem Abschluss der Diskussion sollte der BKV feierlich von BGL-Vorsitzendem und dem Direktor unterzeichnet werden. Als dazu die im Präsidium sitzenden zur Tat schreiten wollten, ging die Tür auf und der eigentliche Direktor erschien in voller Ausgehuniform mit dem Dienstgrad eines Majors. Es trat eine Totenstille ein. Alle senkten die Köpfe, besonders die, die vorher noch über den Chef geschimpft hatten.

      Nach der Überwindung der Schrecksekunde sollte nun der BKV unterschrieben werden. Als der kommissarisch eingesetzte Direktor das tun wollte, stürzte der Major nach vorn und brüllte: „Hier bin ich noch der Direktor“. Wir hatten jetzt zwei Direktoren. Einer war zu viel, aber welcher war das. Der anwesende Mensch vom Kreisvorstand der Gewerkschaft schlug eine Auszeit vor. Ein Krisenstab, die beiden Direktoren, der BGL-Vorsitzende, der Vertreter vom Kreis und ich, zogen sich in ein Bürozimmer zur Beratung zurück. Es wurde der Kompromiss gefunden, dass ich als Stellvertreter den BKV unterschrieb. So kam ich als 22 Jähriger zu meiner ersten Unterzeichnung eines Dokumentes.

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