Erde, das sei unser Credo. So wahr uns Gott helfe.“68 Sein Sohn kommentiert:
Alle diese gekonnten Handküsse, die austarierten Sitzordnungen, die nie vergessenen Blumensträuße, das artige Zerlegen von Artischockenköpfen, das arkanische Wissen um Anreden waren nichts wert, als es darum ging, das Gewissen zu schärfen und Mitmenschlichkeit zu beweisen. Die formvollendeten Manieren der Kriegsverbrecher und Rassisten konnten die Blutstropfen auf den maßgefertigten Glacéhandschuhen, Frackhemden und Gamaschen nicht unsichtbar machen; die geschliffenen Manieren erschienen mir, gerade wegen der Kultur und Bildung, die sie hervorgebracht und die so kläglich versagt hatten, besonders verwerflich.69
Bis unmittelbar vor dem Totalzusammenbruch war die Elite gefangen in dieser Lebenslüge, und nicht wenige Nazigrößen konnten sich auch nach dem Krieg, bekleidet mit einer Fülle guter Manieren und eingehüllt in ausgeprägter humanistischer Philosophie, unbemerkt wieder hohe Posten sichern.
3. Das Schweigen der schweigenden Mehrheit
An allem Unrecht, das geschieht, ist nicht nur der schuld, der es begeht, sondern auch der, der es nicht verhindert.
Erich Kästner
Trifft die vielen Mitläufer, diejenigen, die selbst nicht gemordet, das Morden aber ohne Widerstand zugelassen haben, keine Schuld? Im rechtlichen Sinne gibt es keine Kollektivschuld. Schuldig macht sich jeweils ein Einzelner, der das Recht bricht. In politischer Hinsicht dagegen existiert kollektive Schuld im Sinne einer kollektiven Haftung. Die Mitläufer tragen eine moralische Mitverantwortung, da ohne sie die Verbrechen nicht hätten ausgeführt werden können. Ein Land oder ein Volk, das dem Totalitarismus anheimgefallen ist und nicht dagegen Widerstand leistet, macht sich durch seine bewusst oder unbewusst gewählte Ohnmacht (mit)schuldig. Dies aber nicht im rechtlichen Sinn, sondern eben im politischen.70
Als am 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, war dies ein erster trauriger Höhepunkt der Judenverfolgung im Dritten Reich. Dieser antisemitische Ausbruch kam nicht aus heiterem Himmel. Vielmehr reichen seine Wurzeln bis ins Jahr 1933 – und weit darüber hinaus. Von welchem Hinsehen oder Nicht-Hinsehen, Handeln oder Nicht-Handeln an begann die Sphäre individueller und kollektiver Schuld?
Dorothee Sölle schreibt:
Verstrickt waren schließlich alle, die nicht Widerstand leisteten, eingebunden in die verschiedensten Formen des Mitglaubens, Mitmachens und Mitprofitierens. Und zu diesen Mitläufern im weiten Sinne des Wortes gehörten auch alle die, welche die Kunst des Wegsehens, Weghörens und Stummbleibens eingeübt hatten. Es ist viel gestritten worden über kollektive Schuld und Verantwortlichkeit. Mein Grundgefühl ist eher das einer unauslöschlichen Scham: zu diesem Volk zu gehören … Diese Scham verjährt nicht, ja sie muss lebendig bleiben.71
Hunderttausende haben in Nazi-Deutschland und in den umliegenden Ländern geschwiegen oder mitgemacht, obwohl sie eigentlich spürten, dass es nicht richtig ist. Wenn genug Druck da ist und der Mensch um sein Leben bangt, wird er sich beugen. Manchmal reicht schon die Angst um die materielle Existenz aus, sich dem Diktat der Gewalt zu beugen.
Die häufigste Haltung, die sich aus einer Ohnmachtserfahrung ableitet, ist die Haltung der Regression. Regression meint hier, sich mit den Umständen abzufinden, weil man sie als nicht veränderbar einschätzt und folglich durchaus aktiv unterstützt: Es ist eine besondere Form der Aktivität, die aus einer paradoxerweise passiven Haltung entsteht. Der Regressive selbst ist sich seines Rückzuges oft nicht bewusst. Der Rückzug geschieht jedoch bereits durch die bewusste Anerkennung der Verhältnisse. Die Verantwortung wird weiterdelegiert. An ihre Stelle treten Pflichterfüllung und Gehorsam (Opportunismus, Anpassung). Die Mehrheit der Bürger des Dritten Reichs wählte die Anpassung zu ihrer Überlebensstrategie.
Die vielen Mitläufer setzten sich mit den Verhältnissen nicht auseinander, leisteten keinen Widerstand und zogen sich mit ihren Werten in ihr Privatleben zurück. Zu den politischen Umständen schwiegen sie und nahmen diese somit als gegeben an. Diese Strategie der Beschränkung der Werte auf das Privatleben wurde nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs nicht hinterfragt und in ihrer verheerenden Wirkung auf die nächsten Generationen völlig unterschätzt. Den Angepassten wurde nicht klar, dass sie sich nicht einfach so als unbelastet darstellen konnten. Die Mehrheit der so gearteten Mitläufer schlüpfte nach dem Krieg in eine Art Opferhaltung, sobald sie sich den unbequemen Fragen ihrer Kinder über ihr Schweigen gegenübergestellt sah. Auf ihre kritischen Fragen („Warum habt ihr nichts getan? Warum habt ihr mitgemacht? Warum habt ihr euch nicht gewehrt?“) bekamen die Kinder der Mitläufer oft konfrontative oder unbefriedigende Antworten, meistens mit folgendem Tenor: „Ihr habt ja gar keine Ahnung davon, wie das damals wirklich war.“ Eine selbstkritische Reflexion war nicht angesagt.
Die Redewendungen vom „kleinen Mann“, die Propagierung der Ohnmacht des Einzelnen („wir konnten ja doch nichts tun“), die Haltung des „wir hier unten – die da oben“ war eine Entschuldigung, die sich schwer anfechten ließ.
Auf diese Weise blieb für viele der Nachfolgegeneration die entscheidende Frage unbeantwortet: Wie haben die Großeltern, die immer ihren menschlichen Anstand in der Zeit des Nationalsozialismus betonten, diesen Anstand vereinbaren können mit einer verbrecherischen Ideologie?
Prof. Dr. Wolfgang Benz, Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, schreibt über Mitläufer:
Und diese waren entweder in der inneren Emigration gewesen, hatten nach ihren Aussagen Hitler und die Nazis schon immer abgelehnt und verachtet, wären insgeheim auf der Seite des Widerstandes engagiert und hätten das Ende des Nationalsozialismus herbeigesehnt. Das berührte ihre Überzeugung nicht, dass man dem Vaterland bis zum Äußersten dienen müsse, auch wenn Verbrecher an der Regierung waren. Und deshalb hatten sie zur Verteidigung des NS-Regimes bis zuletzt ihre patriotische Pflicht getan. All die Genossen aus Überzeugung, aus Opportunismus und Feigheit schwiegen ab 1945. Sie machten sich und andere glauben, ihr Idealismus, der sie zu Hitler geführt habe, sei missbraucht worden, sie hätten immer nur das Gute gewollt, von den Verbrechen des Regimes nie etwas gewusst, und sie fühlten sich betrogen. Damit gab es nur Opfer … Es wurde zur Lebenslüge einer Generation, die zur Erklärung allen Übels immer auf eine kleine Gruppe von Bösewichten um Hitler verwies, die für alles verantwortlich gewesen sei, die dem deutschen Volk Gewalt angetan habe, das nichts habe machen können gegen die verbrecherische Minderheit, die alle ins Unglück gestürzt habe. Die Lockungen der nationalsozialistischen Ideologie waren so vergessen wie die Leiden derer, die aus rassischen, politischen und religiösen Gründen verfolgt worden waren, an deren Ausgrenzung sich eben die Mehrheit der Mitläufer beteiligt hatte: Juden und Sinti und Roma, Kommunisten und Zeugen Jehovas, Polen und Angehörige anderer Völker, die offiziell als minderwertig galten und deren Versklavung und Vernichtung man gleichgültig hinnahm. Wie die Lockungen vergessen und verdrängt waren, so wurden der Zwang und der Druck des Regimes zur Erklärung für alles beschworen, als habe der Terror von Anfang an bestanden und sei nicht erst durch die Begeisterung der einen und die Hinnahme der anderen ermöglicht, ausgedehnt und verfestigt worden.72
Als nach 1935 die Nürnberger Rassengesetze die schrittweise, systematische Ausgrenzung der deutschen Juden aus der Gesellschaft anstießen, war mit Missbilligung seitens breiter Bevölkerungskreise nicht zu rechnen. Die Mehrheit tolerierte zumindest die Ziele der Judenpolitik, diese erst aus der Gesellschaft und dann aus Deutschland hinauszudrängen. Man wagte weitgehend nicht, die vorhandenen Vorbehalte gegen die gewalttätige Art des Vorgehens öffentlich zu äußern.
So entstanden die fließenden Übergänge zwischen Tätern, Mitwissern, Nutznießern und Mitläufern, die ein gutes Funktionieren des destruktiven Maßnahmenpakets sicherstellten, und so war es gerade die weitaus größte Zahl der Mitläufer, die die Pläne der Täter erst zum Erfolg brachten. Ohne die vermeintlich harmlosen Mitläufer hätte gar nichts funktioniert. Die Rolle der Mitläufer als eigentlicher Stützen des Systems darf niemals verharmlost werden. Das wie auch immer geartete Einverständnis des Einzelnen machte die mörderischen Konsequenzen überhaupt erst möglich.
Diese starke Mitverantwortung an den Verbrechen des NS-Systems gerade derer, die sich später als unschuldige Unbeteiligte und Opfer missbrauchten Vertrauens