Interessiert betrachtete ich mir diese für mich ungewohnte Anlage. Da kreuzte ein Hausmeister auf, mit dem ich ins Gespräch kam und der mir dann stolz seine neue Schule zeigte. Ich geriet ins Staunen. Ja, das war was ganz anderes als der schmutzigrote Kasernenbau meiner Löfflerschule mit den altersschwachen Schulbänken. In so einer Schule wie in dieser unterrichten können, das wäre was! – Über Laasphe, Siegen gelangte ich dann weiter fahrend in den Raum Gummersbach. Unterwegs, mich auf langer Strecke bergaufwärts quälend, hielt ein VW-Transporter an und lud mich ein, mein Fahrrad hinten rein zu legen und mitzufahren. So kam ich gut voran und traf am späten Nachmittag bei meinem Onkel in Marienheide ein.
Dort blieb ich vorerst, half ein bisschen beim Hausbau, sah mich um und gewann einen Einblick in die Verhältnisse. Mein Onkel, von Beruf Tischler, konnte sich als einfacher Arbeiter ein Haus bauen, weil er als vertriebener Schlesier durch „Lastenausgleich“ einen Bauzuschuss und günstigen Kredit erhalten hatte. Das fand ich schon bemerkenswert.
Aber ich wollte ja zu meinem Freund Eberhard ins Hessische. So stieg ich wieder aufs Rad und fuhr weiter nach Süden. Bei schönem Wetter zunächst in Richtung Koblenz, dann am herrlichen Rhein entlang, zur lockenden Loreley aufblickend, dahinter in den Taunus hinauf, wo ich nach anstrengender Fahrt bei meinem Freund eintraf.
„Komm rüber, ich helf’ dir! So wie ich dich kenne, wirst du das bei euch auf die Dauer nicht aushalten!“ So etwa seine Rede. Obwohl er zugestand, dass die Arbeit des Lehrers in der Großstadtschule auch kein Zuckerlecken sei, aber eben ohne politische Bevormundung, mit freier Lehre und offener Gesinnung einfach leichter. Die durch politischen Druck und Zwang erzeugte psychische Belastung fiele ganz weg. „Du brauchst Dich nur auf deinen Unterricht und auf eine vernünftige Lenkung der dir anvertrauten Kinder konzentrieren! Alles andere, das Politische, fällt hier weg!“ Ja, und das war schon das, was ich mir vorstellte.
Auf der Weiterfahrt machte ich noch Station in Hanau bei einem Schulfreund aus meinem schlesischen Heimatdorf. Auch Walter, der mich bereits in Gotha besucht hatte, riet mir zu. Er meinte auch, und das als Sozialdemokrat, ich sei dann im Hessischen besser aufgehoben als womöglich in Bayern …
Es war eine interessante, aufregende und auch anstrengende Reise. Und die Quintessenz: Ich war im Ganzen recht angetan vom „Westen“. Ich sah ihn nicht „golden“, aber im Vergleich zu uns als ein freies Land. Und darum ging es mir. Auch dass mir Freunde Orientierungshilfe angeboten hatten, sprach für das von uns erwogene Wagnis. Es gab zwar einen geringfügigen Schatten, der mich etwas nachdenklich stimmte: In einem Restaurant mit meinem Onkel zu Tisch, hatte ich zwangsläufig, da laut und bedeutend geredet wurde, ein Gespräch mit angehört: Vier vornehme Herren am Nachbartisch, zwischen 50 und 60, zwei von ihnen mit einem „Studentenschmiss“ im Gesicht, unterhielten und rühmten sich „guter alter Zeiten“. Dabei wetteiferten sie in Latein, gefielen sich in gehobener Sprache und Zitaten, demonstrierten hohe akademische Bildung und ihren über alle Zeiten unbeschädigten „hohen Stand“! – Konservativ … oder reaktionär? – wie man bei uns so was nannte? Jedenfalls verlor sich dieses Bild nicht, es blieb in mir haften.
Im Laufe des Schuljahres 1954/55 entschieden wir uns, meine Frau und ich, nach „drüben zu gehen“, und wir wollten vordem schon darauf hinarbeiten. Ich begann, Bücher, die mir wichtig waren, nach dem Westen zu schicken. Hauptsächlich nach Hanau an Walter. Meine Frau begann notwendige Wäsche oder uns wichtige Utensilien zum Wegschicken oder Mitnehmen auszuwählen. Das alles natürlich sehr geheim und unauffällig. Es war dann so gut wie ausgemacht: In den Osterferien 1955 fahre ich nach Frankfurt und Hanau, und meine Frau kommt dann mit unserem einjährigen Sohn im Sommer nach.
In der Schule plagte mich das schlechte Gewissen. Wenn ich so Tag für Tag vor meinen Schülern stand, mich ihnen wie immer zuwendete und mich für sie verantwortlich fühlte, da schien mir mein heimlicher Plan fast wie ein „Verrat“. Ist es richtig, wenn du sie im Stich lässt? Ich hörte nicht auf, mich das zu fragen.
Inzwischen hatte man mich zum stellvertretenden Schulleiter gemacht. Unser bisheriger Schulleiter, ein tüchtiger Mann, war schwer krank geworden: Lungentuberkulose. Er musste sofort auf unbestimmte Zeit in die TBC-Heilstätte. Nun wurde der bisherige Stellvertreter zum Leiter der Schule ernannt, und das Kollegium sollte dem Schulrat einen Stellvertreter vorschlagen. Ich weiß nicht mehr – wie oder wieso, man kam auf mich. Die Lehrerkonferenz schlug mich als stellvertretenden Schulleiter vor, und ich wurde vom Schulrat bestätigt. Nicht dass ich mich darüber gefreut hätte, nein, war ich doch nie auf Karriere aus und wollte wirklich nichts anderes sein als ein vollwertiger Lehrer. Doch ich hatte dann zugesagt unter der Bedingung, dass man mich sofort von dem Posten als Parteisekretär entbinde.
Nun kam das Frühjahr. Mit meinem primitiven Fotoapparat schlich ich eines Nachmittags in der Schule umher und machte noch einmal Aufnahmen von der Aula, von Klassenräumen und von unserem Schulgebäude – mit wehmütigem Gefühl. Dann, zu Beginn der Osterferien, kam der Abschied von meiner Frau und unserem Sohn. Das tat weh, obwohl wir uns unserer Vereinigung im Sommer „drüben“ sicher waren …
Bei meinem Freund in Frankfurt angekommen, begann ich sogleich alles in Angriff zu nehmen. Zuerst fuhr ich nach Wiesbaden ins Kultusministerium, legte meinen Antrag und meine vorbereiteten Unterlagen vor und bat darum, mich nach entsprechender Prüfung in den hessischen Schuldienst einzugliedern. Man besah sich die Schriftstücke und natürlich auch mich, teilte mir sogleich (wie erwartet) mit, dass ich zuerst ein Flüchtlingslager durchlaufen müsse und danach, wenn alles geprüft sei, ich noch ein Zusatzstudium von zwei Semestern an der Pädagogischen Hochschule in Weilburg absolvieren müsse, bevor ich als Lehrer eingesetzt werden könne. Man war freundlich und bestimmt.
Eberhard versprach mir als Hilfe, mich nach dem Lageraufenthalt – in der Warte- und Übergangszeit – in der Fabrik eines schlesischen Strumpffabrikanten aus Hirschberg unterzubringen. „Ich hab’ schon mit ihm geredet, er hilft gern einem Landsmann und stellt dich ein – irgendwo in der Verwaltung!“
Also jetzt ab nach Gießen, in das dortige Flüchtlingslager. Mit dem Koffer in der Hand setzte ich mich in Frankfurt in den Zug und fuhr nach Gießen. Dort auf dem Bahnhof sagte man mir: „Das ist nicht weit, wenn Sie den Güterbahnhof entlang gehen, treffen sie am Ende bald auf das Flüchtlingslager. Es ist nicht zu übersehen.“
Und ich sah es schon von weitem, ein schmutzig-grünes Barackenlager. Oh je, wieder so ein altes Arbeitsdienstlager aus der Nazizeit. Zaghaft und eigentlich schon widerwillig näherte ich mich dem Schlagbaum. Daneben ein Wachhäuschen und darin der Pförtner. Durch das offene Fenster sprach er mich an. Als Flüchtling wolle ich mich melden und fragen, wie hier so alles vonstatten ginge. – Meinen Personalausweis verlangte er zu sehen, dann wies er auf ein Büro hin, gleich in der ersten Baracke. Ich zögerte, wollte Genaueres wissen: Wie lange das alles dauere im Lager und wann ich wohl von hier wieder heraus käme. Er sagte – es klang ungehalten – ich müsse mit einem Aufenthalt von einem Vierteljahr rechnen … in etwa! Manchmal ginge es ja schneller, manchmal länger, je nach dem, ob alles glatt gehe oder ob sich Probleme ergäben. Günstig wäre, wenn man schon eine Wohnunterkunft nachweisen könne, vielleicht bei Verwandten. – Und wie man im Lager untergebracht würde? Nun ja, wenn Einzelperson, dann meistens zu etwa 4 Personen in einem Zimmer, ganze Familien allerdings hätten ihren eigenen Raum für sich. Selbstverständlich seien da auch ordentliche Waschräume vorhanden, auch für Verpflegung und Essen sei gesorgt. –
Ich muss eine ganze Weile verharrt haben, ohne was zu sagen, tat auch wohl so, als überlegte ich. Da traten noch andere Leute heran, und ich ging zur Seite, froh, Zeit zu gewinnen. Mit bangen Blicken starrte ich nun auf die vor mir liegende Barackenwelt, die sich in meinen Gedanken plötzlich bildhaft verwandelte: Das Bild meines Liegnitzer Arbeitsdienstlagers von 1942 stieg vor mir auf, schon gleich das vom Barackenlager auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf von 1943, und dann blieb ich haften an einem noch schlimmeren Bild: Da sah ich vor mir die schrecklichen Läusebaracken unseres Gefangenenlagers von Stalingrad 1944/45. Es war wie ein Trauma, was mich überfiel, und ich schien wie gelähmt. – Aber das ist doch was anderes hier! – Ja, schon, aber ich kam nicht weg von diesen Bildern. Indem ich sie verdrängen wollte, kam mir Gotha in den Sinn: Ilse mit unserem einjährigen Eckehard zu Hause. Wie soll das alles werden, ich hier in diesem Lager „gefangen“ und allein,