Erhard Heckmann

Kreation Vollblut – das Rennpferd eroberte die Welt


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veröffentlichte Weatherbys das jeweils neueste General Stud Book aller vier Jahre. Im Band 19 formulierte das Vorwort etwa Folgendes: Für die Aufnahme im General Stud Book sind acht oder neun Kreuzungen reinen Blutes nötig, die wenigstens 100 Jahre zurückführen, und das einzutragende Pferd muss zusätzlich die Leistungsmerkmale der Rasse Thoroughbred (durchgezüchtet) zeigen.

      Im 19. Jahrhundert begannen auch Europäer, Australier, Japaner und Südamerikaner Vollblüter von der Insel einzuführen. Doch während die Franzosen, die 1817/1818 ihre Importe starteten, für den Sport in Frankreich noch Zeit brauchten, und der Französische Jockey Club erst 1830 gegründet wurde, hatten die Amerikaner schon vorher bessere Pferde nach Amerika geholt und schrieben 1745 in Maryland bereits Rennen für „pedigree horses in the English Style“ aus. Und diese Provinz war, zusammen mit Virginia, gleichzeitig auch das Zentrum der colonialen Vollblutzucht.

      Vor der Revolution waren besonders Messenger (1788), der die Flying Childers Hengstlinie vertrat, und Derbysieger Diomed (1777) wichtige US-Importe, wobei der 1788 in Philadelphia seine erste Decksaison absolvierende Messengers wenig Einfluss in der Vollblutzucht hinterließ, aber als einer der Gründerhengste der amerikanischen Traberzucht gilt. Anschließend steuerten die drei wichtigsten Beschäler der frühen Jahre erheblich zum Genpool des moderneren amerikanischen Vollblüters bei. In Prozent ausgedrückt waren das für Matchem etwa 5-6, für Herod 17 oder 18, und Eclipse war mit 11 bis 12 % beteiligt. Zu den späteren Hengsten, die das amerikanischen Vollblut ebenfalls erheblich beeinflussten, zählte auch Derbysieger Hermit (1864; Newminster), der in England/Irland von 1880 bis 1886 an der Spitze der Beschäler stand und fünfmal der beste Vater von Mutterstuten war, dessen direkte Hengstlinie aber ausstarb. Ein anderer, der kleine Hampton (1872; Lord Clifden), begann in Verkaufsrennen und startete auch über Hürden, bevor sein Stern in den großen Handicaps, Cup-Rennen und sieben Queen’s Plates aufging. Er zeugte drei Derbysieger, stand 1887 bei den Beschälern an der Spitze, und sein bester Sohn Bay Ronald setzte seine Hengstlinie fort, die mit The Darley Arabian begann und über den Riesen Eclipse führte. Galopin (1872; Vedette), gewann das Derby und acht von neun Starts, konnte lange und kurze Strecken gehen, wurde Vater von St. Simon und siebenfacher Championbeschäler, viermal davon bei den Vätern erfolgreicher Mütter. Isonomy (1875; Sterling) hätte das Derby wohl spielend gewonnen, doch zog sein Besitzer diesem möglichen 5.825 Pfund-Gewinn einen einzigen Start als Dreijähriger im Cambridgeshire vor, der ihm einen Wettgewinn von 40.000 Pfund sicherte. Als Vierjähriger galt es jedoch, seinen Wert als Beschäler zu steigern. In der Ascot Gold Vase schlug er den Derbysieger von 1877, Silvio; dann folgten Brighton Cup, Ebor Handicap, Manchester Autumn Cup unter 62 Kilo, während er im Ascot Gold Cup den hervorragenden Franzosen Verneuil und die erstklassige Janette schlug. Und diese Lord Cliften-Tochter hatte die Oaks, Yorkshire Oaks, St. Ledger, Champion Stakes und den Jockey Club Cup gewonnen. Im Gestüt zeugte er Isinglas, der Englands „Triple Crown“ gewann, und sein Sohn Gallinule wurde Vater der großen Pretty Polly. Auch Bend Or (1877; Doncaster), den der Duke of Westminster zog; St. Simon (1881; Galopin), der auf das Züchterkonto von Prince Batthyani ging und auf der Rennbahn die Farben des Duke of Portland trug, und Domino, der als Zweijähriger 1893 in Amerika alle neun Starts gewann und in seiner Heimat zu den schnellsten Pferden des 19. Jahrhunderts zählte, trugen mit ihren Genen ebenfalls erheblich zur Vervollkommnung des amerikanischen Vollblüters bei.

      Der Vorgänger des Amerikanischen Gestütsbuches von 1868 fand seinen Niederschlag in der Erstausgabe von 1873. Nach der Gründung des Jockey Clubs (1864) kaufte dieser auch die Rechte am Gestütsbuch, doch ging dessen „Entwicklung“ sehr langsam vor sich, weil amerikanische Pferde auch im Englischen Gestütsbuch registriert werden konnten. Als jedoch durch die amerikanischen Antiwettgesetze eine Schwemme von US-Pferden mit zweifelhafter Abstammung in England zu erwarten waren, zogen die Briten 1913 den entsprechenden Paragraphen im Band 22 ganz eng und wiesen darauf hin, dass nur Pferde eingetragen werden dürfen, deren Vorfahren auf beiden Seiten auf Pferde zurückführen, die bereits in früheren Ausgaben des Englischen General Stud Books registriert sind. Diese als „Jersey Act“ bekannte Aktion schloss damit auch zwei der einflussreichsten amerikanischen Beschäler aus, Man O’War (1917; Fair Play) und Whirlaway (1938; Blenheim). Dieser, der von 60 Rennen 32 gewann und 18 zweite und dritte Plätze belegte, gewann Amerikas „Triple Crown“, und Man O’War wurde in zwei Saisons bei 21 Starts nur einmal geschlagen, etablierte fünf Weltrekorde, gewann selbst mehr als 250.000 $, und seine Nachkommen brachten mehr als drei Millionen auf ihre Konten. Aber sie hatten Lexington in ihrem Pedigree.

      Für die Amerikaner war die Neufassung jenes Paragraphen somit eine Katastrophe, denn ihre Pedigrees waren noch viel zu jung, und ihr herausragender Beschäler, der 1850 geborene Lexington, der 16 Mal die Liste der Deckhengste anführte, stammte zwar von Englands erstem Derbysieger Diomed ab, hatte jedoch auf seiner mütterlichen Seite „ein Loch“, eine unbekannte Stute im Stammbaum, und somit war auch er, wie seine Nachkommen, nach der Neuformulierung ein Halbblut. Als Durbar II 1914 das Derby gewann, war er nicht nur das erste französische Pferd seit Gladiateur, der das 1865 schon konnte und die Engländer schockierte, sondern seine mütterliche Urgroßmutter stammte auch noch von Lexington. Durbar gehörte zwar zu einer der besten Familien Amerikas, doch zum Zeitpunkt seines Sieges wäre er für das Englische Gestütsbuch durch dessen neuen Paragraphen nicht qualifiziert gewesen. 1949 wurde dieser revidiert und wieder auf die frühere Version beschränkt, sodass auch die vielen französischen, amerikanischen und italienischen Sieger nach dem Zweiten Weltkrieg in England „rechtens waren“. Beseitigt wurde dabei auch das Problem, das nun auch sehr zeitige Importe in das englische Gestütsbuch eingetragen werden konnten, die vor der letzten Korrigierung der Voraussetzungen ausgeschlossen waren.

      Von diesen als Halbblüter eingestuften Pferden, die nicht in das General Stud Book Einlass fanden, weil in der geforderten Ahnenreihe „ein Loch“ war, gehörte auch die Stute Lavant aus der „Verdict-Familie“, die eine Urenkelin der Verdict war. 1970, im Band 36, konnte Lavant mit ihren Produkten dennoch aufgenommen werden, denn diese Linie hatte bewiesen, was im korrigierten Paragraphen zusätzlich gefordert war, dass sie inzwischen der Definition und den Leistungen eines Vollblüters entsprach. 1965 und 1968 gehörten Lavants Söhne Lucasland und So Blessed, der ein Jahr früher schon der schnellste Zweijährige in England war, zu den absoluten Top-Sprintern. Lavant war, wie ihre Mutter Firle, selbst Siegerin, und die Großmutter Versicle zählte zu ihren acht Erfolgen sogar den Coronation Cup. Und Verdict, nach der diese Familie benannt ist, brachte die Linie bereits mit Quashed (Oaks und Ascot Gold Cup) und Thankerton (Dritter in den 2000 Guineas und im Derby) in Gang. Die eine dubiose Stute in Lavants direkter Mutterlinie war eine etwa 1837 geborene Tochter von Perion (2. im Derby 1832) der von Derbysieger Whisker stammte; die andere kam über Verdict’s Vater Shogun ins Spiel, der vom General Stud Book ausgeschlossen war, weil seine 7. Mutter, die von Rosedon stammende, etwa 1812 geborene Rosedon Mare, auf der mütterlichen Seite keine identifizierbaren Vorfahren besaß. Lavant selbst konnte in ihrer Stutenlinie zwar zehn Vollblutkreuzungen nachweisen, und nur die entfernteste, die zehnte war dubios, weil die von Perion gedeckte Stute unbekannter Abstammung war. Rein theoretisch spielte das aber keine Rolle, denn die ersten sieben Kreuzungen waren schon automatisch hinfällig, da der Vater von Verdict, Shogun, die Sequenz dadurch unterbrochen hatte, weil seine siebte Mutter, Rosedon Mare“ aus einer unbekannte Stute stammte, und ihm damit den Eintrag ins General Stud Book nicht gewährte. Somit waren die verlangten zehn Vollblutkreuzungen der Mutterseite nicht gegeben, und Lavant galt als Halbblüterin. Erst als sie bewiesen hatte, dass die Leistungen ihrer Nachkommen denen eines Vollblüters entsprachen, war der Eintrag nach der Neufassung des Paragraphen möglich.

      Das erste „wirkliche Rennpferd“ in der Geschichte der neuen Rasse war der 1715 in England von Darley Arabian gezogene Hengst Flying Childers, dessen Vorfahren ausschließlich „aus dem Osten“ kamen. Er war das beste Pferd seiner Zeit und soll die Meile in einer legendären Minute gelaufen sein. Auf der Mutterseite ist er das Produkt von Inzuchttheorien und somit ein Triumph neuer Erkenntnisse in der Tierzucht. Über seine Rennen ist wenig aufgezeichnet, doch gewann er auch ein Match über 9.600 Meter. Ein wesentlich besserer Maßstab seiner damaligen Größe stammt jedoch aus dem April 1722, als er den hervorragenden Fox (1714; 11 Siege;) schlug, der drei King’s Plates, ein Ladie’s Plate und mehrere Match-Rennen gewann, unter denen sich auch eins um 2.000 Guineas befunden haben soll. In jenem Match soll Flying Childers mindestens sechs Kilo mehr im Sattel