Es wird Oberlehrer Clauß nicht leicht gefallen sein, bei der Begrüßung der Festversammlung das Telegramm Paul Guenthers „… bedaure unendlich meine Abwesenheit …“ verlesen zu müssen. Dringende geschäftliche Gründe erlaubten keine lange Reise nach Deutschland. Nun musste Clauß auch die laut Programm dem Schulstifter zugeschriebenen Parts stellvertretend übernehmen.
Drei Jahre nach der Schulweihe ist es wieder Tochter Margarethe, inzwischen Frau Margarethe Osgood, die Geithain am 18. Oktober 1928 einen Besuch abstattet und die Ehrungen der Stadt für den Schulstifter entgegennimmt. Über den Ablauf des Besuchstages existiert ein anschaulicher Bericht (33):
„Unsere Paul-Guenther-Schule prangte am Donnerstag im Flaggenschmuck anlässlich des Besuches der Tochter des Schulstifters aus Amerika. Um 11 Uhr fand die Begrüßung von Frau Margarethe Osgood, die von Herrn Oberlehrer Clauß aus Chemnitz, dessen Gemahlin und Schwester begleitet war, im Amtszimmer des Schulleiters statt, wobei Herr Direktor Petermann erwähnte, dass fast 400 Mütter aus Geithain und Umgebung ihre Kinder täglich in diese schöne Schule schickten, in dem Bewusstsein, dass sie in solchen Räumlichkeiten gut aufgehoben seien und dass die Stadt diese herrliche Stiftung der Großherzigkeit ihres Vaters zu verdanken habe. Anschließend erfolgte eine Vorstellung des Lehrerkollegiums im Lehrerzimmer. Ins Gästebuch trug hier Frau Osgood ein: ‚Zur freundlichen Erinnerung an meinen Besuch in der Paul-Guenther-Schule. Ich bin stolz darauf, was mein guter Vater hier geschaffen hat.‘ Alsdann wurden dem Besuch im Festsaal die Kinder vorgestellt. Die Klassenerste der Konfirmandinnen, Ilse Meinel, überreichte dabei einen Blumenstrauß, worauf Herr Kantor Andreas mit seinem Schulchor einige Heimatlieder bot. Nachdem sich Frau Osgood bei den Kindern bedankt hatte, trat sie einen Rundgang durch das Schulhaus an. Besonderes Interesse widmete sie hierbei dem Handarbeitssaal, dem Gesangszimmer und dem Bad. In der Berufsschule besichtigte sie die Schulküche und den Speisesaal und kostete vergnügt von dem Gebäck, das Frau Roppenecker mit ihren Kochschülerinnen in aller Eile, aber wohl gelungen, hergestellt hatte. Nach beendigtem Rundgang erfolgte eine fotografische Aufnahme vor dem Eingang des Schulgebäudes.
Nachmittags vier Uhr trug Konzertsängerin Susanne Petermann in schöner Vollendung den Weihegesang ‚Halleluja‘ von Hummel vor, der zur Schulweihe dargeboten worden ist. Auf allseitigen Wunsch sang sie noch das Lied ‚Der Vogel im Walde‘ von W. Taubert mit Koloraturen, auf dem Flügel begleitet von Herrn Oberlehrer Clauß.
Gegen 6 Uhr stellten sich die Kinder vor der Schule zu einem Lampionumzuge, der unter Klängen einer Musikkapelle (Musikvereinigung Geithain) seinen Weg durch die Eisenbahn- und Bahnhofstraße auf den Markt nahm. Hier hielt Herr Schuldirektor Petermann an Frau Osgood, die auf dem beleuchteten Eckbalkon des Hotels ‚Stadt Altenburg‘ stand, folgende Ansprache:
‚Hochgeehrte gnädige Frau! Die Jugend Geithains huldigt Ihnen. All die brennenden Lichter sind Flammen der Dankbarkeit und Verehrung für das Haus Guenther. Herr Guenther hat uns in seiner Heimatliebe und Herzensgüte das herrliche Schulhaus geschenkt, das wir täglich mit immer neuer Freude betreten. Möge es dem Hause Guenther wohl ergehen! Es lebe hoch!‘
Die Lampions bildeten auf dem Marktplatz ein reizvolles Bild. Am Schluss brachten die Kinder ein dreifaches Hoch auf das Haus Guenther aus, worauf sich der Zug auflöste. Unsere Schuljugend aber wird noch lange von dem ereignisvollen Tag erzählen. Abends halb 10 Uhr fuhr Frau Osgood nach Chemnitz zurück, nachdem sie sich wiederholt über ihren Aufenthalt in Geithain sehr befriedigt ausgesprochen hatte. Sie ist gewillt, im nächsten Jahre mit ihrem Vater Geithain zu besuchen. Die Dame wird sich in einigen Tagen nach Berlin begeben und Anfang November zu ihrem Gatten nach Amerika zurückreisen.“
Der im Bericht angekündigte Besuch Paul Guenthers in Geithain erfolgte tatsächlich ein Jahr später, am 19. September 1929, abermals ein Donnerstag. (6) Nach einem Kuraufenthalt in Deutschland kam er nach Chemnitz und Geithain. Dem Besuch in der Schule schloss sich eine Kutschfahrt durch die Stadt in Begleitung des Bürgermeisters Dr. Rudolf Focke und des Schulleiters Petermann an. „Mit besonderer Rührung las der Auswanderer in den alten Kirchenregistern von seiner Geburt und Konfirmation. Ein eindrucksvolles Ende fand der unvergessliche Tag mit einem gewaltigen Fackelzug von 600 Schulkindern.“ (15) Eine Reihe älterer Geithainer (Werner Pechstein, Elsbeth Ladegast, Frau Rademann, Manfred Wermann u. a.) erinnerten sich in Gesprächen um 1995 an die Rede des Schulstifters vom Balkon des Hotels „Stadt Altenburg“. Dass sowohl die Tochter Margarethe 1928 als auch Paul Guenther ein Jahr später den Besuch in Geithain mit einem Besuch der Verwandten und Bekannten in der Chemnitzer Gegend verbanden, ist sehr verständlich. Hier war von 1878 bis 1890 sein Lebensmittelpunkt.
Bild 29: Gedenktafel am Geburtshaus Paul Guenthers in Geithain
1.10 Nachhaltige Beziehungen zu Thalheim
Ehemalige Thalheimer, die schon mindestens seit den 1870er Jahren in Dover lebten, gaben Impulse für Guenthers Entschluss auszuwandern (s. S. 24). Er selbst und insbesondere seine erfolgreiche Entwicklung nach 1890 waren nun ihrerseits eine Ursache für die beeindruckende Auswanderungsdynamik im Dorf Thalheim bei Chemnitz. In der Zeit von 1908 bis 1928 wanderten 289 Thalheimer in die USA aus! Fast alle siedelten sich in Dover/N.J. an und fanden sofort Arbeit in Guenthers Full Fashioned Silk Hosiery. In Zusammenarbeit mit Heimatforscher Rudi Hofmann liegen von allen 289 Personen die Vor- und Zunamen, der Geburtstag und das Jahr der Auswanderung vor. Nach Zeitabschnitten gegliedert ergibt sich folgende Aufstellung:
Zeitintervall | Anzahl |
1908–1910 | 19 |
1911–1915 | 91 |
1916–1920 | 44 |
1921–1925 | 90 |
1926–1928 | 45 |
In der Altersverteilung und an den Namen selbst ist erkennbar, dass sich Familien mit vielen Kindern auf den Weg gemacht hatten. Auch während des Krieges wanderten Leute aus. Im schlimmen „Kohlrübenwinter“ 1916 verließen 38 Thalheimer Deutschland. Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges gab es nur Einzelne, aber ab 1921 stieg die Zahl rasant. Die wenigen älteren Thalheimer (65 Jahre und älter) zogen als Großeltern zu ihren Enkeln, welche Jahre vorher Fuß gefasst hatten. Die Besuche in Dover 1990 bzw. 1996 brachten zwar erste Hinweise auf den Herkunftsort Thalheim, das wirkliche Ausmaß wurde jedoch erst durch Herrn Hofmanns Nachforschungen Ende der 1990er Jahre deutlich. Bei Gesprächen in Dover wurde oft betont, dass Auswanderer aus Thalheim auf Veranlassung Guenthers bei ihrer Ankunft in New York sofort nach Dover weiterreisen konnten, ohne Zwangsaufenthalt auf Ellis Island. Die Insel war lange Zeit Sitz der Einreisebehörde für den Staat und die Stadt New York und mehr als 30 Jahre lang die zentrale Sammelstelle für Immigranten in die USA. Zwischen 1892 und 1954 durchliefen etwa 12 Millionen Einwanderer die Insel. (www.wikipedia.de, 12.03.2016)
Die Familie Hahn wurde oben (s. S. 28) bereits erwähnt. Sehr interessant war 1996 die Begegnung mit dem Ehepaar Grießbach.
Bild 30: Das Ehepaar Grießbach, links Frau Ulla Wienhöfer-Shuler, Lehrerin an der Dover High School, Aufnahme 1996
Walter Grießbach wurde 1907 in Thalheim geboren. Sein Vater wanderte 1911 nach Amerika aus, doch gefiel es ihm dort nicht, weshalb er bereits 1914 nach Deutschland zurückkehrte. Bei Kriegsbeginn