zweite «Frechheit» hatte Eggebrecht wohl mit zu viel Kraft herausgeschleudert. Dutzende Augen schauten zu ihm, zu Katzmann … Die Blicke stellten Fragen, forderten Antworten - mit dem Selbstverständnis von Gläubigern, die einen überfälligen Anspruch auf viel Geld erheben. Selbst die Rauchschwaden von den Selbstgedrehten schienen in der Luft stehenzubleiben …
«Es ist nichts passiert, Leute! Wir reden über die LVZ .» Heinz Eggebrecht winkte mit dem Extrablatt.
Das Gemurmel kehrte in die Kneipe zurück, Wortfetzen ragten aus dem Gebrumm: «Scheißregierung in Dresden…», «Verräter…», «Alle erschießen!»
«O Mann, hier herrscht ja eine Stimmung.» Katzmann kratzte sich an der Stirn.
«Streiks, Versammlungen, Schießereien… Ein Funke, und hier brennt tatsächlich die Luft.»
«Und da wollen die gerade mich hier haben - einen Dresdner, einen Gemäßigten? Das macht mir Sorgen.»
«Ach was, Sie sind ein Unabhängiger. Das reicht denen. Die schicken mich zu Ihnen. Mich, den der Kuckuck ins Nest gelegt hat. Ich glaube, die wollen einfach ihre besten Leute hier haben. Es braut sich was zusammen.» Heinz Eggebrecht schaute sich im Raum um. Die Männer tranken wieder, als hätten sie nie etwas anders getan. Vermutlich war die Situation in Leipzig deshalb so brisant, weil diese Normalität von einem Moment zum nächsten platzen konnte wie ein explodierender Zeppelin.
«Und welcher Kuckuck hat Sie zur LVZ gebracht?»
«Das ist eine lange Geschichte.»
«Na, dann erzählen Sie am besten die Kurzform.» Katzmann grinste, trank und schwenkte dann sein Bier wie zur Aufforderung.
«Also gut. Ich war beim Photographen Schulze in der Lehre. Anderthalb Jahre, bis zum Krieg. Dann kam ich zur Truppe. Und als ich 1918 nach Leipzig zurückkam, war Schulze pleite und konnte mich nicht weiter beschäftigen. Keine gute Zeit für Photographen. Tote Soldaten heiraten nicht, und große Familienfeiern wurden auch seltener. Schulze war ein Unabhängiger der ersten Stunde, und so haben die Genossen mich bei der LVZ genommen. Und nun darf ich Anzeigen lithographieren. Für einen Lehrlingslohn. Mit über zwanzig. Das ist die Kurzfassung.»
Katzmann lachte, nickte und trank. Dann setzte er das Bier ab und sagte: «Da sind Sie ja ein richtiger Glückspilz! Und ich habe einen erwachsenen Mitstreiter. Fein. Ich bin damals um den Krieg herumgekommen …»
«Wie denn das?»
«Ausgemustert. Die Lunge. Asthma nennt der Arzt die Krankheit. Eigentlich soll ich auch nicht rauchen.»
«Na dann …» Heinz Eggebrecht blickte auf den Aschenbecher in der Mitte des Tisches und den Hügel ausgedrückter Zigaretten darin.
Katzmann richtete seinen Rücken auf, als wolle er eine Rede halten, und streckte die rechte Hand über den Tisch. «Ich heiße übrigens Konrad.»
ZWEI
Samstag, 14. Februar 1920
DER SCHWARZE zog das Messer aus dem Gürtel und beugte sich über Preßburgs Leiche. Er zog den Kopf an den Haaren vom Körper weg, setzte die Klinge an, schnitt. Das Messer fuhr durch die graue Haut, durch das Fleisch, durch den Kehlkopf, als würde es Gelee zerteilen. Erst an der Wirbelsäule blieb der Stahl stecken. Der Schwarze sägte, zerrte, drehte den Kopf und bekam ihn schließlich vom Körper los. Er hielt ihn in die Höhe wie eine Trophäe. Kein Blut. Nur eine Kruste am Schnitt. Aus dem Kopf starrten tote Augen gen Decke.
Der Schwarze wandte die dunklen Augen zum Fenster. Er schritt durch den Raum, vorbei an den dicken Ordnern mit den Vertragssachen der Jahre 1900 bis 1913, passierte die schmalen Hefter der Jahre 1914 bis 1917 und erreichte das Fenster. Die Flügel klangen beim Öffnen wie die Holztür eines Hexenhauses.
Der Schwarze schwang sich in die Luft, flog los, Preßburgs Kopf an der ausgestreckten Hand vornweg.
Am Boden rauschte der Karl-Heine-Kanal durch das Dämmerlicht. Die Plagwitzer Klinkerbauten sahen aus wie die Zitadellenanlage eines Raubrittergeschlechts. Nebel schmeichelte sich um Schornsteine und um die Lastkraftwagen auf den Höfen, die an schlafende Ungeheuer erinnerten. Der Wind pfiff ein krankes Lied.
Die Häuser bekamen prächtigere Fassaden: Ornamente, Figuren auf Fenstersimsen und über Toreinfahrten, Erker. Schleußig. Dann der Park.
Über den Wipfeln der ersten Bäume warf der Schwarze den Kopf nach oben. Als der Schädel wieder fiel, trat er mit voller Kraft gegen ihn und schoss ihn Richtung Scheibenholz.
Kein Mensch spazierte durch den Park an diesem Morgen. Keiner sah, wie der Kopf auf die Wiese neben der Pferderennbahn plumpste, über das taufrische Gras kullerte. Als der Kopf zum Liegen gekommen war, nahm der Schwarze Anlauf zum nächsten Volleyschuss.
Der Kopf flog in hohem Bogen über den Zaun der Rennbahn, landete vor der Haupttribüne.
Der Schwarze machte einen Satz, mit einem Sprung landete auch er im Rund des Scheibenholzes, wandte sich zur Tribüne. Unter den beiden Türmen des massiven Steinkolosses saßen Skelette. Tausende. Sie klapperten Beifall. Es klang, als würde eine Ladung Besenstiele von einem Laster fallen.
Nach einer Verbeugung nahm der Schwarze den Kopf auf und hielt ihn in die Höhe. Aus seinem Mantel holte er Kürbismasken. Die Fratzen grinsten wie breitgezerrte Wölfe in einem Hohlspiegel.
Der Schwarze jonglierte. Der Applaus toste lauter. Die ersten Gerippe standen von ihren Sitzen auf, klapperten mit allen Knochen.
Nach ein paar Runden schoss der Schwarze die Kürbisse nacheinander gen Tribüne, wo sie an den Säulen der Restaurantanlage im Erdgeschoss zerbarsten. Die Menge tobte. Die Skelette sprangen, fielen sich in die Arme - ein paar Gebeine flogen in die Luft.
Der Schwarze verbeugte sich tief, winkte seinen Zuschauern zu, wandte sich dem linken Flügel der Tribüne zu, der Mitte, der rechten Seite. Noch einmal beugte er sich mit dem Kopf fast bis zum Boden. Dann streckte er Preßburgs Kopf abermals in die Höhe und schwang sich zum Himmel hinauf. Flog zurück über den Park, über Schleußig hinweg, nach Plagwitz. Rasend schnell.
Das Licht blieb diffus, die Sonne schien die Dämmerung nicht beenden zu können - ganz, als sei die Zeit stehengeblieben.
Der Schwarze erreichte die Weißenfelser Straße, stoppte seinen Flug vor einer der schmucklosen Mietskasernen. Er blickte durch das Fenster im dritten Stockwerk auf das schlafende Mädchen.
Sie hatte die Daunendecke bis über ihr Kinn gezogen, wie ein Schild, das sie vor der Unbill der Welt schützen sollte. Der Schwarze kniete sich auf den Fenstersims, legte Preßburgs Kopf neben sich ab, presste die linke Hand auf die Scheibe. An seiner rechten wuchs ein Nagel aus dem Zeigefinger, scharf wie eine frischgeschliffene Klinge. Er zog mit dem Fingernagel einen Kreis - so groß wie ein Küchentablett - um die linke Hand.
Das Glas klebte an der Linken, als er es vorsichtig aus der Fensterscheibe löste. Mit einem Schwung schleuderte der Schwarze das Glas gen Himmel - es flatterte im Flug und erinnerte dabei an einen Hut, den ein feiner Herr auf einen Garderobenständer wirft. In hohem Bogen pfiff das Glas über das Haus gegenüber und verschwand.
Der Schwarze nahm den Kopf auf und schwebte durch das Loch, näherte sich dem Bett des Mädchens, legte Preßburgs Kopf auf das Kissen.
Liesbeth Weymann schrie, so laut sie konnte. Mit einem Ruck schoss sie in ihrem Bett hoch. Die Decke flog zum Fußende.
Sie riss die Augen auf. Stille. Kein Schwarzer da. Sie blickte über ihre Schultern auf das Kopfkissen. Kein Kopf. Das Fenster unversehrt.
Auf ihrer Stirn rann der Schweiß, verwandelte Haare und Augenbrauen in feuchtes Gewebe. Das Herz raste, die Schläge unter der Haut klangen wie ein Pochen an der Tür.
Es pochte an der Tür.
Liesbeth Weymann griff nach der Decke, zog sie über das Nachthemd.
Poch, Poch!
Sie sah, wie sich die Klinke bewegte, die Tür geöffnet wurde.
«Mama!»