darüber hing ein Ölbild mit einer Heidelandschaft. Eine Kommode mit einem Fernsehgerät vervollständigten die Einrichtung. Gleich links neben der Türe war ein hellgrüner Kachelofen, der von der Größe her wunderbar in die Stube passte und mollige Wärme im Winter versprach. So schön war es bei uns Zuhause nicht – war meine sofortige Feststellung. Fernsehapparate waren 1962 in den Haushalten noch sehr selten. Und seine Eltern besaßen einen! Das machte mir bewusst, dass wir in Friedrichroda doch relativ arm eingerichtet waren.
Doch diese Feststellung wurde bald weggewischt, als seine Mutti sagte: „Kommen Sie, setzen Sie sich!“
Kuchen und Kaffee schmeckten wunderbar. Noch während der Kaffeezeit fragten seine Eltern interessiert und für meine Begriffe etwas neugierig: „Als was arbeiten Ihre Eltern?“ Da musste ich das erste Mal erkennen, dass ich einem Vergleich mit anderen und besonders mit seinen Eltern nicht standhalten konnte. „Mein Papa“, so fing ich vorsichtig an, „ist 1950 als Kriegsinvalide aus sowjetischer Gefangenschaft gekommen und bekommt seit dieser Zeit eine kleine Rente. Meine Mutti war früher Hilfsschwester, kann aber jetzt nicht mehr arbeiten, weil sie es gesundheitlich nicht mehr schafft, bekommt aber keine Rente (weil ihr, so habe ich später erfahren, ein Drittel Prozent an der erforderlichen Zahl für die Invalidität fehlten. Sie war durch den Krieg bedingt mit den Nerven völlig am Ende, hatte aber weniger organische Krankheiten.) Darum habe ich mir mit meiner Schwester hier in Gotha ein möbliertes Zimmer gemietet, wir versorgen uns selbst und geben Zuhause noch etwas Geld ab, damit Mutti und Papa sich versorgen können.“
„Wenn Ihre Mutti kriegsbedingt so krank ist – woher kommen Sie denn?“
„Meine Eltern, Großeltern und alle Verwandten wohnten in Königsberg. Wir sind Weihnachten 1947 als Flüchtlinge nach Friedrichroda gekommen, weil dort eine Schwester meiner Mutti bereits vor dem Krieg geheiratet hatte und wir die Adresse im Lager angeben konnten.“
„Ja, ja, der Krieg, der hat viel Unheil gebracht. Unser Vati hat auch immer noch einen Splitter im Kopf und hat auch mit seinem Magen durch die Gefangenschaft viele Probleme“, war die einfühlsame Antwort von Gerds Mutti.
Doch Gerd horchte auf . „Wo bist du geboren?“ Der Tonfall seiner Frage war gleichzusetzen mit „Kommst du vom Mond?“ Einen Ortsnamen wie Königsberg hatte er noch nie gehört. Und zum anderen: Was sollte denn das! Wir leben ja schließlich in der DDR, da brauchen wir keine Könige und Kaiser mehr! Also musste ich auch aus einer Welt kommen, die lange vor dem Krieg existiert hatte und ich musste noch so ein Überbleibsel sein. Auf alle Fälle lag das Königsberg nicht in der engeren Umgebung, das hatte er bereits richtig vermutet.
Und so versuchte ich es ihm klarzumachen, dass Königsberg in Ostpreußen lag. „Wo liegt nun wieder Ostpreußen? So ein Land habe ich in Erdkunde nicht kennengelernt.“
„Ostpreußen war der nordöstlichste Teil Deutschlands vor dem Krieg. Du kennst doch die Ostsee in der Darstellung einer betenden Jungfrau? Da, wo sie kniet, lag Ostpreußen mit der Stadt Königsberg“, versuchte ich ihm zu erklären, er sah mich aber nur ungläubig an. Meine Ergänzung: „Heute heißt die Stadt aber Kaliningrad und liegt in der jetzigen Sowjetunion“, brachte ihm auch keine eindeutige Klarheit in seiner Vorstellung. Für ihn war ich auf alle Fälle irgendwo weit weg geboren worden – es musste furchtbar weit weg sein, wenn es jetzt Sowjetunion war, denn dazwischen lag ja auf alle Fälle auch noch Polen.
Für seine Eltern war Königsberg aber keine so unbekannte Größe. Sie redeten auf ihn ein und versuchten es mit ihren Vorstellungen zu erklären. Zuletzt holte Gerd noch einen Atlas hervor und ich zeigte ihm auf der Karte, wo diese Stadt gelegen hatte.
Das Gespräch hatte auf einmal eine interessante Wendung für alle Beteiligten genommen. Noch nie zuvor hatte ich irgendwo etwas über meinen Geburtsort aussagen müssen und wahrscheinlich hatte Gerd noch nie Kontakt mit einem Menschen gehabt, der so weit weg seinen Geburtsort hatte.
Und so fand ich die Fragen gar nicht mehr so schrecklich, die sich zwangsläufig anschließen mussten: „Wie alt waren Sie denn, als Sie in Friedrichroda ankamen? Wie haben Sie denn noch nach dem Krieg dort oben gelebt?“ Ich ahnte, dass damit viele Informationen verbunden waren, die seine Eltern – nicht aus Neugier, sondern aus Interesse an mir – von mir haben wollten.
„Ich bin im September 1940 geboren und war demnach, als wir aus Königsberg umgesiedelt wurden, 7 Jahre alt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch keine Schule besucht und war total unterernährt. Wir hatten dort viele Krankheiten und haben versucht, uns mit Betteln und Arbeiten in Litauen über Wasser zu halten.
Sehr viele Menschen sind noch nach dem Krieg gestorben, aber wie Sie sehen können, wir leben noch. Meine eigentliche Kindheit fing dann auch erst in Friedrichroda an, so dass ich auf die Frage, wo haben Sie denn Ihre Kindheit verlebt? sagen kann, in Friedrichroda in Thüringen“.
Selbstverständlich blieb es nicht aus, dass auch vom Krieg erzählt wurde, wie er in Gotha erlebt wurde. Auch hier hatte man Angst vor den Bomben, auch hier wurde gehungert. So konnte Gerd als Baby nur in allerletzter Minute noch von seiner Schwester aus seinem Bettchen genommen und in den Luftschutzkeller gebracht werden, als dann sofort danach die Bombe in unmittelbarer Nähe im Nachbarhaus einschlug und damit sein Leben gerettet werden konnte.
Doch resolut, wie die Mutter von Gerd war, beendete sie dann das traurige Thema, um auf die schöneren Seiten des Lebens zu kommen. Und so unterhielten wir uns über Handarbeiten, Lesen, Essen, Feiern und eben über alles, was man so allgemein erzählen kann, wenn man sich kennenlernt.
Es war schon Zeit für das Abendessen und ich verabschiedete mich mit dem Gefühl, dass Gerds Eltern nette Menschen sind, die ich auch gerne haben könnte. Gerd brachte mich natürlich noch bis zu meiner „Bude“, wo Dorchen schon mit dem Abendessen auf mich wartete. Neugierig fragten ihre Augen: „Na, wie war es?“ Eigentlich konnte ich gar nicht viel erzählen, denn es waren ja nur allgemeine und bekannte Themen gewesen.
Und trotzdem war meine Information: „Das sind nette Leute, die kann man richtig gern haben. Ich habe den Eindruck, dass sie mich auch mögen.“
Am nächsten Tag holte mich Gerd wieder von der Arbeit ab. Allmählich hatte ich auch ein schlechtes Gewissen, denn dadurch blieb ihm ja nicht viel Zeit zum Lernen. Aber er war der Meinung, dass er mir unbedingt etwas mitteilen müsse. Er hatte nämlich im Institut in der Bibliothek im „Meyers Neues Lexikon“, Ausgabe 1962, über meinen Geburtsort nachgelesen: Ein Königsberg war nicht drin, sondern nur der Ort Kaliningrad mit folgenden Informationen: Bis 1946 Königsberg. 15.100 qkm, … 1961 664.000 Einwohner … an der Mündung der Pregolja (Pregel) in der Ka.-bucht (Frisches Haff an der Ostsee), durch Seekanal mit Vorhafen Baltisk verbunden.
Er steckte sein Zettelchen mit diesen Notizen in die Hosentasche und zeigte sich immer noch etwas enttäuscht – war das doch so ein schöner Name einer Stadt und es stand so wenig im Lexikon. An seiner Reaktion merkte ich, dass er ganz andere Informationen erhofft hatte. Aber ich konnte ihm auch keine geben. Jedoch allein dadurch, dass er im Lexikon nachgelesen hatte, wurde mir bewusst, dass ihn alles, was um mich herum war, interessierte. Oder betrachtete er mich als eine Art Exot, weil ich nun einmal nicht in der jetzigen DDR geboren war? Es gab doch hier viele Umsiedler, das hätte ihn doch gar nicht so tief bewegen dürfen. Oder war es die Situation, dass er – wohl behütet – auch jünger an Jahren, den Krieg nie bewusst erlebt hatte? Betrachtete er mich als Beispiel einer lebendigen Geschichte?
Aber eigentlich waren diese Fragen gar nicht so wichtig. Viel wichtiger war, dass wir uns gern hatten und uns äußerst gut verstanden.
Nur eine Tatsache hatte ich ihm bisher verschwiegen: meine Eltern waren tief gläubig und hatten uns auch in diesem Sinne erzogen. Mutti mahnte uns immer an, nur mit einem Partner eine Verbindung zu planen, der auch gläubig war – sonst liege kein Segen darauf. Bisher hatte ich dieses Thema der kirchlichen Erziehung nie angesprochen und Gerd war auf diese