Nina Pourlak

Wir können machen, was wir wollen


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miese Zahnlückenmonster mit Selbstmordtendenzen. Und ich bremse noch und berühre ihn wirklich nur ganz leicht, als ich mit Absicht und bloß, um ihn zu retten, vollkommen todesmutig seitlich zu Boden gehe und mich abrolle – exakt wie im Judounterricht vor 22 Jahren gelernt. Pff. Als ob das hier irgendjemand zu schätzen wüsste: Der Junge fängt unpassenderweise an, wie wild herumzuschreien, als wäre er hier das Opfer, dieser elende Simulant, und eine Traube besorgter und mitleidiger Supermütter bildet sich um ihn herum. Hallo – wer kümmert sich um mich? Ich kriege nur böse Blicke, oder was? Wenigstens ist kein Kind aus meiner Gruppe dabei, das hätte mir grade noch gefehlt. Dann hätte ich mir morgen auf der Arbeit vielleicht was anhören können.

      Das ist sonntags immer so toll, wenn ich hier entlanggehe und mir dann gleich der halbe Kindergarten um den Hals fällt und mich mit Eis beschmiert.

      Ich will mich also aufrappeln und ganz schnell verschwinden, schiebe nur noch die schiefe Lampe am Rad zurecht, als dieser Typ mich auch noch am Arm festhält. Na, o. k., eigentlich will er mir vielleicht auch hoch helfen, aber trotzdem. Was bildet der sich denn bitte schön ein? So einer mit pseudohippem Bart und bunten Turnschuhen. So einer mit iPhone auf dem Tisch, der bestimmt schon per Facebook an alle seine Freunde durchgegeben hat: Huhu, ich bin jetzt grade im Eiscafé. Und dann noch das Eis fotografiert. Da steh ich ja vielleicht drauf. Ich meine, wozu bin ich bitte aus Mitte weggezogen?

      „Ey, du kannst ruhig mal Entschuldigung sagen“, meint der dann, als ich meine Hand wegziehe. Ich? Entschuldigung? Wofür? Ich guck ihn herausfordernd an. „Geh mal lieber einen Tee trinken und mach noch ’n bisschen Geburtsvorbereitungsgymnastik mit Mami oder so was“, blaffe ich und schiebe mein Fahrrad wutschnaubend zwei, drei Häuser weiter.

      Ich weiß, ein paar Leute könnten jetzt einwenden, es wäre gar nicht so schlimm, da drüben im Eiscafé, das wären alles total liebe Menschen, eigentlich, und es läge ja wahrscheinlich alles bloß daran, dass ich schon zu lange allein bin und dass meine biologische Uhr tickt und dass ich insgeheim einen großen Wunsch nach Mutterschaft mit mir herumtrage. Und deswegen machen mich all diese Fruchtbarkeitsgöttinnen, die ihre abgeschlossene Familienplanung vor sich hertragen wie einen Lebensberechtigungsschein, auch so aggressiv. Aber nein. Nein. Nein. Nein. So ist es nicht, ihr Hobby-Psychologen:

      Ich weiß bloß zufällig, wie all diese Geschichten weitergehen, dieser ganze verblendete Familienwahnsinn. Ich weiß, wo das endet. Ich sehe das ja schließlich jeden Tag auf der Arbeit: ausgemergelte, vollgekleckerte Alleinerziehende, die sich müde durchs Leben kämpfen. Wochenendpapis, die krampfhaft versuchen, sich irgendwie einzubringen.

      Patchworkfamilien, die schon gar nicht mehr wissen, wer hier eigentlich genau zu wem gehört.

      Das ist nicht witzig und bunt, das ist mein Albtraum. Und genau deswegen will ich lieber allein sein. Und erst recht kein Kind in diese durchgedrehte Welt setzen. Und sonst will ich auch nicht viel. Außer vielleicht umziehen! Weit weg vom Eiscafé.

      So sieht’s aus.

      Tobi, 24

      Sie hat mir einfach nicht richtig zugehört, sie hat nicht drauf geachtet, was ich genau gesagt habe – das ist typisch Minka! Ich hatte gesagt, ICH will nach Berlin ziehen, ICH, okay … Ich habe überhaupt nicht gesagt: WIR. Das hab ich einfach nicht gesagt, okay? Aber kaum dass ich gesagt habe, dass ICH nach Berlin ziehen will, war sie schon wieder so irre verständnisvoll und voll mit dabei. So voller Liebe und Kompromissbereitschaft.

      Ich hatte noch nicht mal die Bestätigung für meinen Studienplatz in der Tasche, da hatte sie schon einen Job an Land gezogen, mit dem sie unsere ganze Miete bezahlen konnte. Sie hat die Möbel organisiert und den Transport. Ich hab die Wohnung noch nicht mal vorher zu sehen bekommen, so schnell ging das alles. Dabei wollte ICH eigentlich nach Berlin ziehen. Und dann fährt sie zuerst los, zur Wohnungsbesichtigung, und gibt mir unsere neue Adresse schon mal von unterwegs am Telefon durch. Ich dachte, ich fasse es nicht. Mann die lässt einem auch wirklich keine Chance, irgendwie sauber aus der ganzen Nummer rauszukommen, echt.

      Na ja, meine Eltern haben sich mächtig für uns gefreut und den halben Ort informiert. Alle dachten wohl: Oh, ihr seid so toll, wir beneiden euch so. Ihr habt euch einfach für immer gefunden. Tobi hat so ein Glück mit seiner Minka. Sie ist so perfekt. Und auch noch klug. Was sie wohl an ihm findet?

      Da hab ich auch nichts mehr gesagt. Ich meine, man soll den Leuten ja nicht ihre ganzen Träume zerstören, oder? Aber echt mal, als ob ich sie darum gebeten hätte, ausgerechnet in uns beide all ihre unerfüllten Phantasien reinzuprojizieren, als wären wir die Royals persönlich oder so was.

      Was ist so geil daran, dass man sich schon immer kennt und alles zusammen macht und dass das Leben so klar vor einem liegt wie die Speisekarte der Kantine für den ganzen nächsten Monat? Es steht alles da drauf, und etwas anderes wird es dann auch nicht mehr geben. Keine Überraschung möglich. Guten Appetit! Ich sag euch was: Nichts ist geil daran. Gar nichts.

      Ich mag mich nicht schuldig fühlen. Weil sich irgendwelche Leute nicht trauen, sich das Leben auch anders vorzustellen. Weil sie denken, man könnte nur auf die eine Art glücklich sein, so wie in der Margarine-Werbung. Aber die müssen doch auch von alleine checken, dass niemand einen kennt, der wirklich so lebt – einfach niemand! So, wie nun mal auch keiner einen kennt, der richtig groß im Lotto gewonnen hat. Und weil sowieso nix so ist, wie sie einem immer alle vormachen. Da kann man doch auch gleich anders leben, oder?

      Ich will rausgehen, so richtig ins Ungewisse, und nicht immer alles so planen wie Minka. Ich will tanzen und dann mit jemandem nach Hause gehen, den ich nicht (!!!) von Geburt an kenne, von dem ich einen Tag vorher nicht mal wusste, dass er auf diesem Planeten existiert. Mit jemandem, der meine Eltern nicht kennt. Ich will aufwachen, dort, wo ich noch nie war. Und ich habe keine Angst. Das ist alles. Ist das so schlimm?

      Alle wollen immer ankommen. Alle wollen immer gleich alles absichern. Und alle stellen die gleichen Fragen: Seid ihr jetzt für immer zusammen? Wann wird geheiratet? Mit Nachwuchs lasst ihr euch aber noch Zeit, oder?

      Ich will das gar nicht. Ich will nicht ankommen. Ich will unterwegs sein. Aber jetzt bin ich erst mal mit Minka nach Berlin gezogen. Vielleicht hätte ich diese Lawine ja auch aufhalten können. Irgendwie. Aber ich hab einfach nicht gewusst, wie. Das ging alles viel zu schnell. Und es hat mich auch schon wieder voll genervt, dass wir die ganzen alten Möbel von zu Hause mitgenommen haben, den ganzen Bauernplunder, anstatt einfach mal zu Ikea zu fahren wie jeder andere auch.

      Ich hab wirklich gehofft, dass hier alles neu ist und anders. Aber das geht wahrscheinlich nicht, wenn man die ganzen alten Sachen von zu Hause mitbringt.

      Minka: Was denkst Du grade?

      Ich: Ach, nix. Nur so …

       Minka, 24

      Wir sind, glaube ich, schon von Geburt an füreinander bestimmt gewesen, Tobi und ich. Wahrscheinlich haben das schon unsere Mütter miteinander ausgemacht, als sie damals mit dicken Bäuchen durchs Dorf gewackelt sind. Wir mussten überhaupt nie jemand anderen suchen, weil ja von Anfang an klar war, dass wir zusammengehören. In der Schule saßen wir auch schon ab der ersten Klasse nebeneinander. Kein Witz – wir sind am selben Tag geboren, wir haben also dasselbe Sternzeichen und können uns dasselbe Horoskop vorlesen, aus der Zeitung, jeden Tag. Bloß der Aszendent ist ein anderer. Wegen der Uhrzeit. Ziemlich romantisch, oder?

      Wir wissen also immer ganz genau, wie wir uns fühlen, wir brauchen uns nur anzusehen, wir kennen uns ja auch schließlich ein ganzes Leben lang. Es gibt nichts, was wir nicht voneinander wissen, und wir brauchen gar nicht erst anzufangen mit langen Erklärungen, wenn wir uns mal eine Geschichte erzählen wollen, weil wir ja alles sowieso zusammen erlebt haben: unseren ersten Tanz, unseren ersten Kuss, unseren ersten Sex, immer waren wir beide dabei.

      Und deswegen haben wir auch so viele gemeinsame Erinnerungen. Viel mehr als diese ganzen anderen Leute, die erst mit dreißig oder noch später zusammenkommen. Die werden sich ja nie richtig kennenlernen, die Armen. Die haben ja faktisch gar keine Chance, alles übereinander zu erfahren. Manche Menschen suchen eben ein Leben lang, manche Menschen werden das nie erleben, aber wir haben uns gleich am Anfang gefunden.

      Als