Bernd Nowak

Der Tanz der Koperwasy


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sie ihre zahlreiche Anwesenheit geradezu aus. Wie auch immer, solche doppelten Anlässe ergaben sich nicht gerade häufig, zunächst der kritische Zustand und dann die wundersame Gesundung. Es wäre leichtsinnig gewesen, sie nicht auszunutzen. Dank dessen nahm Gienia mehrmals an ihrem eigenen Leichenschmaus teil, nicht nur in Gestalt einer aus Albträumen wiederauferstandenen Leiche, sondern als erster Beweger und Organisator eines Mehrgenerationenfestmahls. Natürlich freuten wir uns alle, dass die Tante wieder der Sense entkommen war und dass jetzt, nach einem kleinen Koma, alles zum alten Rhythmus zurückkehren würde.

      Ich komme eines Tages, recht zufällig, nach Koperwasy und stoße mitten in der Woche auf einen seltsamen Feiertag. Im Dorf wird nicht gearbeitet. Scharen in der Kirche, Scharen vor der Kirche, das Volk vereint und eifrig betend, obschon wir weder Mariä Geburt noch Mariä Himmelfahrt haben. Im Alltag waren sie weder besonders fromm noch gottlos, aber dass man einen Werktag in einen Feiertag ummünzt? Ich trete ins Haus der Tante – niemand da. Alles ist abgeschlossen, sogar die Kinder sind abwesend, nur der Schäferhund trippelt vor der Bude hin und her und wedelt mich mit seinem einstdeutschen Schwanz an. Ich setze mich auf die Bank vor der Darre und warte. Schließlich sehe ich, wie die Gesellschaft zurückkommt. Feierlich angezogen, in weißen Hemden und dunklen Hosen, die Kinder vorneweg, die Junggesellen und jungen Frauen hinten. Wir begrüßen uns, ich frage nach dem Grund der Feierlichkeit und bekomme »Dankgottesdienst« zu hören. Ja, gerade in der Wochenmitte, »denn am Dienstag gab es eine Explosion«. Was für eine Explosion, wundere ich mich. »Na, eine Explosion. Im Wirtshaus.« Die Tante, die an diesem Tag das Lager der Garküche »Hafen« betrat, bemerkte, dass der Zeiger des auf dem Kessel befindlichen Druckanzeigegeräts bereits am Anschlag stand und dass im nächsten Augenblick alles in Fetzen fliegen würde. Also kam Gienia mit Geschrei und die einzelnen Wörter in Kleinteile zerlegend in den Gastraum gelaufen: »Leu-te!! Flüch-tet!! Den Kes-sel zer-reist’s gleich!« Die Leutchen sprangen auf, rannten aus dem Lokal und kurz darauf eine gewaltige Explosion. Sie riss eine ganze Wand heraus und zerstörte das Buffet. Die Tante trat als Letzte hinaus.

      Das Volk versammelte sich, kam zur Messe zusammen, der Pfarrer sprach schön über die Vorsehung, er empfahl die Gläubigen der Obhut der Mutter Gottes der Empfängnis und alle Anwesenden der Obhut der Gottesmutter Gebärerin, aber diese wussten sowieso, dass sie vor diesem Unglück nicht durch den goldzüngigen Priester und auch nicht so sehr durch die Vorsehung bewahrt worden waren als vielmehr durch die allgemein geschätzte Genofewa Koperwas. Sie, die – jetzt durch Krankheit gefesselt – auf ihrem Totenbett dahinsiechte. Gerade trat der Arzt aus ihrem Haus.

      In jenen Jahren schien es mir, dass die Konzession der Tante lediglich das makabre, nicht ganz verständliche Spiel mit dem Tod beinhaltete. Jetzt, wo ich das schreibe und mir aufs Neue Gedanken mache, neige ich zur Ansicht, dass die Kunst des Sterbens ein Werkzeug in ihrer Hand war, mit dessen Hilfe sie Dinge berührte, die auf einem anderen Weg nicht zu erreichen waren. Sicherlich, mit dem Komödiantentum setzte sie eine wahrlich theatralische Maschinerie in Gang, aber ich denke, dass das nur ein Nebeneffekt war. Dieses Komödiantentum erlaubte ihr, eine Grenze zu erreichen, hinter der alles tödlich und unumkehrbar wurde. Sie berührte sie, zog sich zurück und lieferte einen Vorgeschmack dessen, was einst unentrinnbar eintreten würde und von wo es keine Rückkehr mehr gab.

      Es ist schon seltsam, aber alles in jenen Zeiten Wichtige geschah in der Abenddämmerung oder aber bei vollkommener Dunkelheit. Nicht auf dem Feld, sondern eher im Haus, und wenn überhaupt, dann im Wald. Sogar jetzt, wenn ich daran denke, zöge ich es vor, dass Dunkelheit herrschte. Gern lege ich mich aufs Sofa, um mit der bis über den Kopf gezogenen Decke zu den Waisenjahren zurückzukehren. Niemand wird mich besuchen, niemand wird anrufen, ich kann also in der Stille noch einmal versuchen, das einstige Geschreibsel zu entschlüsseln.

      Ich hatte damals, wie jeder Junge, mein kleines Versteck. Wenn mir der Tag zu sehr zusetzte oder wenn mich die Altersgenossen zu sehr gepiesackt hatten, streifte ich durch die nahen Wälder, versteckte mich in der Darre oder des Sommers in der hinter dem Haus in den Hügel getriebenen Erdhöhle. Es genügte, den halbrunden, halbwegs verschlossenen Einlass zu lüften, um sich in Sicherheit zu fühlen. Ich konnte hier so lange bleiben, bis ich genug Kraft gesammelt hatte, um jenes unaufhörliche, großfamiliäre Treiben wieder aushalten zu können.

      Es zog mich mit einer geradezu krankhaften Leidenschaft in diese undurchdringliche Dunkelheit. Dort konnte ich ohne den Widerstand der Dinge und Farben in die Tiefe unbekannter oder momentan vergessener Kontinente vorstoßen. Der irdene Einbaum trug den in einer Position taub gewordenen Körper in Zonen, in denen ich mich nach Belieben an der kindlichen Einsamkeit berauschen konnte. Gerade dort blieb ich – als kleiner, zu einem Bündel zusammengerollter Junge, der in halb wache Betrachtungen vertieft war – häufig so lange sitzen, bis jemand hineinschaute und mich mit scharfen Worten zum Abendessen rief.

      »Junge, Junge«, nörgelte die Tante aus Gewohnheit. »Ich hab dir doch gesagt, dass du da nicht hineingehen sollst … Für welche Sünden straft mich der Herrgott nur so?«, fragte Gienia weder mich noch den Himmel.

      »Hör doch auf, Mama«, verteidigte mich Aloch. »Das ist doch ein braver Junge, er hat nichts angestellt …«

      Gienia winkte ab und ging – die Resignierende mimend – zu irgendwelchen Tätigkeiten über. Der siegreiche Aloch drehte sich augenzwinkernd auf dem Absatz um und tätschelte mir den Kinderrücken.

      So waren ihre Dialoge, immer in derselben Tonlage, immer im Bereich ausprobierter und sicherer Worte.

      Einmal erlebte ich, der in Fragen der Endgültigkeit so etwas wie ein ständiger Gesandter unserer Familie war, in Koperwasy andersartige, wenn auch subkutan mit der Krankheit der Tante verbundene, Gefühle. Von Empfindungen zu sprechen, ist etwas übertrieben, denn es waren eher gefühlte denn vollzogene Dinge, aber – wie auch immer – sie ereigneten sich zum ersten Mal.

      Eines Nachts träumte ich von der nicht so nahen, aber doch blutsverwandten Cousine. Nicht von der aus Koperwasy, sondern von jener Kasia Kurcjanow. Mit einem kurzen, von oben auf französische Art eingeflochtenen Zopf. Das war nichts Ungewöhnliches. Sie kam häufig ins Haus der Tante, um sich – ähnlich wie ich – nach ihrer Gesundheit zu erkundigen und die Neuigkeiten dann der engeren und weiteren Familie in Kółeczko zu überbringen.

      In diesem Traum schwammen wir zu dritt, zusammen mit meiner Ania, in den warmen und sicheren Gewässern der Lehmhöhle. Wir badeten nachts, ich vollkommen nackt und sie in weißen und nassen, sich an ihre blutjungen Körper anschmiegenden Gewändern. Die Stimmung des nächtlichen Bades verband sich mit dem im Hause der Tante hängenden, kitschigen Öldruck, auf dem inmitten des Waldes und im obligaten Mondlicht einige Damen mit offenen Haaren in einer Muschel schwammen, die von Schwänen gezogen wurde. Die Mädchen aus meinem Traum, stärker entblößt und fülliger als jene anderen, teilten mit ihren Armen das Wasser. Ihre mit kleinen Brustwarzen besetzten Brüste und ihre Hinterbacken, als kugelige Wiederholung jener anderen, wogten immer näher an mich heran und setzten einen fernen, übersüßen Rhythmus in Gang. Angesichts der wachsenden Erregung hatte die kitschige Entourage keinerlei Bedeutung. Die Cousine war nicht weit entfernt, die Schwester schwamm davon und kehrte so lange nicht zurück, bis sich die Gelegenheit für ein näheres Kennenlernen von Kasia bot. Furchtlos, wie das im Traum so ist, entledigte ich mich aller lästigen Ängste.

      Ich wachte am ganzen Körper zitternd auf. Kataleptisch und steif saß ich auf dem von Schweiß und nächtlichem Samenerguss feuchten Laken. Ich war entsetzt. Ich zog alles aus, nahm das Laken vom Bett und, da ich nicht wusste, wie ich die Spuren beseitigen sollte, stand mitten in der Nacht da mit einem durch das Fenster lugenden, spöttischen Mond.

      Schließlich fand ich einen Weg, um mit der kompromittierenden Situation fertigzuwerden. Ich stellte zwei Stühle auseinander und spannte das blasse Laken über den beiden Lehnen auf, während ich selbst beschloss, mich an die warmen Kacheln des Ofens lehnend, zu warten, bis die Spuren verschwunden wären.

      Als ich die Augen öffnete, war es Tag. Die Stühle standen auf ihrem Platz, das Laken war spurlos verschwunden. Ich zog mich an und öffnete ängstlich die Tür. Das Frühstück wartete an der Tischecke. Ich aß und spürte, wie ich vor Scham im Erdboden versank. Ich aß lange, ganz auf die Bewegungen des Bestecks konzentriert, mit einem in den Teller versenkten Blick. Aber