Gottfried Senf

Briefgeschichte(n) Band 2


Скачать книгу

später stattgefunden hätte, nachdem sich die Ost-Deutschen eine demokratische Nachfolgeregierung gewählt hätten, die mit Bonn ebenbürtig hätte verhandeln können. Denn wir wissen es jetzt: Bonn hatte keinerlei Pläne ausgearbeitet für eine eines Tages kommende Wiedervereinigung und was da schnell und sozusagen aus dem Stegreif zusammengenagelt wurde, verdient den Namen „Architektur“ nicht. Die Wiedervereinigung war eine Vereinnahmung und die starke westdeutsche Wirtschaft diktierte mehr oder weniger die Richtung, in der marschiert wurde. Noch schlimmer ist es, dass viele West-Deutsche keinen Respekt oder Sympathie für die Ost-Deutschen haben. Die bösartigste Bemerkung, die mir begegnet ist, ist diese: DDR – Der Doofe Rest. Mit einiger Berechtigung jedoch gilt diese Bezeichnung für die „Eliten“, die Ost-Deutschland 40 Jahre lang regierten. Ursprünglich überlebten diese den Stalin-Terror in Russland, entweder weil sie zu blöde waren, um Stalin gefährlich zu werden, oder weil sie sich dazu hergaben, ihre Kameraden zu denunzieren. Dann wurden sie von der Siegermacht als Regierende eingesetzt und bekämpften das eigene Volk 40 Jahre lang, ohne etwas dazuzulernen. Solchen Leuten kann man nicht helfen. Die waren längst überfällig, als sie in diesem Moment vor 9 Jahren von Euch entmachtet wurden. Das sollen Euch die West-Deutschen erst mal nachmachen.

      Leider habt ihr dann den „Modrows“ zu sehr vertraut. Das Heft hättet ihr nicht so schnell wieder aus der Hand geben sollen. Hinterher ist man klüger, und überhaupt musst Du mir diese Betrachtungen eines „Ausländers“ nicht übel nehmen. Bitte korrigiere mich, wenn ich falsch liege. Ich habe in den vergangenen Tagen noch einmal das dicke Buch durchstudiert, das Du uns vor zwei Jahren geschenkt hattest: „Burgen, Schlösser, Gutshäuser in Sachsen“. Hast Du das Buch selbst? Es ist ein erschütterndes Buch. Es war mir beim ersten Lesen gar nicht so bewusst wie diesmal, wie diese vertriebenen, ehemalig sächsischen Familien sich danach sehnten, wieder in ihre Heimat zurückzukehren, um beim Aufbau der Wirtschaft zu helfen. Ich hatte nie diesen Wunsch. Für mich ist das unvergesslich, wie wir im Herbst 45 zu Volksfeinden abgestempelt wurden und wie viele unserer früheren Nachbarn (um die eigene Haut zu retten) sich gegen uns stellten. Da wurde es mir bewusst, wie es den deutschen Juden zumute gewesen sein musste, als sich ihr Heimatland gegen sie wendete und kaum einer ihnen zu Hilfe kam. Natürlich wollte ich mir Geithain und den Sommerhof ansehen, weshalb wir im Mai 1990 in Geithain waren, aber dort bleiben? Nie und nimmer. Ohne Deinen Brief damals, im Herbst 90, wäre ich nie wieder nach Geithain gekommen. Aber dann wollte ich Dich kennenlernen, so kamen wir wieder, und unterdessen denke ich an Geithain und seine Menschen ohne Bitterkeit. Ihr habt so viel verloren, wir waren nur die Ersten, denen die Kommunisten an den Kragen gingen, aber dann kamen andere Teile der Bevölkerung, und schließlich (1953) wurden auch die Arbeiter zu Feinden erklärt, denen man nicht trauen konnte! Wozu brauchte man diese Mengen von Stasi-Informanten? Mir wurde bewusst, dass es unwürdig wäre, wenn ich mich für immer beklagen wollte. Die, die uns damals ausstießen, sind ja nun auch alt oder schon längst tot. Wenn ich schreibe, dass ihr viel verloren habt, so meine ich damit das, was in vielen Jahrhunderten gewachsen war, die Land- und Stadtbevölkerung verschiedenster Stände, die Struktur der Landwirtschaft und Landschaft. Besonders die Landschaft hat viel von ihrer Schönheit verloren. Da gab es einmal Hecken und kleine Gehölze und ein farbiges Mosaik von Feldern unterschiedlichster Größe, wo jetzt die riesigen Ackerflächen sich strecken, ununterbrochen bis zum Horizont. Übrigens fühle ich mich auch nicht in West-Deutschland als „zu Hause“. Deutschland ist Reiseland. Zu Hause bin ich hier in Kanada.

      Dir und Karin wünschen wir eine frohe Vor-Weihnachtszeit. Bei euch treten die Flüsse über die Ufer und hier ist es so trocken wie noch nie. Seit Mai hat es kaum geregnet.

      Mit herzlichen Grüßen, von John & Gisela

       14. Januar 1999

      Lieber Gottfried, liebe Karin,

      herzlich bedanken wir uns für die Grüße zum Jahreswechsel auf der Ansichtskarte aus Teneriffa. Hier haben wir unterdessen einen halben Meter Schnee und weitere 20 Zentimeter sind uns angekündigt worden. So eine Stadt wie Toronto kommt durch diese Schneemassen fast zum Stillstand, aber hier in Georgetown ist es, für Leute wie uns, die nicht zur Arbeit gehen müssen, eigentlich ganz gemütlich. Wir sitzen am Kamin und lesen uns durch Berge von Büchern hindurch. Eines der Bücher waren die Erinnerungen des „Man without a Face“ (so ist das Buch im Englischen betitelt) von Markus Wolf. Die Welt der Spione, die einer gewissen Komik nicht entbehrt! Wie sich da die verschiedenen Länder, mittels ihrer Meisterspione, gegenseitig über´s Ohr hauen, reizt zum Lachen. Hervorragend ist der erste Band einer neuen Hitler-Biografie des englischen Historikers Ian Kershaw. Der Band beschreibt das Leben dieses schrecklichen Menschen von 1889 – 1936. Ein 2. Band soll folgen. Diese Lektüre brachte mich wieder einmal zu den Briefen meines Bruders, von denen ich Kopien einiger Seiten beilege. Man merkt denen natürlich an, dass sie von einem noch nicht 20jährigen geschrieben wurden. Den schmalzigen Leander-Film „Es war eine berauschende Ballnacht“ findet er großartig, der „totale Krieg“ kann selbstverständlich nur „siegreich“ enden, usw. usw. Man vermisst, aus heutiger Sicht, die Skepsis. Vielleicht interessieren Euch diese Beschreibungen aus dem Herbst 1939. Wäre das Archiv des Heimatvereins an Kopien dieser Briefe interessiert? Es sind 123 Schreibmaschinenseiten plus 19 Seiten Fußnoten von mir.

      Herbert Strassburger schickte mir die letzten Fortsetzungen Deiner „Sommerhof“-Artikel. Wir danken dir für Deine Mühe. Was gibt es sonst an Neuigkeiten? Ist eine weitere Nordamerikareise eingeplant? Gute Wünsche und herzliche Grüße von John und Gisela

       02. Februar 1999

      Lieber Gottfried, liebe Karin, heute kam der große Umschlag (mit Brief, Zeitungsausschnitten, Prora-Broschüre etc.), der also genau 3 Monate unterwegs war, am 1.11.98 geschrieben, am 2.11. abgestempelt. Eine beachtliche Leistung der modernen Post. Der Umschlag hat natürlich irgendwo herumgelegen. In 10 Jahren gibt es diese Art der Postbeförderung möglicherweise gar nicht mehr. Man merkt schon jetzt, dass die Post an diesen Sendungen wenig interessiert ist. Trotzdem herzlichsten Dank. Wir freuen uns sehr, besonders über den langen Brief.

      Du schreibst “dass die Zeit für die Aufarbeitung der DDR-Geschichte erst noch kommen wird“. So war das auch nach 1945 in West-Deutschland. Mit den Alten konnte man über die Nazizeit nicht reden, sie wollten diese Jahre vergessen, weil sie selbst mitgespielt hatten oder ihnen in dieser Zeit übel mitgespielt wurde. Das ist auch durchaus menschlich. Die, die bei den Nazis oder den Kommunisten (in der DDR) in diesen Weltanschauungen ein Ideal gefunden hatten, standen nun vor den Trümmern ihres Lebens. Die Enttäuschung machte sie stumm oder bockbeinig. Und die, die ahnten, wohin diese Ideologien führen würden (in das Verbrechen und die Zerstörung der Gesellschaft), und deshalb von Anfang an abseits standen und nicht mitmachten, die waren im Grunde zu vornehm, um nun, da alles so gekommen war, wie sie es vorausgesagt hatten, es ständig den „Ideologen“ vorzuwerfen und sie anzuklagen. Eigentlich fing es mit dem „Aufarbeiten der Nazizeit“ erst in den 1960er Jahren an, und die, die „aufarbeiteten“, waren Leute, die nach 1935 zur Welt kamen und die Hitlerzeit hauptsächlich aus Dokumenten kannten. Selbst für meine Generation ist die Nazizeit ein heißes Eisen. Wir haben deutsche Freunde hier, in meinem Alter, wenn wir die treffen und die Sprache kommt auf die Nazizeit, dann dauert es nicht lange bis jemand ins „Fettnäpfchen“ tritt, also etwas sagt, was beweist, dass er noch immer dieser längst vergangenen Zeit verhaftet ist. Wie das so schön witzig Maxim Biller in beigelegter Kolumne beschreibt. Und vielleicht bin ja auch ich von dieser Zeit geprägt und nicht so frei, wie ich mir das einbilde. Es hilft natürlich, dass ich seit über 40 Jahren in Kanada gelebt habe. Da habe ich mir angewöhnt, nicht so schnell zu urteilen und zu verurteilen. Deshalb bin ich so gegen die Veröffentlichung der Stasiakten. Nur wirkliche Verbrechen hätte man mit Hilfe dieser Akten bearbeiten sollen. Aber all diese Treuebrüche und Spitzeleien, dieser unsagbare Klatsch, der Neid, das Kämpfen um kleine Vorteile, all das hätte man vergraben sollen. Nun vergiftet es das Leben von Menschen, die unter den Dienern Moskaus nun wirklich kein Zuckerbrot zu essen hatten.

      Zu unserer „Verbannung“ auf die Insel Rügen.