Gunnar Kunz

Krähen über Niflungenland


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lag etwas Geborgenes darin, von seinen Armen umfangen zu werden. Sie wünschte, dieser Moment würde nie zu Ende gehen. »Hört auf, frō«, lachte sie, »Ihr dürft nicht …« Aber dann umschlang sie seinen Nacken und küsste ihn. Leidenschaftlich suchte sie seinen Mund und versank im Strudel der Gefühle.

      Er war es, der im Ringen um Kontrolle den Kuss beendete. Verlegen standen sie sich gegenüber und vermieden es, sich anzusehen. »Ich gehe zu Eurem Bruder und bitte ihn, Euch mir zur Frau zu geben«, sagte er und war schon auf halbem Weg nach draußen, ehe sie ihn zurückhalten konnte.

      »Nein!«

      Verwirrt drehte er sich um. Frauen waren wie eine mehrfach verschlüsselte Zauberrune für ihn. Hatte er Grimhilds Kuss missverstanden?

      Sie sah seine Enttäuschung. »Bitte, wartet noch! Nur ein oder zwei Nächte.« Wenn Sigfrid blind auf sein Ziel losstürmte, bestand die Gefahr, dass Gunter ablehnte. Sie brauchte ein wenig Zeit, um die Entscheidung ihres Bruders in ihrem Sinne zu beeinflussen. Sie wollte kein Risiko eingehen, nicht bei einer so wichtigen Sache. »Wartet bis nach dem Mittsommerfest!«

      »Warum? Ich liebe Euch. Ihr liebt mich. Ich bin König Sigmunds Sohn und sicher in den Augen Eures Bruders würdig, Euch zur Frau zu bekommen.«

      Verzweifelt strich sich Grimhild durchs Haar. Er hatte ja recht. Aber wenn nun etwas Unvorhergesehenes eintrat?

      Ihre Geste ließ sein Herz schneller schlagen. Sie wusste nicht, was sie einem Mann antat, wenn sie mit dieser weiblichen Bewegung ihren Körper zur Geltung brachte. Es war ja gleichgültig, ob er nun heute um sie freite oder in zwei Nächten. Er wollte ihr gern jeden Wunsch erfüllen, allein für die Freude, sie lächeln zu sehen. »Also gut«, sagte er, »ich werde warten.«

      Sie nickte dankbar. Oh, sie würde mit ihm glücklich werden, keine Frage! Er konnte Rücksicht nehmen, er war sanft und fröhlich und voller Wärme und –

      Sie merkte, dass sie ins Schwärmen geriet und die Welt um sich herum vergaß, gab ihm einen flüchtigen Kuss und schlüpfte aus dem Stall, ehe sie von ihren Gefühlen überwältigt wurde.

      6.

      Zahnschmerzen! Oda stöhnte auf und grub die Fingernägel in ihre Handballen. Seit vier Nächten ging das schon so! Sie hatte es bereits mit Räucherungen und Schafgarbentee versucht, und Irmgard, die sich in derlei Dingen auskannte, hatte ihr Möglichstes getan, den Wurm, der an ihrem Zahn nagte, zu beschwören, aber nichts half. Schicksalergeben setzte Oda ihre unterbrochene Zahnpflege fort, verzichtete allerdings darauf, den Mund noch einmal mit kaltem Wasser zu spülen, sondern griff gleich zu den Salbeiblättchen. Sorgsam rieb sie ihre Zähne damit ab und verzog das Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse, als sie versehentlich den befallenen Zahn berührte. Sinnloser Zorn überflutete sie.

      »Quält dich der Wurm immer noch?«, erkundigte sich Grimhild, die eben zur Tür hereinkam, mitfühlend.

      »Es ist kaum auszuhalten.« Oda hatte genug und warf die Salbeiblättchen auf einen Tisch. »Hast du deine Vorbereitungen für das Mittsommerfest getroffen?«

      »Dazu habe ich später noch Zeit.«

      »Du überraschst mich. Die letzten Jahre konntest du es kaum erwarten und hast uns schon Wochen vorher verrückt gemacht. Du warst eine richtige Landplage.«

      Grimhild schnaubte verächtlich. Das war Ewigkeiten her. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie eine Frau und sah die Welt mit anderen Augen. Gedankenverloren leckte sie sich über die Lippen. Wie brachte sie am besten zur Sprache, was ihr auf dem Herzen lag? Bei ihrer Mutter musste sie anders zu Werke gehen als bei Gislher, sich ihrer Unterstützung zu versichern, erforderte Fingerspitzengefühl. »Ich muss mit dir sprechen, Mutter.«

      Oda seufzte. Blieb ihr denn heute gar nichts erspart? Sie wollte sich einfach nur ins Bett legen, an nichts denken und leiden. Aber als Herrin über die Frauenangelegenheiten der Burg hatte sie ebenso Pflichten wie als Mutter. »Es geht um frō Sigfrid?«

      Grimhild versuchte erst gar keine Ausflüchte. »Ich glaube, er wird bei Gunter um mich freien«, sagte sie und merkte zu ihrer Verärgerung, wie sie rot wurde.

      »So, du glaubst«, spöttelte Oda. Sie kannte ihre Tochter gut genug, um zu wissen, dass diese Mittel und Wege fand, sich zu vergewissern, wenn ihr etwas am Herzen lag.

      Grimhild ignorierte den Unterton; auf der Ebene kam sie gegen ihre Mutter nicht an. »Würdest du …« Sie verstummte, schluckte und setzte erneut an: »Würdest du Gunter zureden, Sigfrids Werbung anzunehmen?« Es gelang ihr nicht, ihre Mutter dabei anzusehen. Zuviel bedeutete ihr die Antwort auf diese Frage, und sie wollte nicht, dass jemand so tief auf den Grund ihres Herzens blicken konnte.

      Oda setzte sich zu Grimhild auf die Bank und sah abwesend in die Ferne. Es gab manches zu überdenken. Und nicht das Geringste war die Tatsache, dass ihrer Tochter viel daran gelegen sein musste, wenn sie sich so weit vorwagte. Nachdenklich fuhr Oda mit der Zunge über den kranken Zahn, der sie mit seinem Pochen immer wieder ablenkte.

      Grimhild wagte nicht, die Überlegungen ihrer Mutter zu stören, so ungeduldig sie auch auf eine Antwort wartete. Es behagte ihr nicht, wenn sich die Dinge außerhalb ihrer Kontrolle befanden. Sie hatte es lieber, wenn sie den Gedanken der Menschen einen sanften Stoß in die richtige Richtung geben konnte. Ohnmacht war etwas Entsetzliches.

      »Ich bin mir nicht sicher, ob es gut ist, dass Sigfrid um dich freit.« Oda sprach mehr zu sich selbst als zu ihrer Tochter. »Natürlich, er ist ein großer Krieger und der Erbe von Tarlungenland, als Verbündeter in der Not wäre er von unschätzbarem Wert. Andererseits ist er leichtsinnig und unbesonnen, er denkt nicht klug wie dein Bruder. Sein heißes Blut könnte ihn in einen sinnlosen Krieg stürzen, und dann wären wir gezwungen, ihm beizustehen.«

      »Mutter«, sagte Grimhild ungeduldig, »es geht nicht um Politik, sondern um mein Leben!«

      »Du weißt sehr gut, dass das ein und dasselbe ist, meine vorwitzige Tochter.« Oda seufzte. »Um ehrlich zu sein, ich bin nicht einmal sicher, ob ich um deinetwillen mit ihm versippt sein möchte.« Sie hob beschwichtigend die Hände, ehe Grimhild protestieren konnte. »Ich weiß, ich weiß! Er sieht gut aus, er ist tapfer, er ist ehrlich – ich kenne seine Vorzüge.«

      Und er ist zärtlich, fügte Grimhild in Gedanken hinzu, aber das wagte sie nicht laut zu sagen.

      Vielleicht konnte ihre Mutter hinter ihrer Stirn lesen, denn sie fügte hinzu: »Und er wird dir vermutlich ein guter Liebhaber sein.« Oda lachte, als sie den schockierten Gesichtsausdruck ihrer Tochter sah. »Ist es mir einmal gelungen, dich sprachlos zu machen? Ich verstehe sehr gut, was dir an ihm gefällt. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, würde ich ihm auch schöne Augen machen. Aber Liebe ist nicht zwangsläufig die ideale Ausgangsbasis für ein Ehebündnis. Manchmal ist es vorteilhafter, wenn einem keine Gefühle im Weg stehen.« Sie sah ihre Tochter an und seufzte erneut. »Ich nehme an, jedes meiner Worte ist verschwendet. Ich kann es dir nicht einmal übel nehmen. Mit deinem Vater ging es mir schließlich nicht anders.«

      Die verzweifelte Hoffnung in den Augen ihrer Tochter erschreckte Oda. Grimhild war plötzlich so verletzbar. Aber vielleicht hatte sie ja recht. Vielleicht war ein Mann, den sie anbetete, der Richtige, um ihr Temperament in geordnete Bahnen zu lenken. »Also schön, ich gebe zu, ich habe nichts weiter vorzuweisen als ein unbehagliches Gefühl, und ich will deinem Glück nicht im Wege stehen. Ich werde mit Gunter reden.«

      Grimhild flog ihrer Mutter um den Hals. »Danke, tausendmal danke! Du wirst sehen, deine Sorgen sind grundlos. Wir werden das glücklichste Paar sein so weit die Sonne scheint und das Korn auf den Feldern reift.«

      Und eben das könnte euer Verhängnis sein, dachte Oda.

      7.

      Als sie den Hügel erklommen hatte, war Grimhild außer Atem. Ihrer Mutter dagegen war die Anstrengung kein bisschen anzumerken. Seltsam, wie die Aussicht auf das Fest sie verjüngte!

      Bald schon würde die Sonne am Horizont versinken,