mit ihren klaren Augen so treuherzig-innig anschauend, daß ich ganz bewegt wurde und jene Scene sich meinem Gedächtnis für mein ganzes Leben unauslöschlich einprägte. „Wat Di ok bevörsteiht, min beste Jung,“ – so ungefähr sprach sie – „vergitt Din Heimath un Dinen Gott nich! Wenn Du de twe Deel blos fast hollst, denn kann Di dat nümmer slecht gahn. Ick hev all Veele kennt, de wied in de Weld ’rüm kömen un naher ehr Heimath verachten un öwer datt spotten dä’n, wat jüm in de Jugend lehrt wör, awer ick glöw nich, dat dat en’n Menschen glüklich maken kann. Lewer nich geboren, as Heimath un Gotts Word verloren! Dat pleg ick daför to holen, min Jung. Süh, nu lat Di dat good gahn, min Beste, ick bün nich bang um Di!“
Als die alte Frau damals so zu mir sprach, fühlte ich mich, wie ich bereits erwähnte, zwar ergriffen, aber ich war zu jung und zu unerfahren, mein Sinn war zu sehr auf das Fernliegende, Unbekannte gerichtet, als daß ich die volle Bedeutung dessen, was sie sagte hätte erkennen können. Erst die bittere Erfahrung vieler bewegter Jahre lehrte mich die goldene Wahrheit, welche in jenen schlichten Worten lag, völlig würdigen. Ich hätte der Greisin dann gerne danken mögen, aber längst schlummerte sie unter dem Rasenhügel an der Seite ihrer Vorfahren. Oft noch tritt mir ihr Bild vor Augen: die altersgebeugte, in einfache Volkstracht gekleidete Gestalt, das schmale von in Ehren ergrautem Haar umrahmte Gesicht mit dem Ausdruck innigster Herzensgüte und gläubig-frommer Einfalt – so lebt sie in meiner Erinnerung fort, ein Stück alter, ehrlicher und einfacher Zeit. – – –
Nach mehrstündiger Wanderung erreichten mein Vater und ich das Dorf W... Hier gelangten wir auf die Heerstraße, die Napoleon I. während der Jahre 1811–1813 durch unsere Heide bauen ließ. Vielfach hörte ich in meiner Jugend und auch wohl später noch in gewissen Kreisen die Einrichtungen und Umwälzungen, womit der Völkerunterjocher auch unsere Heimath beglückte, als höchst segensreich für Handel und Verkehr preisen. Jene auf Befehl des Gewalthabers erbaute Straße mußte dann oft als ein Beweis für die cultur- und fortschrittbefördernden Bestrebungen des großen Kaisers dienen. Mein Großvater, der die Zeit der französischen Herrschaft mit durchlebte, wußte allerdings noch eine andere Tonart zu jenem Lobliede. Er meinte, das Gute, was Napoleon uns gebracht habe, wäre auch wohl ohne ihn und mit weniger Ungerechtigkeit und Druck zu uns gekommen. Mein Großvater hatte als 15jähriger Bursche mit an jener Straße arbeiten müssen. Aus den entfernten Dörfern her, aus meilenweiter Runde trieben die Gendarmen die arbeitsfähigen Männer scharenweise herbei und zwangen sie zum Frohndienst für den Staat. Beköstigung mußten die Leute sich selber mitbringen und an Zahlung eines Arbeitslohnes war kein Gedanke. Die Gelder, die der Staat für den Bau hergab, verloren sich in den Taschen der Aufseher und Unternehmer, jener Leute, die in den größeren Dörfern, Flecken und Städten Handel, Verkehr und Gewerbe in den Händen hatten, oder auch bei Zeiten sich im Civildienst einflußreiche Stellungen zu ergattern wußten, mit Hintansetzung alles vaterländischen Gefühls und nach dem weisheitsvollen Grundsatze: Weß Brod ich esse, deß Lied ich singe! Noch heute kennt man in meiner Heimath im Volke die Familien, welche sich damals mit Leichtigkeit in die „unabänderlichen Verhältnisse“ zu schicken und „mit den Thatsachen zu rechnen“ wußten, welche das Gold aufsogen wie der Schwamm das Wasser und welche sich nicht scheuten, sich in gemeinster, oft verbrecherischer Weise und vielfach auf Kosten ihrer eigenen Landsleute zu bereichern, während die Söhne der Bauern, des minder wohlhabenden Bürger- und Handwerkerstandes, sowie des Adels und der treu gebliebenen Familien in weiter Ferne auf spanischen Schlachtfeldern für das Vaterland bluteten und der Befreiung desselben Leben und Gesundheit, Gut und Blut zum Opfer brachten. –
Wir waren also bis zu dem Dorfe W... gekommen und schritten auf der berühmten Landstraße, mit welcher „Bunnepart“ unsere Heide beglückte, wohlgemuth einher. Unmittelbar an der Straße, welches das Dorf der Länge nach durchzieht, liegen mehrere Wirthshäuser. In einem derselben hielten wir Einkehr. Bei einem Glase Braunbier verzehrten wir einen Theil des mitgenommenen Mundvorraths. Der Wirth, ein älterer, freundlicher Mann leistete uns Gesellschaft. Er stand vor dem großen Kachelofen, auf dessen vorderen Eisenplatte in einem Reliefbilde Jacob und Rebecca am Brunnen dargestellt waren. Die Hände hielt der Wirth übereinandergelegt auf dem Rücken, sodaß die lange Pfeife, aus welcher er rauchte, sich selber überlassen war. Wenn er irgend etwas Bedachtsames und Nachdrückliches sagte, so beugte er den langen Oberkörper etwas vorn über und ließ die Pfeife in sanften und gleichmäßigen Schwingungen hin- und herpendeln. Die Einleitung des Gesprächs bildeten selbstverständlich Betrachtungen über das schöne Frühlingswetter. Als dieses Thema nach allen Seiten hin erschöpft war, kamen wir auch auf unser Vorhaben zu sprechen. Unser Wirth, der sich etwas demokratisch angehaucht zeigte, schien meine Absichten gerade nicht sehr beifällig aufzunehmen, das freundliche Lächeln verschwand auf eine Weile aus seinem Gesicht und die Pfeife gerieth in hastigere Schwingungen, er war jedoch viel zu höflich, als daß er uns sein Mißfallen mehr als nöthig war hätte merken lassen.
„Dat wör’n Freegeist, min Jung,“ sagte mein Vater in Bezug auf den Wirth, als wir hernach draußen auf der Landstraße im warmen Sonnenschein weiter wanderten. Ich zerbrach mir nicht den Kopf darüber, was für eine Wesen ich mir unter „Freegeist“ eigentlich vorzustellen hätte; ich gab mich vielmehr ganz der herrlichen Stimmung hin, in welche das herrliche Aprilwetter mich versetzte und freute mich über den Frühlings-Jubelgesang der Lerchen und das überall hervorsproßende erste Grün. Der April des Jahres 1866 war in der That so beständig und schön, wie wir ihn selten zu erleben pflegen. Laubwerk, Gräser und Kräuter hatten sich in Folge des andauernd warmen Wetters außergewöhnlich zeitig entwickelt. Ich erinnere mich noch deutlich, daß die zartgrünen, duftigen Blätter der Birken, mit welchen die Straße zu beiden Seiten bepflanzt war, sich bereits so weit entwickelt hatten, daß der Schatten, den die Baumkronen auf den kiesbestreuten Fußsteig der Straße warfen, fast völlig ohne Lücke war. Das war am 13. April, während ich wieder Jahre erlebt habe, in denen erst kurz vor Pfingsten die Birken grünten.
4.
Einkehr bei Cord Wübbe.
Es war um die Mittagszeit, als wir in einem Föhrenwäldchen hart an der Straße ein Häuschen auftauchen sahen, das uns mit seinem rothen Ziegeldach und seinen blinkenden Fenstern recht einladend grüßte. Es wohnte dort ein Wegbau-Aufseher, welcher meinem Vater von früher her befreundet war. Da es nun in unserm Reiseplane vorgesehen war, daß wir diesem guten Manne einen flüchtigen Besuch abstatten wollten, so unterbrachen wir hier unsere Wanderung.
Cord Wübbe – so hieß unser Freund – war daheim und hieß uns herzlich willkommen. Er war soeben von einer längeren Aufsichtstour zurückgekehrt und stand im Begriff einen Imbiß einzunehmen. Selbstverständlich wurden wir zum Mitessen eingeladen. Bevor wir uns jedoch am Tische niederließen, wandte unser Wirth sich zu einem Eckschränkchen und holte eine dickbauchige Flasche von grünem Glase daraus hervor. Wie er uns in umständlicher Weise erklärte, enthielt die Flasche einen „Bittern“, den er selber unter Benutzung von „negenerlei Krütern“ zusammen destilliert hatte. Es befanden sich darunter, soviel ich mich entsinne, als hauptsächlichste Bestandtheile Heidecker, Johanniskraut, Wermuth, Kalmus, Enzian, Thymian und Hopfenblüthen. Nach Freund Wübbe’s bestimmter Versicherung, war dieser Trank das beste Mittel um einen „schiefsitzendenn“ Magen wieder in die rechte Verfassung zu bringen. Er füllte ein großes blaurandiges Schnapsglas mit diesem Zaubertrank und wir mußten ihn Bescheid thun. Obschon ich in Rücksicht auf meine Jugend zu einer halben Ration begnadigt wurde, so spürte ich den bitteren Geschmack der „neunerlei Kräuter“ dennoch fast neun Stunden lang nachher auf der Zunge.
Beim Frühstückstisch nahm das Gespräch zwischen meinem Vater und dessen Freund bald eine humoristische Färbung an. Sie hatten in F..., einem freundlichen Kirchendorfe und Amtssitz, Jahrelang als Nachbarn Haus an Haus gewohnt und stets gute Freundschaft gehalten. Die Erinnerung an fröhlich verlebte Tage wurde nun wieder einmal gründlich aufgefrischt und manches scherzhafte Ereigniß wurde erzählt und besprochen.
„Weeßt woll noch,“ so begann unter anderem im Laufe des Gespächs Freund Wübbe, sich an meinen Vater wendend, „as wi achtunveertig in’n Eekhagen dat groote Volksfest fier’n un Pastor M. ut W... en Red’holen dä? – Wer trug die Schuld daran, daß die Römer unser Vaterland ungestraft unterjochen durften? so fung de Pastor sien Red’ an un dabi keek he