an sich, bis sie schließlich heil an der Hafenpier angelangt sind und hilfreiche Hände ihnen auf das feste Land unter den Füßen helfen.
Nach dieser derart aufreibenden Anlandung versammeln sich zunächst alle Passagiere in einer sehr geräumigen Zollhalle am Bahnhof von Arica, wo sie nach Erledigung der Einreiseformalitäten Ausschau nach ihrer Habe halten. Clarissa sucht aus der gewaltigen Anhäufung von Gepäckstücken die eigenen Schiffs- und Handkoffer heraus und lässt diese mit Hilfe von mit Handkarren bewaffneten Gepäckträgern an einer Sammelstelle deponieren. Lissy und Oliver sitzen geduldig auf einem der Schiffskoffer, bis die drei Handkoffer und die nunmehr nur noch zwölf großen Gepäckstücke eingesammelt sind: Oliver hatte sich nicht getäuscht, einer ihrer Schiffskoffer ist tatsächlich verloren gegangen.
Während sich die Zollhalle nach und nach leert, sucht Clarissa händeringend nach einem Zollbeamten, der ihre Koffer zur Beladung in den Zug freigeben soll. Sie ist sehr aufgeregt, ihr Gepäck steht fast als Letztes noch ohne Abfertigung da und die ungeduldig lauten Pfeifsignale der Lokomotive, die zur Abfahrt mahnen, sind nicht zu überhören. Schließlich klappt auch dies:
„Keine Angst, Señora, Ihr Zug fährt erst dann ab, wenn das gesamte Gepäck aufgeladen worden ist“, versichert ihr der freundlich lächelnde Zollbeamte in fließendem Deutsch. Dann signalisiert er einem der Träger, die drei Handkoffer auf seine Karre aufzuladen, nimmt die beiden Kinder an die Hand und begleitet sie und Clarissa zum Bahnsteig. Mit einem Blick vergewissert sie sich, dass inzwischen auch ihre Seekoffer dort angelangt sind und in einen der Frachtwaggons am vorderen Ende des Zuges verladen werden. Mit einem zackigen Gruß an den Schirm seiner Dienstmütze verabschiedet sich der nette Zollbeamte und wenig später rollt der mit lauter Immigranten hoffnungslos überfüllte Zug langsam aus dem Bahnhof von Arica.
Glücklicherweise finden Clarissa und die Kinder das für sie reservierte Schlafwagenabteil, das sie sich mit zwei älteren Damen teilen. Eine der beiden stellt sich als Fräulein Roth vor und nimmt sich besonders nett der kleinen Lissy an.
Die 486 Kilometer lange, eingleisige Engspur-Bahnstrecke zwischen dem chilenischen Meereshafen Arica und Boliviens größter Stadt, La Paz, bedarf normalerweise einer Fahrzeit von zweieinhalb Tagen und zwei Nächten. Sie läuft zunächst kilometerweit quer durch die Atacama-Wüstenebene und entlang einiger endloser Salzseen. Später klettert sie mühsam hinauf bis zu dem 4.000 Meter über Meereshöhe gelegenen Pass, mitten durch die mit ewigem Schnee bedeckten Fünftausender der mächtigen Anden. Danach führt sie entlang der Altiplano-Hochebene und schließlich etwa 400 Meter in die Talsenke hinab, in der die Stadt La Paz zu Füßen des mächtigen und wunderschönen, mit ewigem Schnee bedeckten Berges Illimani liegt.
In den Frühstunden des nächsten Reisetages, irgendwo inmitten der bereits aufgeheizten und trockenen Geröllwüste, passiert es: Ein heftiger Ruck erschüttert den gesamten Zug, ein lautes Quietschen auf den Schienen, dann stehen die Waggons still. Durch den Bruch eines der Vorderräder der altersgestressten Dampflok ist diese entgleist und in eine tiefe Kuhle hinabgeglitten. Nun liegt sie rechts neben dem Bahndamm auf der Seite. Der beim Entgleisen tödlich verunglückte Lokführer ist das einzige Opfer, das zu beklagen ist, denn – Glück im Unglück – beim Sturz der Lok bricht deren Kupplungszapfen zum ersten Waggon, sodass der Rest des Zuges aufrecht auf den Gleisen stehen bleibt.
Die meisten Reisenden, so auch Clarissa und Oliver, so plötzlich aus dem Schlaf gerissen, springen erschrocken aus den Waggons auf den recht viel tiefer gelegenen Bahndamm. Jene wenigen Erlesenen, welche die besondere Gunst eines Schlafwagens genießen, sind meist barfuß und im Schlafanzug oder Nachthemd. So rasch, wie sie vom Waggon heruntergesprungen sind, klettern sie mühsam auch wieder hinauf, denn der sandige Boden des Bahndammes ist von den unbarmherzigen Sonnenstrahlen bereits gleißend erhitzt. Eilig hebt Clarissa Oliver wieder in den Waggon und klettert selbst hinterher. Sie gehen in ihr Abteil zurück. Lissy hat von alledem nichts bemerkt und schläft noch friedlich in ihrer Koje.
Während des Tages steigt die Temperatur auf über 40 Grad Celsius und in den Waggons wird es sowohl für die Passagiere als auch für das Bahnpersonal unerträglich heiß. Nach kurzer Zeit sind Getränke und auch das Trinkwasser versiegt, weit und breit ist in der immensen Wüstenei kein Schatten zu entdecken. Auch die Speisereserven im Restaurantwaggon sind wegen des Ansturms bald erschöpft. Erst als sich die Sonne gegen Nachmittag dem Horizont nähert, unternehmen zwei Schaffner den weiten, mühevollen Fußmarsch zur nächstgelegenen Station, um Hilfe anzufordern. Eine brauchbare telegraphische Verbindung gibt es hier nicht mehr, denn immer wieder werden die Kabel entlang der Bahnstrecke von Dieben geklaut. Die große Hoffnung einiger Passagiere auf rasche Abhilfe wird vom Zugführer jäh gedämpft: Es wird wohl mindestens noch einen weiteren Tag dauern, bis eine neue Lok aus dem über 300 Kilometer entfernten La Paz zu Hilfe herankommt.
Gegen Abend, als Clarissa die Kinder wieder ins Bett bringt, bemerkt sie, dass Olivers Kopf ungewöhnlich heiß ist. Etwas später wacht er auf und klagt über heftige Bauchschmerzen. Zudem hat er starken Durchfall. Gerade noch schafft es Clarissa, ihn zur bereits sehr übel stinkenden Toilette zu bringen. Aus ihrem Köfferchen holt sie ein Thermometer, das kurz darauf fast 39 Grad Fieber anzeigt. Sie erfährt, dass im dritten Schlafwagen ein Arzt sei, und holt diesen – sein Name ist Dr. Blumberger – herbei. Er untersucht Oliver und tastet Bauch und Magen ab. „Die ganze Abdominalgegend ist irgendwie verhärtet, Sie sollten baldmöglichst einen Arzt aufsuchen. Ich gebe Ihnen ein Schmerzmittel, damit der Junge erst mal zur Ruhe kommt.“ Dr. Blumberger überreicht Clarissa ein kleines Fläschchen. „Geben Sie ihm, solange er wach ist, stündlich zehn Tropfen.“
Die bittere Medizin verhilft Oliver zu einem ruhigen Schlaf. Auch die übrigen Passagiere im Abteil verbringen eine erholsame Nacht, denn der nächtliche Temperatursturz in dieser Gegend ist beachtlich und bringt endlich die ersehnte Abkühlung. Unbemerkt von den Passagieren macht sich die Zugbesatzung in der kühlen Dunkelheit an die Bergung der Leiche des verunglückten Lokführers. Sie wird in eine Plane gehüllt und in einen der Frachtwaggons verbracht.
Am nächsten Morgen gibt es für alle nur ein karges Frühstück: einen Becher Tee und ein halbes, vertrocknetes Stück Weißbrot – wohl die letzten schäbigen Reste aus dem Bordrestaurant. Bald brennt die Sonne wieder gnadenlos vom azurblauen, wolkenlosen Himmel herab und verbreitet abermals eine schier unerträgliche Hitze. In Clarissas Abteil hat man sich darauf geeinigt, Fenster und Tür mit sämtlichen vorhandenen Handtüchern zu verhängen und abzudichten. Nur die Tür zum Gang wird einen Spalt offen gehalten, um wenigstens ein wenig Luftaustausch zu gewährleisten. Trotz leichtester Bekleidung liegen alle schwitzend in ihren Kojen und dösen vor sich hin. Mittags bringen die Schaffner jedem Passagier eine Tasse mit gekochtem Reis. Dazu einen kleinen Becher mit einer roten, sehr scharfen Soße. Diejenigen, die diese probieren, erleben zum ersten Mal das Ají-Feuer auf ihren europäischen Geschmackspapillen, denn so werden diese äußerst scharfen Schoten in Bolivien genannt, die man in Deutschland als Chili oder Peperoni kennt und die sich üblicherweise in mehr oder weniger konzentrierter Form in nahezu allen Nationalgerichten Boliviens wiederfinden.
Nur langsam vergehen die Stunden. Das Warten auf die Ersatzlok wird immer verzweifelter. Eine Frau mittleren Alters ist offensichtlich mit ihren Nerven am Ende und schreit laut umher: „Wozu habe ich mich vor den Nazis gerettet, um hier, inmitten dieser verfluchten Einöde, elendig zu verrecken?“ Dr. Blumberger gibt ihr eine Beruhigungsspritze.
Mehrmals am Tage muss Oliver sich von seinem Durchfall erleichtern. Gegen Abend erhöht sich seine Temperatur abermals und Clarissa gibt ihm wieder die vom Arzt erhaltenen Tropfen. Zum Abendmahl „servieren“ die Schaffner diesmal jedem eine Tasse Nudelsuppe – man hat noch etwas sauberes Trinkwasser aus dem Tank der verunglückten Lokomotive abzapfen können –, die von allen gierig verschlungen wird. Gekocht wurde im Freien, auf dem offenen Feuer, das mit den Kohlen aus dem Tender gespeist wurde. Früh legen sich alle zur Ruhe. Es gibt nicht einmal mehr elektrisches Licht – die Batterien sind leer.
Kurz nach Mitternacht wacht Clarissa von dem lauten Pfeifen einer Lokomotive auf. Die lang ersehnte Rettung ist