Günter Neuwirth

Der blinde Spiegel


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verzaubert. Zehn Tage hatte er an nichts anderes denken können als an diesen Moment des Wiedersehens. Sie gingen aufeinander zu.

      „Clarissa, ich freue mich, Sie wiederzusehen.“

      Er küsste ihre Hand.

      „Guten Tag, Hermann.“

      „Wie schön Sie gekleidet sind.“

      Sie warf kurz den Kopf in den Nacken und lachte.

      „Als ich die Einladung zur Matinee des Herrn Generals bekommen habe, musste ich dieses Kleid erst ausbessern und aufbügeln lassen. Zwei Monate hatte es im letzten Winkel meines Spindes gehangen.“

      „Der Wagen wird uns bringen.“

      Er öffnete die Tür und ließ Clarissa einsteigen, dann eilte er um den Wagen herum und setzte sich neben sie auf die hintere Sitzbank. Der Fahrer legte einen Gang ein und fuhr los.

      „Sehen Sie nur, wie alle neugierig schauen.“

      Clarissa blickte zum Fenster hinaus. Meyendorff folgte ihrem Blick. Tatsächlich starrten ihnen Dutzende Augenpaare hinterher.

      „Ich habe sofort gewusst, dass Sie hinter der Einladung stecken. Ich habe mich sehr gefreut.“

      Meyendorff lehnte sich zurück und schmunzelte vor sich hin.

      „Wenn Sie wüssten, liebe Clarissa, was es für eine Mühe ist, an der Gräfin Almassy vorbeizukommen.“

      „Oh, das weiß ich. Wir haben mit ihren Richtlinien jeden Tag zu leben. Aber man munkelt, die Gräfin wird bald einen Erholungsurlaub antreten. Sie ist nicht mehr die Jüngste.“

      „Nun, ich wünsche ihr nur das Beste, aber ich musste mit dem stärksten Geschütz auffahren, um dieses Bollwerk zu durchbrechen.“

      Der Wagen rumpelte die mit Schlaglöchern übersäte Straße hinab. Meyendorff erzählte Clarissa, welche Kriegslist er hatte anwenden müssen, um an General Kirnbauer heranzukommen.

      „Übrigens, der Herr General kannte Ihren Namen und offensichtlich kennt er auch Ihren Herrn Papa.“

      Clarissa nickte.

      „Ja, mein Vater kennt viele Herren der Generalität. Ich kann mich nicht erinnern, ob General Kirnbauer schon einmal bei uns zu Gast gewesen war. Ich kann mir unmöglich alle Namen hoher Militärs merken, mit denen Papa verkehrt.“

      „Soviel ich in Erfahrung bringen konnte, besitzt Ihr Vater mehrere Fabriken.“

      „Ich habe mich nie besonders für die Fabriken meines Vaters interessiert. Ich weiß gar nicht, was da alles produziert wird. Uniformen, Tornister, Fallschirme, irgendwelche Teile für Transportflugzeuge, ich weiß es nicht. Früher gefielen mir die Empfänge, die Uniformen, die galanten Herren, die eleganten Damen. Als Kind habe ich das sehr genossen. Und ich durfte den Gästen am Klavier vorspielen. Später habe ich mich furchtbar über diese lästigen Verpflichtungen geärgert und versucht, mich im Haus zu verstecken. Aber in den letzten Jahren sind die Empfänge im Hause meiner Eltern sehr selten geworden. Mein Vater ist nämlich nicht konvertiert.“

      Meyendorff blickte kurz zum Fenster hinaus. Ihr Vater war also 1942 nicht zum römisch-katholischen Glauben übergetreten, obwohl das damals alle Juden tun mussten, wollten sie ihre gesellschaftliche Stellung nicht verlieren. Der Druck der deutschen Antisemiten war schließlich auch in Österreich-Ungarn gewaltig geworden. Die allermeisten reichen deutschen Juden hatten in Österreich-Ungarn Zuflucht gefunden, für arme hatte es diese Möglichkeit der Emigration nicht gegeben. Natürlich war die Folge der Auswanderung, dass in Österreich-Ungarn der ohnedies starke Antisemitismus hoffähig geworden war. Der Kaiser hatte zwar nie ein Gesetz zur Konvertierung unterzeichnet, aber auch ungeschriebene Gesetze können verbindlich sein. Und wer nach 1942 noch Jude war, konnte damit rechnen, gesellschaftlich gemieden zu werden. Wie es wohl Wenzel Roth geschehen war. Meyendorff kannte alle diese Zusammenhänge, aber das war Politik und Politik war ihm als Frontoffizier in Wahrheit völlig egal. Ob Clarissa Jüdin, Protestantin, Orthodoxe, Muslimin oder Katholikin war, war ihm einerlei, er liebte sie über alle Grenzen und Konfessionen hinweg.

      „In ein paar Minuten werden wir da sein“, sagte er.

      Der Wagen fuhr mit flottem Tempo durch das Nobelviertel. Hier lebten die türkische Oberschicht und die Führer der k. u. k. und deutschen Streitkräfte und Verwaltung. Die Straßen waren halbwegs gut gepflastert, die Häuser proper, die Gärten gepflegt.

      „In diesem Teil der Stadt war ich noch nicht. Sehen Sie nur die Häuser! Der orientalische Baustil ist faszinierend, nicht wahr?“

      Meyendorff genoss Clarissas Begeisterung mehr als das schmucke Viertel. Der Wagen hielt vor einem großen Portal. Meyendorff bezahlte und sie stiegen aus. Eine hohe Steinmauer umfriedete General Kirnbauers Garten. Vor dem Portal standen drei Männer der Garde, ein Korporal mit einer Liste in der Hand und zwei voll adjustierte und stramm stehende Wachen. Der Korporal salutierte.

      „Herr Oberleutnant, Ihre Einladung bitte.“

      Meyendorff musterte den Mann kurz. Dieser hatte gewiss viel Routine bei der Kontrolle der Einladungen zu den Empfängen des Generals. Er reichte dem Korporal die beiden Einladungen, woraufhin dieser Vermerke auf seiner Liste anbrachte. Hinter ihnen rollten eben drei Autos heran, aus denen Offiziere verschiedener Armeen stiegen. Zwei Österreicher, ein Ungar, ein Deutscher, ein Bulgare und zwei Perser. Meyendorff grüßte die Herren förmlich, öffnete das Portal und ließ Clarissa eintreten.

      Sie fanden sich plötzlich in einem kleinen Paradies wieder. Meyendorff war überrascht, aber Clarissa wirklich hingerissen.

      „Oh, wie schön es hier ist.“

      Hohe Palmen standen entlang eines mit weißem Kies geschotterten Weges, blühende Oleandersträucher, Kakteen, Blumenbeete in tausend Farben, der Garten war ein Refugium der Schönheit und des Luxus. Und dann erst die Villa. Eine Jugendstilvilla mit orientalischen Elementen. Ein kolossales Haus. Meyendorff war für einen Augenblick vom Prunk dieser Wohnstätte geblendet. Der General verfügte wohl über gehörige Mittel. Allein die Anlage des Gartens musste Unsummen verschlungen haben. Er bot Clarissa seinen Arm an, sie hakte sich ein. Der Kies knirschte unter ihren Schritten. Ein livrierter Diener stand am Haustor und nahm Clarissas Täschchen sowie Meyendorffs Mütze und Handschuhe.

      Sie traten in das Haus. Schlanke Säulen trugen das Gewölbe der großen Aula. An die fünfzig Personen waren schon anwesend, standen in kleinen Grüppchen beieinander und plauderten. Mehrere Diener gingen mit silbernen Tabletts auf und ab und boten gekühlte Limonade an. Auf einem Sockel standen der General und seine Frau, die eben von einigen türkischen Zivilisten umringt waren. Wahrscheinlich Stadtpolitiker, mit denen der General stets ein gutes Auskommen suchte.

      „Da ist General Kirnbauer“, flüsterte er Clarissa zu. „Wir müssen seiner Frau und ihm die Aufwartung machen.“

      Clarissa nickte. Ihre Augen glänzten. Obwohl ihr Vater ein reicher Mann und der Wohnsitz ihrer Familie in Lemberg eine ausladende Villa war, hatte sie solchen Prunk bislang nur einmal gesehen, das war im Schloss Schönbrunn gewesen, in der kaiserlichen Residenz.

      Beide stellten sich an den Fuß des Sockels und warteten, bis die türkischen Politiker ihr Begrüßungsgespräch mit dem General abgeschlossen hatten. Einer der Türken übersetzte die wortreichen Äußerungen seiner Kollegen. Der General nickte nur, bejahte, lächelte und war sichtbar glücklich. Das war sein Leben, das war seine Lust, rauschende Empfänge, Prunk und Pracht, Luxus und hohe Politik. Die Türken verneigten sich, küssten der Frau ganz im Stile österreichischer Kavaliere die Hand und traten vom Sockel.

      General Kirnbauer strahlte wie die Sonne am Bosporus.

      „Da sind Sie ja, Herr Oberleutnant. So kommen Sie doch her. Kommen Sie.“

      Meyendorff führte Clarissa die drei Stufen hoch.

      „Meine liebe Amalie, jetzt kann ich dir endlich unseren Oberleutnant von Meyendorff vorstellen, der sich wochenlang vor seiner Verpflichtung gedrückt hat, uns