Adrian Plass

Der Schattendoktor


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      Jack steckte seinen Schlüssel in die Tasche, raffte den Umschlag und die Briefbögen zusammen, zahlte an der Theke seine Rechnung und ging auf sein Zimmer im zweiten Stock. Dort, in der geordneten Zurückgezogenheit, die nur in einem doppelt verriegelten Hotelzimmer zu finden ist, nahm er sich einen Whisky aus der Minibar und machte es sich an dem Fenster bequem, das laut Broschüre einen »Seitenblick aufs Meer« bot. Dieses Extra verteuerte den Zimmerpreis pro Nacht um zehn Pfund, aber Jack fand, dass sich jeder Penny dafür lohnte. In diesem behaglichen Erker fühlte er sich paradoxerweise viel näher an der dunklen, wogenden See und dem verlassenen Strand, den anderen verirrten Seelen und dem hoch aufragenden Beachy Head weit drüben im Westen.

      Er nahm den Brief seiner Großmutter zur Hand und las weiter:

       Und so marschierten wir los, Jack, ich wieder total vermummt und er mit hochgeschlagenem Mantelkragen, und ich muss sagen, es tat gut, mich auf einen starken Arm stützen zu können. William wäre das nur recht gewesen. Nicht, dass ich allein hinunter ans Ufer gegangen wäre. Darüber hätte er mit mir geschimpft. Aber Hilfe von einem freundlichen Herrn anzunehmen – das hätte er als vernünftiges, besonnenes Verhalten angesehen.

       Ohne etwas zu sagen, stiegen wir die Stufen hinauf und überquerten die King’s Parade hinüber zur anderen Straßenseite. Es hätte auch keinen Sinn gehabt. Der Regen war nicht mehr so schlimm wie zuvor, aber der Sturm drosch auf alles ein, was sich ihm in den Weg stellte, wie ein Wahnsinniger, der spürte, dass man ihm eine Zwangsjacke anlegen wollte. Erst im Schutz des kleinen weißen Vordaches vor meiner Wohnung konnten wir uns wieder sprechen hören. Im Licht der Außenlampe über meiner Tür konnte ich ihn jetzt deutlicher sehen. Sein Alter hatte ich etwa richtig eingeschätzt, glaube ich. Er hatte ein gutgeschnittenes Gesicht. Glattrasiert. Gutaussehend, aber nicht so wie ein Filmstar. Eher wie ein Bühnenschauspieler. Ein zerfurchtes Gesicht mit vielen Falten, die es aber nur interessanter aussehen ließen. Die Augen traurig, aber freundlich. In ihnen schlummerte vielleicht so etwas wie eine schwererrungene Freude, wenn Du Dir darunter etwas vorstellen kannst. Braunes, gewelltes Haar, ein bisschen lang für sein Alter, durchzogen von grauen Strähnen und von Wind und Regen zu Locken zerzaust. Er sah so beruhigend aus, wie er dort stand, die Hände tief in den Taschen seines Barbour-Mantels vergraben. Er wartete wohl, nahm ich an, dass ich in meiner Wohnung verschwinden und die Tür sicher hinter mir schließen würde. Ich hatte schon angefangen, irgendetwas ziemlich Vorhersehbares zu sagen, um ihm für seine Hilfe zu danken, als er mich unterbrach.

       »Alice«, sagte er, »ich würde sehr gerne William kennenlernen, wenn das möglich ist.«

       Mein Sicherheitsschlüssel steckte schon im Schloss, als er das sagte. Ich erstarrte. William war nicht da. William war tot. Ich hatte diesen Mann, der sich Doc nannte, angelogen.

       Egal. Irgendeine knappe Ausrede. Das Essen steht bestimmt schon auf dem Tisch. Ein anderes Mal vielleicht. Sehr nett von Ihnen, dass Sie mich nach Hause begleitet haben. Irgend so etwas.

       »Ja, das wäre nett. Kommen Sie herein, und ich stelle Sie William vor. Es ist reichlich zu essen da, genug für zwei.«

       Nachdem wir ein paar Minuten später unsere nassen Sachen in der Diele deponiert hatten, führte ich ihn ins Wohnzimmer und bot ihm den größeren Sessel an, den unter dem Kunstdruck, den Du so magst. Du weißt schon, den mit dem Titel »Freunde«, mit zwei Männern, die nebeneinandersitzen und ein bisschen nervös dreinschauen, aber immerhin bereit sind, sich malen zu lassen. Du hast ihn natürlich inzwischen geerbt, nicht wahr, Jack? Was für ein schöner Gedanke, dass ein Bild, das William sehr liebte, jetzt an einer Wand in Deinem Haus hängt.

       Ich plappere so, weil es mir peinlich ist, was ich Dir jetzt zu erzählen habe. Ich will beschreiben, was mein Gast gesehen haben muss, als er auf diesem Sessel Platz nahm und sich umschaute. Am hinteren Ende des Zimmers war mein Tisch mit den ausklappbaren Beinen, an dem Du und ich manchmal gesessen haben, fürs Abendessen gedeckt. Es waren zwei Gedecke da. Zwei Tischsets, zwei Weingläser, zwei Wassergläser, zwei kleine Teller und zwei bestickte Servietten, die in den schönen alten silbernen Serviettenringen von meiner Mutter steckten. Auf dem Tischset gegenüber der Küchenluke stand, dem anderen Platz zugewandt, ein Foto. Es war ein Porträt von William, das ein paar Jahre vor seinem Tod aufgenommen worden war. Kurz bevor er sich auf den Weg in die Stadt machte, um dieses Foto machen zu lassen, lachten wir noch darüber, dass ich ihn gebeten hatte, so zu tun, als lächelte er mich an, wenn der Fotograf auf den Auslöser drückte. Ich glaube wirklich, das hat er getan. Alles, was mein Mann mir bedeutet hat, steckte in diesem Bild.

       Während dieses ganzen elenden Januars hatte ich mir angewöhnt, jeden Abend den Tisch für William und mich zu decken. Während ich das Essen vorbereitete, plauderte ich mit ihm durch die Luke, und dann unterhielt ich mich mit ihm, während ich aß, und genoss es, dass er mir dort gegenübersaß und mir lächelnd zuhörte. Jämmerlich, nicht wahr, Jack? Eine dumme alte Glucke, die sich selbst Theater vorspielt, um eine Lücke in ihrem Leben auszufüllen.

       Ich glaube, mein Gast wusste sofort, was los war. Ich hatte sogar das Gefühl, er wusste es schon, bevor er durch meine Tür trat. Ein paar Minuten lang saß er einfach nur da auf dem Sessel, das Kinn auf seine verschränkten Finger gestützt, und wartete darauf, dass ich etwas sagte. Ich kam mir vor wie ein kleines Mädchen, als ich da neben dem Tisch stand und nervös mit den Fingern meiner einen Hand auf die andere Handfläche trommelte.

       »William ist schon lange gestorben«, brachte ich schließlich stotternd heraus. »Ich wohne allein hier.«

       Er nickte lächelnd und sagte ganz freundlich: »Das dachte ich mir irgendwie schon, Alice.«

       »Wie habe ich mich verraten?«

       Er lächelte traurig. »Keine großartige Detektivleistung, fürchte ich. Sie sagten, es sei genug zu essen für zwei da. Also …«

       »Ach du meine Güte, ja, wie dumm.«

       »Was ich rätselhafter finde, Alice, ist, wieso Sie mich überhaupt hereingebeten haben.«

       Jack, weißt Du, was ich meine, wenn ich sage, dass man sich manchmal einen Moment Zeit nehmen muss, um ganz tief im eigenen Innern herumzuwühlen und die nackte Wahrheit zum Vorschein zu bringen? Selbst wenn sich dann herausstellt, dass es etwas ist, was man eigentlich gar nicht laut aussprechen will? So ging es mir, als er mir diese Frage stellte.

       »Nun ja – schauen Sie, ich möchte wirklich nicht, dass Sie falsch verstehen, was ich jetzt sage – äh, ich soll Sie Doc nennen, sagten Sie?«

       »Ja, Doc ist gut.«

       »Okay. Also, es ist so – Doc. Obwohl ich Sie erst seit einer halben Stunde kenne, möchte ich … möchte ich, dass Sie mich für eine Person halten, die Ihnen die Wahrheit sagt. Ich weiß, bisher spricht die Bilanz eher gegen mich. Ich habe da unten am Strand einen ganz schlechten Anfang gemacht, aber wissen Sie, das wollte ich wiedergutmachen. Oje, hört sich das sehr dumm an? Schließlich gibt es ja eigentlich gar keinen Grund, warum Sie …«

       »Was gibt es zum Abendessen, Alice?«

       Mein Gehirn schaltete mit Doppelkuppeln in einen anderen Gang. (Das sagt Dir jetzt wahrscheinlich nichts, aber ich habe keine Lust, es Dir zu erklären.)

       »Was? Ach ja, natürlich. Mögen Sie überbackenen Käsetoast mit Speck?«

       »Hört sich großartig an.«

       »Gut, dann, äh, räume ich nur schnell William ab, ja?«

       Wir mussten beide lächeln, als ich das sagte. Es war, als platzte eine kleine Blase. Durch die Luke und dann am Tisch beim Essen plapperte ich unentwegt über mein Leben, meine Ehe, über Dich, meine chronische Einsamkeit, und dann, als wir es uns auf den Sesseln bequem gemacht hatten, an Schokosticks knabberten und einen ziemlich anregenden äthiopischen