was für das innere Auge nie da war – und das Sichtbare überzeugt stets mehr als Entwurf und Gedanke. So bleibt der stillgestellte Spiegelkörper die einzig mögliche Wahrnehmung vom Ich und seinem Auftritt – und so muss das Spiegelbild recht bekommen.
Nur eine einzige Frau habe ich kennengelernt, die ihr Bild und sich selbst im Spiegel genoss: Nana. Diese Szene in Zolas Roman, nackt vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers, ist die aus allen Werken Zolas am häufigsten zitierte Stelle, denn eine pikantere lässt sich kaum denken. Was aber Männer als Frivolität erleben oder, um es von sich abzurücken, als Kitsch verurteilen, beschreibt die Utopie des weiblichen Daseins: die glückliche Begegnung mit dem eigenen Körper. Das Einverständnis mit dem erscheinenden Selbst, das, wie bei Nana, zur Gesprächspartnerin wird, jede Geste wiederholt und einverständig beantwortet – das Ich als Freundin! Mit ihr führt Nana ein Gespräch, in dem die Sinnlichkeit Thema ist, die Geschlechtlichkeit aber ganz vergessen. Nana stammt nicht aus der Rippe des Adam, sie ist auch nicht dem Haupt des Zeus entsprungen, sondern dem eines Psychologen, dessen Scharfsicht ihn zum Romancier bestimmte. Die weibliche Sensibilität, die sich ihrer selbst im 19. Jahrhundert bewusst wurde, die Erkenntnis, dass der Charakter der Frau aus mehr besteht als aus Keuschheit oder Unkeuschheit, ist die Voraussetzung dafür, dass Zolas Figur denkbar wurde: die Frau, die ihre Geschlechtlichkeit vermietet und ihre Sinnlichkeit für sich behält. Nana, die ihren Körper opfert, ist wie ein Antiquar oder Kunsthändler, der seine über alles geliebten Bücher, Bilder, Möbel an zahlungskräftige Snobs verkauft.
Übrigens haben auch Spiegel ihre Launen. Nicht jeder wirft von einer und derselben Figur immer ein und dasselbe Bild zurück: Je nach Schliff und Hintergrundbeschichtung des Glases schneidet der eine Spiegel tausend Furchen ins Gesicht, der andere glättet es, der eine längt die Figur, ein anderer zieht sie in die Breite. Modegeschäfte, die wissen, dass glückliche Kundinnen leichter kaufen, achten darauf, dass ihre Spiegel sie schlanker aussehen lassen, als sie es wirklich sind. In der Anprobekabine entsteht, umstellt von mehreren, auf die Längung des Körpers geschliffenen Spiegeln, ein halbwegs gnädiger Eindruck von der eigenen Figur. (Vor allem erhascht die Käuferin, die noch zögert, in diesem Spiegelkabinett einen überraschenden Blick auf ihre Rückseite, die für die heutige Hosenträgerin eigentlich wichtiger ist als das Gesicht. Für Momente richtet sie ein männliches Auge auf sich, sie sieht, was an ihr das Verführerischste ist, und die Plötzlichkeit dieser Erscheinung kann für Augenblicke die Selbstkritik vergessen machen.)
Der Spiegel im römischen Hotel, betrachtet von meinem Sessel im Foyer aus, hatte die bräunliche Färbung des hohen Alters, und so mag er im mediterranen Dämmer des Innenraums ein gar nicht so schlechtes Abbild, ein romantisch verdunkeltes, zurückgeworfen haben. Ich selbst blickte in diesen Spiegel nie, wie ich nach Möglichkeit in gar keinen Spiegel blicke. Spiegel suche ich stets zu meiden. In der Stadt, in der ich wohne, kenne ich jeden Ort, wo einer lauert, und wenn ich mich ihm nähere, strafe ich den Missgünstigen mit Verachtung: Ich lasse mir doch nicht schon wieder, sage ich zu ihm, die Stimmung verderben. Es gab eine emanzipierte und gescheite Frau in meiner Umgebung, die ihr gesamtes Haus, jede Ecke, wo es nur eben ging, das Treppenhaus, die Gänge, die Zimmer mit Spiegeln tapezierte. Sie war einer der unglücklichsten Menschen, die ich kannte. Wenn ich mit ihr in einem Restaurant beim Abendessen saß, lief sie jede Stunde zur Toilette, um in den Spiegel zu sehen und festzustellen, dass so vieles in ihrem redseligen Gesicht nicht mehr stimmte, sie sich also aufs neue zu schminken habe – eine Frau, die ihrem Spiegelbild mit Mühe nur und nicht allzu lange entkommt, ist das tragische Gegenbild der Nana.
Die Kosmetik, die dieser Freundin zu Recht eine unzuverlässige Helferin und in ihrer Wirkung sehr vergänglich zu sein schien, ist allerdings der wahre Unglücksträger der weiblichen Aufmachung, da sie die Frau unweigerlich an den Spiegel verweist. Wer sich nicht zu seinem Naturgesicht bekennt, ist täglich auf ihn angewiesen. Auf jeden Fall schaut man nur in ihn hinein, um Fehler zu entdecken und zu korrigieren – warum sonst bräuchte es Kamm, Creme, Pinsel, Make-up! Also kann der Blick in den Spiegel nichts als Unzufriedenheit auslösen. Mit dieser Korrektur der Schöpfung, die man sich allmorgendlich, allabendlich und vor jedem Ausgang anmaßt, konzentriert man sich auf den lebendigsten Teil des Menschen, auf jenen, der in jeder Minute, in jeder mimischen Nuance über alles, was Mode ist, hinausreicht. Dieser Lebendigkeit begegnet der Spiegel mit einer Grimasse. Um allerlei Farbe auf die kleine Fläche des Gesichts aufzutragen, muss man Gesichter schneiden, Augen aufreißen oder zwinkern, den Mund verzerren und sich an der Nase herumführen wie ein Narr. Aus diesem Ritual soll eine Göttin entstehen?
Seltsamerweise hat der Spiegel zu Hause, vor dem ich mich schminke, dann doch einen Freundschaftspakt mit mir geschlossen. Bin ich fertig mit der Maquillage und nehme ein wenig Abstand von ihm, so sagt er doch tatsächlich, wenngleich zögernd: »Na ja, es geht!« Habe ich den Freundlichen, Gnädigen verlassen und schlendere unvorsichtigerweise vor einem fremden Spiegel mitten in mein Abbild hinein, so springt mir doch schon wieder dies Medusenhaupt entgegen. Wieder laufe ich herum mit dem Gefühl der bösen Schwiegermutter unter lauter Schneewittchen.
»Wer ist die Schönste im ganzen Land?« – diese Frage ist das Motto eines jeden Spiegels. Wenn ich ein Kleid erwerbe, ist es noch immer die Kreation eines Modedesigners, zu dessen Einfall und Kunst ich ja oder nein sagen darf, die Schöpfung eines anderen, deren Erwerb freudige Hoffnungen weckt; es ist etwas anderes als ich und die Haut, die es umhüllen soll. Es hat einen Stoff, der mir gefällt, Farbe, Machart – aber alles dies ist nicht von mir erdacht, ich habe keine Verantwortung dafür, es ist ein Geschenk für mich. Dies gottgegebene Antlitz aber kann nicht verkleidet, nicht interpretiert werden wie die Figur, zu der das Kostüm einen Charakter hinzufügt, es soll vielmehr neu erschaffen werden – und welcher Gott würde eine solche Anmaßung nicht bestrafen!
Spiegel sind Werkzeuge. Das vom metallischen Glanz umrahmte Abbild, das darin erscheint, will bearbeitet sein, um endlich so zu erscheinen, wie man im Auge der anderen zu erscheinen hofft. Der Spiegel ist eingesetzt als Stellvertreter des fremden Auges und akzeptiert als Autorität. Das Auge aber, dem man auf der Straße begegnet, hat andere Formen der Reflexion als der Spiegel an der Wand. Die Widerspiegelungen aus diesem fremden Auge setzen sich zudem in die Reaktionen des Gegen über um, die mimischer, tänzerischer, musikalischer Art sind; sie müssen erahnt oder interpretiert werden. Man erkennt sich im Schauspiel der anderen, in ihren Mienen, Worten, im Ton ihrer Stimme. Dies lenkt, anders als beim quecksilbrigen Spiegel, die Beobachtung zunächst einmal ab vom eigenen Ich. Nun wird die Lust, sich zu kleiden, an der Reaktion des andern überprüft und, wie bei jeder Inszenierung, fürchtet sich der Regisseur vor der Kritik. Schaut der andere etwa gar nicht her? Oder reißt es ihn herum? Parkt er gar sein Auto an der Ecke und läuft der modischen Schöpfung nach, oder kümmert sich niemand um das, woran mir so viel liegt? Sagt der andere ein Wort wie jener Geschäftsmann in Frankfurt, der die Frau im Minirock auf Plateausohlen – höher, kürzer, bunter ging es nicht – als »Nonplusultra« titulierte? Oder verharrt er im Nachdenken über seine Geschäfte und bleibt stumm?
Überhaupt das Wort, dieser akustische Spiegel, in dem zu erscheinen man bänglich hofft, ist der allertückischste. Man traut ihm, anders als der Erscheinung im Spiegel, eben doch nicht. Auch der Spiegel der Worte verzerrt das Bild; er lässt es zu Satzfetzen zusammenschrumpfen, die meist wohlwollend sind und gerade deshalb nur Misstrauen provozieren. Sagt einer: »Sie sehen heut’ aber gut aus«, so weiß man – oder weiß nur ich es? –, dass ich an anderen Tagen nicht gut aussehe; warum sonst hätte das bessere Aussehen eigens bemerkt werden müssen! Sagt einer: »Das ist aber eine originelle Jacke«, höre ich heraus, dass ich sonst nur Kittel trage. Sagt meine Schulfreundin beim Klassentreffen nach vierzig Jahren: »Du hast einen knackigen Hintern«, dann denke ich: O Gott, was meint die wohl zu meinem Vorderteil, über das sie schweigt. Schwärmt ein Philosoph in Tübingen: »Wie froh bin ich, wieder einmal in ihre aquamarinblauen Augen zu sehen«, dann weiß ich, dass ein homosexueller Mann einer Frau gegenüber stets übertreibt und dass ein Philosoph mit der Poesie nur ironisch umspringt. Also: das Kompliment – auch das taugt nicht als verlässlicher Spiegel! In jedem Kompliment entdecke ich nichts als den Hohn auf die Bitte: Seht mich an! Zu angemessenem Lob für das Ideal, dem man zustrebt, wäre höchstens ein Petrarca fähig, mit einem Canzoniere voller Anbetung:
Ihr Lichter auserlesen:
Euch