John M Littlejohn

Psychophysiologie (1899)


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Sprache existiert hat. Bei der Hand-Sprache dient die rechte Hand als Hauptinstrument. Das stimmt mit der Feststellung überein, dass Rechtshändigkeit und Sprechen bei im Vergleich zum Menschen niedereren Lebewesen nicht vorkommen.

      Dementsprechend ist die Entwicklung des tierischen Gehirns bestimmungsgemäß und die beiden Gehirnlappen weichen nicht voneinander ab. Das zeigt, dass die Sprechorgane, die überwiegende Verwendung der rechten Hand und das, wofür sie stehen (nämlich die Gehirnzentren im selben Bereich und Lappen des Gehirns), in enger Beziehung zueinander stehen. Die Frage, ob diese Beziehung natürlich ist oder erworben, also ererbt, wurde im Licht der Entwicklung von Geist und Gehirn erörtert. Dies weist zumindest darauf hin, dass es im menschlichen Gehirn eine feste und klar umrissene Grundlage für Geist und mentale Aktivität gibt und dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Geist und Körper, die sich beide voneinander abhängig entwickeln und sich dabei gegenseitig beeinflussen.

      Genau das macht die Psychologie im medizinischen Bereich so wertvoll. In der Vergangenheit haben Physiologie und Medizin unterstellt, der Körper sei etwas ganz Anderes als der Geist. Und auch die Psychologie vertrat diese Anschauung. Moderne Psychologie und Physiologie betrachten den Menschen dagegen als Einheit von Geist und Körper. Der Körper gilt als Instrument und Medium der mentalen Offenbarung8, sodass eine der Grundbedingungen für Gesundheit in einem Geist und einem Bewusstsein besteht, die den Körperzustand bestimmen. Der Körper ist zwar eine Maschine, jedoch keine die, einmal aufgezogen, über Jahre hinweg gänzlich unter äußerem Einfluss funktionieren kann. Seine Formung und Gestaltung geschehen vielmehr von innen. Mentale Funktion ist die Basis jeder physischen Funktion. Hinter den physischen Vorgängen Verdauung, Atmung und Blutkreislauf gibt es einen mentalen Zustand, der den Körperzustand bestimmt. Es ist eine bekannte Tatsache, dass die Zivilisation Krankheit und Körperschwäche Vorschub leistet, weil mit ihr eine mentale Erregung einhergeht, die der körperlichen Gesundheit nicht förderlich ist. Sie bringt eine stärkere mentale Anstrengung und einen größeren Selbstbehauptungskampf mit sich, die dazu führen, dass die normale Entwicklung von Geist und Körper vernachlässigt wird. Daraus resultieren zahllose gestörte Zustände und Krankheiten. Wir stimmen nicht den Ruf an: Zurück zum Leben der Wilden! Doch wir sagen: Zurück zu dem Zustand, der eine niedrigere Ebene repräsentiert – nämlich: die Abwesenheit mental störender Zustände, die körperliche Wracks erzeugen, neuronale Verwirrung verstärken und Krankheit oder Tod bewirken. Indem wir das osteopathische Prinzip anerkennen, dass Medikamente unnatürlich und alle Heilmittel der Natur im menschlichen System gespeichert sind, haben wir das psychische Gesetz der Vorherrschaft des Geistes. Und will man es zum Beseitigen jener krankhaften Zustände anwenden, muss im Innern begonnen werden. Die Anpassung muss durch den Geist geschehen und der mentale Zustand muss zunächst an die Körperzustände vollkommener Gesundheit angepasst werden. Da gibt es nur ein Rezept: Pflege und ständige Aufrechterhaltung des mentalen Gleichgewichts. Wie wir wissen, beeinflussen plötzliche Emotionen den Blutkreislauf, den Herzrhythmus, die Atmung, sie zerstören die Sekretionen, beeinträchtigen die Verdauung und verursachen sogar den Tod. Werden solche Emotionen chronisch, wie ist es dann möglich, das System nutritiv vollständig zu versorgen? Die physiologische Chemie hat belegt, dass ein derartiger chronischer Zustand toxische Substanzen produziert, die jeden normalen körperlichen Prozess beeinträchtigen. Solange diese Substanzen da sind, ist Gesundheit unmöglich. Und es kann keine physische Immunität gegen Krankheit geben, weil das System für alle Arten von Keimen offen steht. Derartige vererbte oder erworbene Zustände bilden die Grundlage für jede Art von physischer und mentaler Erkrankung bzw. Schwäche. Von diesem Standpunkt aus dringt Krankheit in ein physisches und mentales Lebewesen ein, das immun sein sollte, dies aber nur sein kann, wenn es gut ausbalanciert bzw. ausgeglichen ist. Den Geist zu heilen und ihm im menschlichen System jene günstige Ausgangsposition zu verschaffen, von der aus er den Körper erhebt, statt ihn niederzudrücken, ihn kräftiger macht, statt ihn zu erschöpfen, ihn vor allen möglichen verheerenden Auswirkungen von Krankheit bewahrt, statt ihn schutzlos preiszugeben – das ist die Absicht der Psychologie, sobald sie den Bereich der Medizin betritt.

      Die moderne Psychologie ist in hohem Maße anderen Wissenschaften verpflichtet. Ebenso wie die Physiologie dadurch revolutioniert wurde, dass man sie im Lichte physischer und chemischer Prozesse erklärte, schuldet die Psychologie der Physiologie, der Physik und sogar der Astronomie Dank. Helmholtz hat vor nahezu einem halben Jahrhundert die Geschwindigkeit der Nervenimpulse gemessen. Die peripheren Nervenzellen stellen jedoch nur einen Teil des Nervensystems dar, während das Gehirn das besondere Medium mentaler Manifestation bildet. Mit der mentalen Aktivität gehen bestimmte Prozesse im Gehirn einher. Und weil das Individuum seine Erfahrung im Zusammenhang mit bestimmten Stimuli kennt, hat man verschiedene Körperteile stimuliert, sodass die für eine Muskelreaktion erforderliche Zeit gemessen werden konnte. Eng verbunden mit diesen Untersuchungen waren Forschungen zu den Nervenfunktionen im Zusammenhang mit den Endorganen, sodass heute die Beziehungen zwischen sensorischen Funktionen und mentalen Aktionen klar verstanden werden. Jede Erfahrung basiert auf irgendeiner physischen Grundlage, und hier zeigt die Physik, dass es möglich ist, Sinnesempfindung, Emotion und Volition9 mit äußeren, den physikalischen Gesetzen unterliegenden Objekten zu verbinden. Diese physikalischen Wissenschaften haben also den Weg für die psychische Betrachtung des Geistes aus einer physiologischen Perspektive eröffnet. Psychologie beginnt mit dem Nervensystem, stellt Korrelationen zwischen Geist und Gehirn her und öffnet einen Weg, um psychologische Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen. Das Gehirn erfordert Differenzierung, die Nervenbahnen müssen verfolgt werden und die molekulare Aktion und Interaktion der Nervenelemente müssen eindeutig bekannt sein. Das Studium des Zentralen Nervensystems ist hier von großer Bedeutung, denn nur hier kann Psychologie ihre Vervollkommnung finden.

      Platon war der Ansicht, die Gottheit habe aus dem göttlichen Wesen sublunare Geschöpfe gebildet, die wiederum den animalischen Körper geschaffen und ihm diesen göttlichen Anteil als unsterbliches Element weitergegeben hätten. In der Seele finden wir Platon zufolge den Geist als Sitz der Intelligenz sowie den animalischen und materiellen Anteil als Sitz der Leidenschaft einschließlich Mut und auch als Sitz des Triebs. Der Geist wohnt im Gehirn, die Leidenschaft im Herzen und die Triebe samt Begierden in den unteren Körperteilen. Bei Aristoteles werden die psychischen Vorgänge als Einbildungskraft, Urteil und Sinnesempfindung klassifiziert. Bei ihm sitzt der mentale Aspekt im Herzen, das Gehirn übernimmt die Aufgabe, das Herz zu kühlen. Erasistratos identifizierte als Erster das Nervensystem als klar umrissenes System, auf das er das Funktionieren mentaler Phänomene zurückführte. Er betrachtete die Luft als die Lebenskraft und verfolgte ihren Weg in die Lungen, durch das Herz und schließlich zum Gehirn, wo sie ihm zufolge zum vitalen bzw. animalischen Geist wird. Auf diese Weise wurden Geist und Körper eng verbunden, die mentalen Phänomene hingen untrennbar mit den Nervenfunktionen zusammen. Galen wiederum sagte, nachdem er entdeckt hatte, dass das Blut essenziell für das Leben ist, der animalische Geist müsse im Blut sein. Und doch betrachtete er das Gehirn als die grundlegende Nervenstruktur sowie als Sitz von Volition und Sinnesempfindung, das rein physische Körpersystem mit seinem muskulären Mechanismus hingegen als völlig abhängig vom Nervensystem. Damit ist der Wissensstand bis in neuere Zeiten markiert. Dem Engländer Willis gebührt die Ehre, vor mehr als 200 Jahren die modernen Ideen hervorgebracht zu haben. Er hielt das Gehirn für den Sitz der menschlichen Seele, für die Haupt-Antriebskraft im animalischen Mechanismus, für die Quelle aller Bewegung und allen begrifflichen Erfassens. Die Gehirnwindungen waren für ihn Zellen oder Speicher, die die Grenzen der Bewegungen des animalischen Geistes markieren. Der Kortex galt ihm als Sitz der Gedanken und als zentrales Organ10 für Bewegung und Vorstellungskraft. Newton ergänzte diese Entdeckung aus physikalischer Sicht, indem er erklärte, dass die Reize entlang der Nervenbahnen als Schwingungen verbreitet werden. Dazu kommt die Tatsache, auf die schon Willis hingewiesen hat: dass nämlich das Nervensystem die Grundlage der Reflexhandlung darstellt. Mit dieser Ergänzung der Neurologie bezüglich der Differenzierung und Lokalisierung der Funktion haben wir dank der Forschungen von Männern wie Bell oder Ferrier die Basis psychologischer Aktivität im Zusammenhang mit dem Gehirn und dem Nervensystem. So sind wir im Verlauf der Geschichte also schrittweise zu unserem gegenwärtigen Wissensstand gelangt.

      Obgleich das Nervensystem Basis und Medium für mentale Vorgänge ist, dürfen wir nicht vergessen, dass im höheren Bereich der Psychophysiologie der Geist die bestimmende Kraft darstellt und dass in einem physiologisch gesunden