werden die unleugbaren Effekte der Grundmechanismen des Kapitalismus nie anders als geistig hergeleitet. Und Biedenkopf sieht diese Effekte! Das verselbständigte exponentielle Wachstum des westlichen Akkumulationstyps zerstört jedes Gleichgewicht, sagt er. Er spricht sogar die – für west-ideologische Ohren – Ungeheuerlichkeit aus, dass in der gegebenen Weltwirtschaftsordnung »die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden«, dass das hegemoniale Muster dieser Ordnung »nicht verallgemeinerungsfähig« ist und folglich die Menschenrechte im Verhältnis der Akkumulationszentren zu ihren Armutsperipherien ad absurdum führt (1046f).
So ist es nicht weniger als ein Untergangszenario, was er entwirft. Und wieder fällt seine Erklärung, mit Brecht zu reden, »nie unter ein geistiges Niveau hinunter«, weil er die herrschenden Interessen ungeschoren lässt. Die Katastrophe der Menschheit erfolge unterm »Einfluss von Aufklärung und Industrialisierung« (1038). Mit andern Worten: »Eine wesentliche Ursache für diesen scheinbaren Zwang zum exponentiellen Wachstum sehe ich im Zusammenwirken von technisch-naturwissenschaftlicher Entwicklung, Säkularisation und modernem wissenschaftlichem Denken.« (1041) Keine Rede von der Jagd nach Profit und Extraprofit; auch nicht davon, dass den Profitjägern ihrerseits Krisengefahren und Untergangsdrohung im Nacken sitzen. Die kapitalistische Akkumulation ist grenzenlos; wo ihre Resultate, vor allem in Gestalt der Überproduktion von Kapital, ihr selbst zur Grenze werden, stürzt sie die Wirtschaft in die Krise. Militärkeynesianismus (mit und ohne Krieg) und andere Formen der Kapitalzerstörung bilden Standardauswege. Technologie und Wissenschaft sind Material solcher Prozesse, nicht das Maßgebende.
Biedenkopf scheint zu vergessen, dass die faktisch zur Geltung kommenden »Bedürfnisse« nicht Ausgangspunkt sind, sondern Resultat eines Prozesses von Versagungen und Kompensationen. Sieht er denn nicht die systembedingte Abdrängung des menschlichen Wesens ins Konsumtive, weg aus Kommunikation und sozialer Gestaltung, bei gleichzeitiger »Monetarisierung« der Bedürfnisbefriedigung und kulturbildender Macht der Warenästhetik? Was die vermeintliche Unheilsrolle der Erkenntnis betrifft, stößt Biedenkopf immerhin auf die »Frage der gesellschaftlichen Verwertung des Wissens«. Schreckt aber sofort zurück vor dem Unaussprechlichen, der kapitalistischen Produktionsweise, deren Mechanismen, Instanzenspiel und Kräfteverhältnisse den Ausschlag geben. Bemüht, sich wechselseitig den Schwarzen Peter der Arbeitslosigkeit und der Strukturkrise zuzuschieben, überstürzen die nationalen Regierungen unter dem Deckwort der Modernisierung die kapitalistische Binnen-Ökonomisierung, die eine ins Gigantische wachsende Außen-Verschwendung mit sich führt. Auf den Ruf, »die Japaner kommen«, reagieren sie mit dem Niederreißen kultureller Schranken. Biedenkopf weiß das und muss sich das Wissen zugleich verbieten.
Der vom wirklichen Kapital schweigt, beschwört metaphorisch das »ökologische ›Kapital‹, das die Erde angesammelt hat, vor allem das Energiekapital, und unsere Unfähigkeit, dem Verzehr dieses Kapitals zu widerstehen« (1044).
Wie die Marktwirtschaft funktioniert, müsse man ebenso wenig begreifen, wie die Funktionsweise eines Rechners oder Fernsehers. Es genüge zu wissen, dass sie funktionieren.
Vollends hübsch: »Wozu braucht man Eigentum? Das ist eine der kompliziertesten Fragen, die es gibt. […] Man weiß nicht, wie es funktioniert, aber man weiß, was man damit machen muss.« (1055).
Missionar, der kontrafaktisch von einem Wunder redet, das nicht eintritt. Dies ist die wirkliche Utopie, die er den DDR-Bewohnern gibt. Unerklärlichkeit der Marktwirtschaft, des Eigentums, Bewusstlosigkeit der darin Befangenen (Marx: »Sie tun es, aber sie wissen es nicht.«), Glaube an ihr Funktionieren.
Es bedarf einer Sprache, um das Schweigen zu brechen, auf dem dieser Diskurs beruht. Diese Sprache, die sich den Sachen selbst anmisst und in der sich die bis gestern Verstaatlichungsgeschädigten und nun Privatisierungsgeschädigten über eine Analyse der Verhältnisse und solidarische Alternativen verständigen können, wird künftigem kritischen Denken seinen Atem geben. Nostalgie wäre tödlich, Eschatologie verlöre den Boden unter den Füßen. Kritik und Analyse der kapitalistischen Wirklichkeit, in der wir heute leben (dämmernd oder dahintaumelnd oder unseren Chancen der Selbstverwirklichung nachstrebend), die theoretischen Denkmittel neu aneignend und durch den Filter einer radikalen Kritik am befehlsadministrativen Regime treibend, legen den Boden frei für Solidarität und alternative Handlungsfähigkeit. Im Praktisch-Politischen schließt eine solche Kritik Berührungspunkte mit einer aufgeklärt konservativen Politik wie der eines Kurt Biedenkopfs nicht aus. Es gibt heute keine Alternative zu sozial-ökologischem Reformismus. Wie dieser aussehen kann, darum wird zu ringen sein. Verträgt sich Reformismus mit marxistischem Denken? Dies wird auszuprobieren sein. So viel scheint klar: Das Denken wird nichts wert sein, wo es keine Politik erhellt; und der Reformismus wird versacken im Filz, wo er den klaren Blick einbüßt, den nur eine im Ernst kritische Theorie dieser Gesellschaft scharfzuhalten erlaubt.
3. Mai 1991
Helmut Gollwitzer am Telefon: »Ich will nicht mehr leben. Ich kann ohne Brigitte nicht leben. Das hat sich nun herausgestellt.« – Plötzlich der unendliche Schmerz.
6. Mai 1991
Die letzten beiden Tage im PDS-Milieu verbracht. Gastvortrag auf der Programmkonferenz. Das Übergewicht der Rentner. Das gebrochene Selbstbewusstsein. Der ehemalige Philosophieprofessor von der Humboldt-Universität, der sich mir gleich zweimal hinter einander als »abgehalfterter Philosoph« vorstellt. Seelsorge notwendig. Aber mit meinen Ideen von einem Neuanfang komme ich mir exotisch vor.
Abends bei einer Marx-Geburtstagsfeier des »Anti-Eiszeit-Komitees«, nominell wie vor einem Jahr, aber real welch ein Unterschied! Gysi erscheint nicht, ebenso wenig Altvater. Eine Psychologin, Martina Schönebeck, springt für den angekündigten Hans-Joachim Maaz (»Gefühlsstau«) ein, aus dem Publikum wird Käthe Reichel hochapplaudiert. Immerhin sitzt neben mir Ilsegret Fink, eine vorzügliche Pastorin, Heinrich Finks Frau, mit der ich die historisch-staatlichen Persiflagen vergleiche, die sich auf Christus bzw. auf Marx berufen. Sonst eine immer wieder versackende Diskussion. Es überwiegt das Bedürfnis, die derzeitige Misere auszudrücken, ja dem verlorenen Schutz nachzutrauern. Käthe Reichelt, die so oft gute Texte gut gesprochen und gespielt hat, verblüffte mich damit, welchen hilflosen Text sie nun mit der gleichen Leidenschaft vortrug. Sie sprach aus der geistigen Welt des Erich Honecker, eine Armenpolitik, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat, und ich sagte ihr das. Nachher war sie plötzlich weg, und ich bereute, nicht noch einmal mit ihr gesprochen zu haben.
Übrigens soll die Ost-CDU jetzt für ehemalige SED-Mitglieder geöffnet werden.
In der FAZ ein Bericht von Petra Kolonko aus Pjöngjang, worin ich einiges aus meiner Erinnerung wiederfinde. Aber fahrlässig und bewusstlos eingenommene Imperialperspektive. Und Kolonko muss übertreiben: »Schulkinder sieht man in Pjöngjang gruppenweise im Stechschritt durch die Straßen laufen und dabei Marschlieder singen.« – Sie sollte mal selber den Stechschritt üben, um den Unterschied zu merken.
Anscheinend geht der Umbau der SU weiter und zwar mehr in Richtung auf einen Staatenbund als auf einen Bundesstaat. G wie ein vielseitig belagerter Moderator des Prozesses. Russland (und damit Jelzin) kriegt nun als Lohn fürs Einschwenken auf einen Kompromisskurs einen eignen Geheimdienst. Schewardnadse gibt G noch drei Monate. Entweder gelingt bis dahin die Weichenstellung für eine Rekonstruktion des gesellschaftlichen Lebens – oder G muss abtreten.
7. Mai 1991
Versprecher, den ich bei der Marx-Diskussion in der Humboldt-Universität aufschnappte: »die früheren Menschen der DDR«. Vielleicht gewollt, jedenfalls kennzeichnend für eine Stimmung.
8. Mai 1991
Michael Stürmers FAZ-Leitartikel ist »Der Kreml nach dem Golf« überschrieben, meint aber »Der Kreml nach Gorbatschow«. Der Historiker benützt bereits den raunenden Imperfekt des Erzählers: »Die erste Perestrojka kam, einschließlich Michael Gorbatschow, aus der Einsicht, dass ohne durchgreifende Modernisierung von Staat und Gesellschaft die Sowjetunion als Weltmacht abdanken müsse.« Hat die SU den Golfkrieg verloren? Ja, sagt Stürmer, mit »ihrer Technik von gestern« und