vom Monatsgeld bis zu Laufzeiten von zehn Jahren, sollen weiteres Geld binden. Planüberschießende Vorräte und nichtfungierende Produktionsmittel sollen auf den Markt bewegt werden (unklar, durch welche Hebel und warum die Ladenhüter plötzlich Absatz finden sollen). Vorübergehend soll der PKW-Export zugunsten des Inlandsmarkts reduziert werden. Der Spirituosenhandel soll wieder »normalisiert« (freigegeben) werden, um zig Mrd Rubel Nettoertrag zu erhalten, die jetzt der Schwarzmarkt absahnt.
5. Juli 1990 (2)
Meldungen, die an diesem Tag über den Fernschreiber gelaufen sind und deren Zusammenstellung zeigt, dass der Perestrojka inzwischen eine selbständige Dynamik zugewachsen ist, die nicht mehr von einer einzigen politischen Kraft oder einem Machtzentrum aus kontrolliert werden kann:
KPdSU-Kongress: Die Sektion »Erneuerung der Partei« hat so viele Delegierte angezogen, dass die Sitzung in den großen Saal des Kreml verlegt werden musste, wo sonst das Plenum tagt. Zwar erklärten sich alle Redner für Erneuerung, aber deren Richtung war heftig umkämpft. Die Mehrheit sprach sich dafür aus, an der kommunistischen Perspektive festzuhalten. Der Stalin-Biograph Dmitri Wolkogonow nannte dagegen den Kommunismus »ein ephemeres Ziel« und schlug vor, ein neues Programm abzufassen und die KPdSU in »Partei des Demokratischen Sozialismus« (PDS) umzubenennen. Der ZK-Sekretär Juri Manajenkow verteidigte die Einheitlichkeit der Partei: »Ich glaube nicht, dass getrennte Teile eines Organismus lebensfähiger sind als der ganze Organismus.« Boris Pugo, Vorsitzender der Kontrollkommission, schlug vor, diese zu einer Art »Komitee für Verfassungsaufsicht in der Partei« umzufunktionieren.
In Moskau ist die erste Nummer der Zeitschrift »Bisnes i Banki« (Business und Banken) erschienen. Sie soll unter Geldmarktgesichtspunkten Wirtschaftsinformationen aller Art bringen und wendet sich an Banker, Unternehmer, »Geschäftsleute«.
Die Kumpel des kusnezker Kohlenreviers beraten die Fragen eines 24-stündigen politischen Streiks am 11. Juli. Forderungen: Rücktritt der Regierung; Abschluss eines neuen Unionsvertrags; Annullierung der nicht durch direkte Wahl zustande gekommenen Parlamentsmandate; »Entpolitisierung« (Entparteilichung) der repressiven Staatsorgane Armee und KGB. Der Vorsitzende der kusnezker Arbeiterkomitees, Wjatscheslaw Golikow, sieht den Ausweg in der Entwicklung von Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialpolitik sowie der Legalisierung der Opposition als Institution. – Es soll ein aktiver Streik (in den Betrieben) werden, über dessen Formen die Arbeitskollektive vor Ort entscheiden; manche Kollektive werden zwar Kohle fördern, über diese jedoch nach eigenem Ermessen verfügen. Um Ausschreitungen zu verhindern, sind Arbeiterkomitees gebildet und eine Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei angebahnt worden.
In Budapest verhandelt man die letzten Finanzierungsfragen im Zusammenhang mit dem Abzug der Sowjettruppen.
In der Parteitags-Sektion zu Nationalitätenproblemen erklären sich alle Diskutanten für die Beschleunigung des Abschlusses eines neuen Unionsvertrags, um die Wirtschaftslage normalisieren zu können. Im ZK-Rechenschaftsbericht wurde eingestanden, dass man sich statt mit Konfliktprävention mit Konfliktmanagement beschäftigt habe, der Entwicklung ständig hinterherrennend. – Ein ZK-Sekretär teilt mit, dass von den 2 Mio Deutschen nur 300 000 in die ehemalige Heimat zurückkehren möchten; falls der bevorstehende Kongress der Sowjetdeutschen zustimmt, will das Politbüro eine extraterritoriale Assoziation der Sowjetdeutschen bilden, ausgestattet mit den Rechten einer Autonomen Republik.
Das litauische Parlament hat die Aufnahme von Verhandlungen mit der SU-Regierung gebilligt und ihre Kontrolle an sich gezogen.
Kaliningrad, früher Königsberg, ist durch Beschluss des Stadtsowjets für den Tourismus geöffnet worden. Die Stadt war seit Kriegsende Sperrgebiet.
Der Gebietssowjet von Odessa weist moldawische Gebietsansprüche zurück. In der umstrittenen Region leben u.a. Rumänen, Bulgaren, Russen, Juden und Gagausen.
In Moskau geht eine Ausstellung von Petrotechnologie zu Ende, wo vor allem japanische und westeuropäische Firmen Ausrüstungen anbieten, die für die Erdölförderung im fernöstlichen Teil der SU geeignet sind, sowie Technologien petrochemischer Verwertung, Tankstellen und sogar Motels.
Parteitags-Sektion »ideologische Arbeit«: Iwan Frolow, der als Anwärter für die Nachfolge Medwedews gilt, gab Rechenschaft als ZK-Sekretär und Prawda-Chef. Die Initiative zur Perestrojka gehöre der Partei, sagte er, aber viele »Mitläufer, die nach 1985 mutig zu werden begannen«, würden das jetzt vertuschen. Die meisten Redner erklärten den Autoritätsverfall der KPdSU mit der Schwächung ihres »ideologischen Einflusses«.
In Leningrad haben Jugendorganisationen – darunter Anarchisten, aber auch der Komsomol – einen Block der Linkskräfte gegründet. Die Erklärung sagt: Die Wirtschaftskrise führe zur massenhaften Enttäuschung an der Demokratisierung und folglich zur Möglichkeit der Wiederherstellung des staatlichen Autoritarismus. Deshalb müssten alle Kräfte sich sammeln, die an Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und Humanismus festhalten.
Der Oberste Sowjet und die Regierung Estlands haben ein Treffen ehemaliger estnischer SS-Angehöriger verboten.
Usw. usf.
6. Juli 1990
Der APN-Fernschreiber im Pressezentrum gibt nur fragmentarisch-rätselhafte Eindrücke von der Debatte zur Wirtschaftsumgestaltung. Abalkin will anscheinend Marktwirtschaft-sans-phrase.
Alexej Sergejew, Professor an der Gewerkschaftshochschule, polemisiert scharf gegen die zwei Linien: die »konservative« der Regierung und die bürgerlich-reaktionäre, die »höchst sonderbar« selbst »auf den höchsten Parteiebenen als linksorientiert und demokratisch bezeichnet wird«. APN unterschlägt, wie er diese zweite Linie charakterisiert. Die erste resultierte im »langsamen und schwierigen Hinabgleiten […] zu einer Gesellschaftsordnung der ökonomischen Ungleichheit«. Die zweite setzt an am faktischen »Bündnis zwischen der Schattenwirtschaft – den bislang noch illegalen Kapitalisten – und den Resten des voluntaristischen und bürokratischen Systems, die sich an ihre Machtpositionen klammern«. Beide »verheißen den Volksmassen nichts Gutes […]. Die UdSSR würde […] praktisch zu einer Halbkolonie von höher entwickelten kapitalistischen Ländern und danach würde sie sich schnell aus einem Bettler in einen ausgeplünderten Bettler verwandeln.« Die Warnung ist klar. Rätselhaft das Fragment, das sie ihm (des Einklangs mit der Marktpolitik wegen, denke ich) zugestehen: »Die einzige wissenschaftlich fundierte Verhaltensweise […] besteht darin, sich auf den Prozess der Vergesellschaftung der materiellen Produktion zu stützen, der sich in der gesamten Weltwirtschaft objektiv entfaltet.«
Alexander Busgalin, Vertreter der »Marxistischen Plattform«, bejaht die Entstaatlichung des Eigentums und die Entbürokratisierung der Wirtschaftslenkung, widersetzt sich jedoch dem Verkauf der Betriebe an Privatpersonen. Er plädiert für »Eigenständigkeit der Arbeitskollektive und ihre reale Selbstverwaltung«, »Vertragsbeziehungen zwischen Zentrum, Produzenten und Verbrauchern« und »demokratisch ausgearbeitete langfristige Zielprogramme zu einer strukturellen Umgestaltung […]. Das ist der Weg zur Wiederherstellung des gesellschaftlichen Eigentums«.
Die These, die KPdSU solle sich als »Partei des gesamten Volkes« verstehen, wurde von vielen Rednern angegriffen. »Arbeiter und Bauern und alle Werktätigen«, war ihre Gegenformel.
7. Juli 1990
W. Schostakowski behauptet, die Formel »Partei des ganzen Volkes« sei von den Theoretikern des »entwickelten Sozialismus« verkündet worden. Er verfolgt die Linie nicht zurück zu Stalins »Staat des ganzen Volkes« (war das 1936 in der Verfassung?). Das »ganze Volk« ist allenfalls eine beschwörende Anrufung, die mit populistischer Gewalt gegen alles Dissidente schwanger geht. Schostakowski sieht für die KPdSU die Rolle einer »politischen Vorhut der Gesellschaft, doch ihre Grundlage bildet der Teil der Werktätigen, der einen humanen, demokratischen und auf Selbstverwaltung basierenden Sozialismus anstrebt.« Dass die sozialen Antagonismen der politischen Vertretung des »ganzen Volkes« im Wege stehen, dämmert in dem merkwürdigen und nicht weiter verfolgten Bedenken, die Beziehung auf eine bestimmte soziale Basis würde dazu führen,