Petra Gabriel

Operation Gold


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herumliegenden Brettern, das Geschirr war zerschlagen worden.

      Es knirschte unter Kappes Füßen. Er bückte sich und hob einen silbernen Bilderrahmen hoch. Silber – oho! Das Glas war zersplittert, doch zwei der Personen auf der Fotografie waren noch gut zu erkennen. Eine ältere Frau, um die vierzig vielleicht, sowie ein junges Mädchen, beide mit lockigen blonden Haaren und hellen Augen, soweit er das auf der Schwarzweißaufnahme erkennen konnte. Offenbar Mutter und Tochter. Sie standen in Wintermänteln, dem Anschein nach umgeschneidert aus Wehrmachtsbeständen, vor dem Zaun eines gutbürgerlichen Einfamilienhauses mit Garten in einer Gegend, die Kappe nicht erkannte. Zwischen ihnen, den rechten Arm um die Schulter der Frau gelegt, stand ein Mann in der Uniformjacke der Geheimen Feldpolizei. Kappe vermutete, dass er etwa gleich alt sein könnte wie die Frau, konnte es jedoch nicht genau erkennen. Sein Gesicht war etwas zerkratzt, wahrscheinlich von den Glasscherben. Kappe nahm an, dass das Schmücke war.

      Das Gefühl, dass dieser Schmücke Ärger machen würde, wurde noch intensiver. So, so, Geheime Feldpolizei … Das war die «Ordnungstruppe» der Nationalsozialisten innerhalb der Wehrmacht gewesen. Sie hatten spioniert, denunziert, Partisanen verfolgt, gefoltert und getötet. Insbesondere in den von den Deutschen besetzten sowjetischen Gebieten und kommandiert von Angehörigen der Gestapo oder der Kriminalpolizei. Wenn er es recht überlegte, wusste er nicht allzu viel über diese Leute. Alle Mitglieder der Geheimen Feldpolizei und auch ihre zivilen Helfer waren beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zu absolutem Stillschweigen verpflichtet worden. Kappe vermutete, dass diese Mauer des Schweigens bis heute mehr als nur einen fanatischen Nationalsozialisten schützte. Man redete nicht, auch nicht übereinander. Es war eine verschworene Gemeinschaft.

      So, und dieser Schmücke war angeblich Fernmeldefachmann, hatte also mit Nachrichtenaustausch zu tun, und trug früher die Uniform der Geheimen Feldpolizei. Was für eine Mischung! Das konnte ja heiter werden! Kappes Blick wanderte zwischen der Frau und dem Mädchen auf dem Foto hin und her. Schmücke hatte also Familie. Nun mussten sie nur noch herausfinden, wo sie lebte. Und wo er selbst steckte.

      Offensichtlich hatte der Mann Feinde, was bei der Vergangenheit eigentlich nicht weiter verwunderte. Möglichkeiten gab es da genug. Es konnte sich zum Beispiel um ehemalige Partisanen handeln, die es ins Nachkriegsberlin verschlagen hatte, oder um Bewohner von ehemals besetzten Gebieten, die nach Rache dürsteten. Wer auch immer in Schmückes Wohnung eingedrungen war, er musste sehr zornig gewesen sein. Wenn die Eindringlinge schon den Möbeln mit einer derartigen Brachialgewalt begegnet waren, bedeutete das nichts Gutes für die körperliche Unversehrtheit des Bewohners. Kappe überlief es siedend heiß. Und wenn gar die Familie zu Besuch gewesen war? Nein, die Witwe Wuttke hatte nichts dergleichen erwähnt. Er durfte aber nicht vergessen, sie demnächst danach zu fragen.

      Doch zunächst war das hier ein Fall für die Spurensicherung. Hoffentlich konnte er Klingbeil von der Kriminaltechnik loseisen, einen etwas weichlich wirkenden Mann, aber einen der detailversessensten und stursten im Bereich Spurenauswertung, die er kannte. Er brauchte auch Gerhard Piossek, mit dem er sich das Büro teilte. Kappe arbeitete gerne mit dem Kollegen. Er hielt ihn für einen kompetenten Mann. Ansonsten betrachtete er Piossek eher mit zwiespältigen Gefühlen. Der Sohn eines Bäckermeisters aus der Lichtenberger Pfarrstraße galt bei vielen Kollegen als arrogant. Er konnte sehr hochfahrend sein und war einst mit einiger Begeisterung in die NSDAP eingetreten. Zum Glück hatten ihn gnädige amerikanische Offiziere beim Entnazifizierungsverfahren als «Mitläufer» eingestuft, deshalb hatte er seine Laufbahn bei der Berliner Kriminalpolizei fortsetzen können. Vermutlich war es hilfreich gewesen, dass bei den Kämpfen in Polen seine rechte Hand durch einen Granatsplitter verstümmelt worden war. Kappe akzeptierte Gerhard Piossek als Kollegen. Doch dass sie einmal Freunde würden, hielt er für ausgeschlossen, obwohl sie schon etliche gefahrvolle Situationen miteinander durchgestanden hatten.

      Während Kappe die Treppen hinunterstürmte, vorbei an der Wohnungstüre von Wilma Wuttke, fiel ihm noch etwas auf. Seltsam, das Wüten in Schmückes Wohnung musste einen Heidenlärm gemacht haben. Normalerweise aber vermieden es Verbrecher, auf sich aufmerksam zu machen. Hatten sie es in diesem Fall vielleicht darauf angelegt, dass jemand aufmerksam wurde? Jemand wie Wilma Wuttke?

      Kappe war schon an der Wohnungstür der Witwe vorbei, als diese geöffnet wurde und die Frau ihm hinterher schaute. Sie hätte ihm von dem Hintereingang erzählen sollen, von dem aus man durch den Hinterhof in den Keller des angrenzenden Trümmerhauses kam, dachte sie. Das hatte sie bei all der Aufregung vergessen. Nun ja, bei nächster Gelegenheit würde sie das nachholen.

       in dem Marie Palmer kurzen Prozess macht

      GEGEN MITTAG war Marie Palmers Selbstbewusstsein zur Größe eines Staubkorns zusammengeschnurrt. Was war sie heute Morgen noch stolz und glücklich gewesen! Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, einen Platz als freie Mitarbeiterin der Redaktion des Berliner Tagesspiegel zu bekommen. Darüber hinaus hatte sie noch einen Auftrag als Gerichtsreporterin bei ebendieser Zeitung ergattert. Und nicht irgendeinen Auftrag, sondern diesen.

      Chefredakteur Erik Reger höchstselbst hatte gestern das Bewerbungsgespräch mit ihr geführt. Dabei war sie doch ein Niemand, eine von vielen jungen Menschen, die derzeit nach Berlin strebten und hofften, dort trotz der Teilung der Stadt ihr Glück zu finden. Vielleicht weil er wie sie selbst aus dem Rheinland kam. Nach einem ersten kritischen Blick auf ihre kurzen, karottenrot gefärbten Haare und einem anschließenden, sehr positiv verlaufenen Gespräch hatte er ihr eine Broschüre in die Hand gedrückt, quasi als Begrüßungsgeschenk.

      Im Vademecum waren die strengen Sprachregeln des Hauses aufgelistet. Verpönt waren unter anderem die Worte vornehmen und durchführen. Alle aus dem Griechischen stammenden Begriffe mussten mit ph und durften nicht mit f geschrieben werden.

      Danach hatte Reger sein Asketengesicht leicht zu etwas verzogen, von dem Marie annahm, dass es ein Lächeln sein sollte, ihr auf die Schulter geklopft und gesagt: «Dann mal los, Mädchen!» Darüber hinaus hatte er sie auf ihre flehentliche Bitte hin als «Aushilfe zur Probe» zu dem Prozess ins Moabiter Kriminalgericht abgeordnet. «Also gut, wenn Sie das derart interessiert! Ist vielleicht nicht mal schlecht. Corvus ist unser Mann für die GladowProzesse. Passen Sie gut auf, von dem Können des Kollegen können Sie sich eine Scheibe abschneiden!»

      Erst Tage später begriff Marie, dass der Tagesspiegel wegen der Insellage West-Berlins in diesen Tagen ums Überleben kämpfte. Die Anzahl der Abonnements war seit der Gründung der beiden deutschen Staaten und wegen der Schwierigkeiten während der Berlin-Blockade in den Keller gerauscht, im Osten lasen sie andere Blätter. Einige gute Leute waren gegangen, im Ullsteinhaus auf dem Tempelhofer Feld herrschte nicht nur ein finanzieller, sondern auch ein personeller Engpass. Sie war gerade im richtigen Moment aufgetaucht – eine Anfängerin zwar, deswegen aber auch nicht zu teuer. Und vor allem keine Festangestellte, sondern eine Freiberuflerin.

      Hans Corvus war an diesem Morgen jedoch verhindert. Plötzlicher Zahnarzttermin, hatte er ausrichten lassen. Er würde aber bald nachkommen. Marie gestand sich ein, dass sie froh darüber wäre, wenn er endlich eintrudelte. Denn sie schwamm gehörig, obwohl sie sich gestern im Archiv noch schnell in die Fakten eingearbeitet hatte. Es war nämlich schon der zweite Prozesstag, auf der Tagesordnung standen Zeugenvernehmungen. Und sie verstand fast nichts. Wegen der schlechten Akustik im Gerichtssaal verrauschte jedes gesprochene Wort zu einem Raunen. Sie musste sich zusammenreißen. Vielleicht würde sie heute dem Mann begegnen, nach dem sie schon so lange suchte – ihrem Stiefvater, Dieter Krug, der heute als Zeuge aussagen sollte.

      Die Angeklagte in diesem Verfahren hieß Sigrid Dehne. Ihr wurde schwerer Raub in Tateinheit mit versuchtem Mord vorgeworfen. Sie sollte Mitglied der berüchtigten Gladow-Bande gewesen sein und im April 1949 beim Überfall auf einen Kaufmann mitgemacht haben, zusammen mit dem Bandenchef Werner Gladow und drei Komplizen, darunter dem Henker-Hannes.

      Inzwischen war es bald zwölf, und Marie wusste aus den laufenden Zeugenbefragungen immerhin, die junge Frau mit dem ziemlich unerotischen Namen Sigrid Dehne nannte sich im Berufsleben Jane, nach ihrem großen Vorbild, der US-Schauspielerin Jane Wyman, und war Prostituierte. Und zwar trotz ihrer Jugend – oder vielleicht gerade deswegen – eine Prostituierte der besseren Art und