oder sie noch nicht zusammengebaut. Beides will ich in dem Bereich, der sich mir als Arzt und Theologe aufdrängt, nachholen. Und zwar anhand von fünf ganz einfachen Dingen, von denen wir alle schon gehört haben, die teilweise altmodisch geworden sind und die wir nur mit neuen Augen betrachten müssen. Willkommen auf einem kleinen Fitness-Parcours der Seele mit seinem Fitness-Code.
Charakterfitness-Trainingsstufe eins:
Gut werden im Schlaf
Um gute Menschen sein zu können, müssen wir unser Gehirn von den Spuren von Stress und negativen Gedanken wie Ängsten, Sorgen und Wut reinigen. Diese Spuren haben biochemischen Charakter und die Evolution hat uns ein Mittel zur Verfügung gestellt, sie zu beseitigen: den Schlaf. Was genau dabei passiert, entdeckte die Wissenschaft erst 2012 in Form des sogenannten glymphatischen Systems. Halten wir uns bei unseren Entscheidungen konsequent an dessen von der Natur vorgegebenen Regeln, setzen wir einen Kreislauf in Gang, der uns ganz von selbst zu besseren Menschen macht.15
Die Evolution hat uns mit einer Anlage zur Reinigung unseres Gehirns von den Spuren unserer schlechten Gedanken beschenkt. Die Naturwissenschaft entdeckte sie im Jahr 2012, also vor relativ einigen Jahren, und nannte sie »das glymphatische System«. Diese Anlage sorgt dafür, dass sich die Gehirnzellen nachts ein wenig zusammenziehen und zwischen den Zellen Freiräume entstehen, die wir uns als winzige Autobahnen vorstellen können. Als Autobahnen, auf denen noch winzigere Müllwägen die Abfälle abtransportieren, die während eines langen Tages in einem Gehirn so anfallen, in Form von biochemischen Spuren von Stress, von Sorgen und Ängsten, aber auch von Wut und Hass.
Das glymphatische System sammelt diese Rückstände und entsorgt sie wie eine fantastisch organisierte Müllabfuhr. Ganz von selbst, Nacht für Nacht. Wir müssen uns dazu nur hinlegen und schlafen, idealerweise vor Mitternacht, weil dann die Müllabfuhr am effizientesten funktioniert. Für die Entdeckung und jahrelange Untersuchung dieser medizinischen Frohbotschaft könnte die Forscherin Maiken Nedergaard, die in Rochester und Kopenhagen wirkt, schon bald den Nobelpreis bekommen.
Das glymphatische System hat zwei wunderbare Vorteile. Es steht uns allen jederzeit zur Benützung zur Verfügung und es hat das Zeug, uns zu besseren Menschen zu machen. Wir müssen seine Funktion dazu nur noch um einen Schritt genauer durchdenken: Während wir schlafen, wie gesagt idealerweise vor Mitternacht, arbeitet es. Morgens, wenn wir ausgeruht aufstehen, ist es fertig. Der Müll und auch die Müllwägen sind wieder verschwunden. Sogar die Autobahnen sind wieder verschwunden, weil sich unsere Gehirnzellen wieder ausgedehnt haben.16
Nun beginnt der Tag mit Nachrichten über Klimawandel, vielleicht mit Kindern, die nicht aufstehen wollen und mit Menschen, denen wir etwas sagen wollen, die wir aber nicht erreichen können, mit Gedrängel in öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit Stau auf der Straße, mit beruflichem Stress und gesundheitlichen Sorgen, und mit allem, was sonst noch so an Unerquicklichem zu einem ganz normalen Leben gehört. Kurz gesagt: Neuer Müll sammelt sich im Gehirn an, neue biochemische Materialisierungen negativer Gedanken. Er wird im Verlauf des Tages immer mehr.
Was bedeutet das für uns bei dem Versuch, bessere Menschen zu sein? Es bedeutet, dass wir uns darin üben sollten, wichtige Entscheidungen nicht gleich zu treffen. Wir sollten uns, sozusagen aus glymphatischen Gründen, darin üben, dem ersten Impuls zu widerstehen. Wir sollten vor allem wichtige Entscheidungen immer am Morgen oder am Vormittag treffen, wenn die nächtliche Müllabfuhr gerade da war und unser Gehirn sauber, frisch und frei ist. Dann tun wir uns am leichtesten mit Entscheidungen gemäß der besten Version von uns selbst, anstatt mitten in einer vielleicht schon kräftig angewachsenen Müllhalde die falschen Reflexe zu zeigen.
Das ideale Zeitfenster für den wachen, gereinigten Geist sind also der Morgen und der Vormittag. Im Laufe des Tages nimmt diese Geistesschärfe wieder ab und unser Realitätssinn trübt sich wieder ein. Am Nachmittag und vor allem spät am Abend und nachts tragen wir dann schon wieder viel Gedankenmüll mit uns herum.
Wer dann noch wichtige Entscheidungen trifft, beraubt sich selbst des glymphatischen Vorteils. Überschlafe die wichtigen Dinge erst einmal, besagt völlig zu Recht eine Weisheit des Volksmundes, auf die wir uns wieder besinnen sollten.
Leben wir glymphatisch und machen wir uns damit sympathisch: Während wir abends eine E-Mail noch wütend beantwortet hätten, bemerken wir am nächsten Vormittag vielleicht, dass sich der Absender nur im Ton vergriffen oder wir einfach etwas falsch gedeutet oder überinterpretiert haben.
Wenn wir trotzdem sofort in die Tasten gegriffen und eine deftige Antwort mit vielen bösen Rufzeichen losgeschickt hätten, hätten wir uns vielleicht in Schwierigkeiten manövriert, die im schlechtesten Fall irreversibel gewesen wären.
Nur weil irgendjemand in Unkenntnis seiner Neurobiologie irgendetwas nicht überschlafen wollte und mit einem dafür falsch konfigurierten Mindset reagierte, haben in Unternehmen bestimmt schon viele Kriege begonnen, und nicht nur dort.
Was gesunder Schlaf, der übrigens auch das Abnehmen erleichtert und Wunden schneller heilen lässt, für unser Gehirn so alles tun kann, zeigten Experimente bereits im Jahr 2004. Versuchspersonen mussten Zahlenrätsel lösen, die mehrere Einzelschritte erforderten. Es gab eine Abkürzung, durch die sich einige Schritte vermeiden ließen. Nach der Einübungsphase durfte ein Teil der Probanden acht Stunden lang schlafen. Danach erkannten in dieser Gruppe mehr als doppelt so viele die schnelle Lösung. Jene Gruppe, die wach geblieben war, sah nur den langen Weg der Einzelschritte.
Die verbrauchte Energie des Tages legt sich über die Wahrnehmung wie ein Gazeschleier. Wir können uns bei einem Vorhaben noch so sehr anstrengen und abmühen, das Ergebnis wird nur mit ausreichend Schlaf und einer glymphatischen Terminplanung richtig gut.
Die Verhaltens- und Neurowissenschaftlerin Rebecca Spencer von der University of Massachusetts erklärte dazu in einem Interview mit der Harvard Business Review: »Ein Mangel an Schlaf hat alle möglichen negativen Effekte.« Man könne nicht mehr so sehr auf Details achten und reagiere langsamer. Außerdem reagiere man sehr viel emotionaler auf negative Nachrichten. Schlaf dagegen sorge dafür, dass die Informationen in eine andere Hirnregion gelangten, die eine nüchternere Betrachtung ermögliche.17
Schon im Epheserbrief, einem Buch des Neuen Testaments, gibt Paulus, ein erfolgreicher Missionar des Urchristentums, seinen Lesern den Rat: »Zürnet, und sündiget nicht. Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen.«
Schon am Abend soll der Mensch demnach den Entschluss fassen, schlechte Gedanken und böse Emotionen zu schubladisieren. Dann soll er darüber schlafen. Am nächsten Tag finden die negativen Gedanken dann besonders leicht fast von selbst in diese »Schublade«, ohne Schaden anrichten zu können. Das »gereinigte« Gehirn des Morgens hilft dabei mit.
Die Endokrinologie beschäftigt sich mit Schlafproblemen, die bei Frauen oft in der Lebensmitte auftreten und die Betroffenen stark belasten. Eine interessante Studie unterstreicht dies mit einem neuen Detail: Schlafstörungen können Verkalkungen begünstigen, die wiederum möglichweise jene Hirnareale beeinträchtigen, die für Geduld und Entspannung mitverantwortlich sind. Konkret unterdrückt oftmaliges Aufwachen das Hormon Hypocretin, wodurch mehr Stammzellen aus dem Knochenmark ausgeschwemmt werden, die sich dann in den Blutgefäßen niederlassen und eine Verkalkung bewirken.18
Die australischen Forscher Drew Dawson von der Central Queensland University und Kathryn Reid von der Northwestern University maßen die Reaktionszeit von Probanden nach 28 Stunden Schlafentzug. Am Computer mussten sie Linien nachfahren, um ihre Motorik zu testen. Ergebnis: 28 Stunden Schlafentzug entsprechen etwa 0,9 Promille Alkohol im Blut.19 Auch hier zeigte sich deutlich, dass wir wichtige Entscheidungen tunlichst erst am nächsten Tag treffen sollten. Wir können sonst zum Beispiel aggressiver sein, und aggressiv ist nie »gut«.
Ein anderer Nachweis für die Vorteile des glymphatischen Lebens schon vor der Entdeckung des glymphatischen Systems glückte mit einer Gruppe elfjähriger Kinder und der Vergleichsgruppe ihrer Eltern. Bei einem Kasten mit mehreren Knöpfen mussten sie möglichst schnell immer jene drücken, die gerade aufleuchteten. Blink und push! Blink und push!
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