Marija Barisic

Was am Ende bleibt


Скачать книгу

hasse ihn«, sagte ich als fünf- oder sechsjähriges Mädchen zu meiner Mutter. Als ich auf jedem Hof in Niederösterreich kniete und Rüben pflanzte für Geld, das ich nie sah. Die hölzerne Sparkasse, die er mir schenkte, blieb immer leer, oft nahm mein Vater mich noch mit in die Bar und ich musste zwischen den Beinen der Kartenspieler umherkriechen und das Kleingeld aufsammeln. Meistens sah er danach noch selbst nach, ob ich nicht etwas vergessen hatte. »Ich hasse ihn, wenn er bei der Tür reinkommt«, sagte ich mir, als ich vor meiner Mutter knien musste. »Hure«, sagte ich, so, wie er es mir befahl, dabei war sie keine, bei Gott nicht. Danach haben wir beide geheult, meine Mutter und ich. »Er soll bei lebendigem Leib krepieren«, sagte ich mir, und sagte ich meiner Mutter, als er die Hundepeitsche holte, ich dachte es mir, als er mich würgte, und dann dachte ich gar nichts mehr, dann war ich bewusstlos.

      Das erste Mal geraucht habe ich als kleiner Bub mit sechs. Mein Freund aus der Schule ging damals immer zu den Russen, betteln. Ich bin 1945 geboren, kurz bevor die russische Besatzung begann. Einmal nahm mich der Freund mit. Einer der Russen gab mir eine Selbstgedrehte, das war nur Tabak in Zeitungspapier gewickelt. Manchmal bin ich mit dem Freund ins Russenlager gegangen, Kirschen klauen, und Marillen. Wenn sie uns gesehen haben, haben sie uns sofort weggejagt. Einmal habe ich den Stacheldraht oben am Zaun in die Augen gekriegt, geblieben ist mir aber nur eine kleine Narbe. Sonst ist nie etwas passiert.

      In meinem Leben war ich oft Kellnerin. In Wirtschaften, Nachtlokalen, Cafés, überall, wo gerade eine Hand gebraucht wurde. Mit 16 war das noch in der Bar zu Hause in St. Pölten.

      Ich sah sofort, wie er mich ansah, es war dieser männliche Blick, den ich mit 16 schon lange kannte. Er blieb bis nach meiner Schicht und fragte mich dann, ob er mich nach Hause begleiten durfte. Ich sagte ja. Wir gingen aus dem Lokal raus, die dunkle Straße entlang, und irgendwann legte er mir die Hand auf den Rücken. Ich kannte das schon, aber dann blieb er plötzlich stehen. Vorsichtig tastete er meinen Rücken entlang. Leise, fast zögerlich fragte er: »Darf ich mir das anschauen? Ich bin Arzt«, fügte er hinzu.

      Ich hob die dünne Bluse an und er fuhr mir prüfend über den Rücken, über die Male, wo die Peitsche mir die Haut mitgenommen hatte. Er würde die Narben schleifen, sagte er. »Aber das kannst du dir nicht leisten.« Wer Schulden hat, muss sie abarbeiten, das wusste ich. »Bis du das abgebaut hast, bleiben wir zusammen«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, ich rühr’ dich nicht an.«

      Regelmäßig kam ich von da an verheult in die Arbeit, das Narbenschleifen tat so höllisch weh, aber gesagt habe ich nie etwas. Im Gegenzug habe ich gekocht, geputzt, den Garten gemacht, seine ganze Wohnung. Er hielt sein Versprechen, er rührte mich nie an, nie, nicht mal einen Kuss. Als die Narben fast weg waren, gab er mir noch eine Salbe mit, die durfte ich umsonst haben. »Die schenk ich dir«, sagte er, »weil mitgemacht hast du genug.«

      Ich war siebzehn, als ich sie vom Nachtlokal nach Hause begleitete, obwohl sie nicht mit mir tanzen wollte. »Mit dir hab ich ja schon getanzt«, hat sie gesagt und den blonden Kopf geschüttelt, dabei war das mein älterer Bruder, der mir so ähnlich sah. Sie war gelernte Greißlerin1, und von da an begleitete ich sie immer von der Arbeit nach Hause. Irgendwann traute ich mich zu fragen: »Gehst du mit mir ins Kino?«

      Aber sie meinte: »Da musst du meinen Vater fragen.«

      Also ging ich hinauf und fragte. »Aber du musst sie so heimbringen, wie sie ist, und nicht irgendwie, weißt eh, einen Blödsinn machen«, sagte er zu mir. Und das habe ich auch nicht. Um elf war das Kino aus und pünktlich um zwölf war sie wieder zu Hause. Dann durfte ich mit ihr ins Kino gehen, wann ich wollte, oder ins Kaffeehaus, ihr einen Kaffee bestellen oder ein Stück Torte, wenn sie eines wollte. Und jeden Abend brachte ich sie wieder nach Hause, so wie sie war, ohne einen Blödsinn zu machen. So lange, bis ich drei Jahre später wieder zum Vater hinaufging. Diesmal aber, um um ihre Hand zu fragen.

      Ich war siebzehn, als meine Mutter mich ansah, von oben bis unten, und dann nochmal meinen Bauch. Es war schon zu sehen, ich konnte schon die Hand darum legen. »Bei aller Liebe«, sagte meine Mutter, »aber du kannst daheim nicht bleiben.« Wegen der Nachbarn war es, was sollten die Nachbarn denken, ledig, siebzehn, schwanger? Dabei hätte das so gar nicht kommen sollen, ich wollte ja heiraten, wir wollten ja. Aber das Jugendamt wollte nicht. Weil ich minderjährig war, musste ich beim Gericht eine Erlaubnis einholen, aber einen Kriminellen, der sich immer prügelte, einen Vorbestraften wollten sie mich nicht heiraten lassen. Also fuhr ich nach Wien. Wien ist groß. Und die Nachbarn? Meine Mutter sagte ihnen, ich hätte einen Tumor im Bauch.

      In Wien lebte ich unter der Reichsbrücke. Netter als die Nachbarn waren die Leute dort allemal. Ich war im Zelt mit zwei Frauen, beide hatten lange graue Haare, die eine war ein bisschen dicker, die andere ein bisschen dünner, aber von der Art her waren sie wie Zwillingsschwestern. Was die eine gemacht hat, hat die andere auch gemacht. Untertags gingen sie zusammen mit den anderen betteln, das waren sicher dreißig Männer oder noch mehr. Am Abend kamen sie zurück, an guten Tagen mit Taschen voller Einkäufe, und machten den Ofen an. Um den standen wir dann und aßen, an schlechten Tagen war das ein Igel, der gebraten wurde, an guten konnten das sogar Tortenstücke sein. Ich war ja schwanger, da hat man schon mal einen Gusto. Aber ich bekam immer, was ich wollte. Bestellte ich mir eine Biskottentorte, dann kam eine Biskottentorte. Nicht immer sofort, sie mussten ja zuerst ausspitzeln, wo nicht so genau aufgepasst wurde, wo so eine Torte schon mal mitgehen konnte, ohne zu zahlen. Aber dann kam sie immer, die Biskottentorte für mich. Und abends, wenn das Feuer gemacht wurde, konnte ich mich im Warmen waschen, und sie passten auf, dass mir keiner was antat. Kein Einziger hat mich je berührt.

      Als ich sieben Monate schwanger war, kam wieder einmal die Polizei. Wir rannten in alle Himmelsrichtungen, so wie immer. Aber im siebten Monat, wo rennt man da noch groß hin? Sie erwischten mich und steckten mich ins Heim. Die zwei Frauen sah ich nie wieder, die anderen auch nicht. Sie wollten ja nichts mit den Behörden zu tun haben. Und dann, nach neun Monaten, kam ich ins Krankenhaus. Nicht lange nach mir war auch schon die Jugendfürsorge da, und das Kind war auch weg.

      Mein Vater hat Autos verkauft, manchmal war er auch als Fahrer unterwegs. Schon als Jugendlicher half ich ihm dabei, meistens dann, wenn er Kohle ausfahren musste. Zusammen warfen wir uns die großen Kohlesäcke über die Schulter, machten sie vorne auf und kippten alles in die Kohlenkiste. Gefahren bin ich also immer schon.

      Ich fing meine Ausbildung bei einem Automechaniker an, weil ich schon fahren konnte, ließ er mich sofort ohne Führerschein ans Steuer. Mit dem neuen Amerikaner, dem Chevrolet, fuhren wir zusammen auf die Autobahn. »Ist das schon alles?«, sagte mein Chef zu meinem Hunderter. »Komm, steig drauf!« Und ich beschleunigte auf 150. Als ich jung war, fuhr ich oft Rallyes im Wald, mit 18 durfte ich dann endlich den Führerschein machen. So bin ich Fernfahrer geworden.

      Kinder hatte ich viele im Leben, und Männer noch mehr. Mein erster Mann war drogensüchtig, der hat den Putz von den Wänden gekratzt, wenn er nichts bekommen hat. Der zweite war Alkoholiker. Mein erstes Kind nahm mir die Jugendfürsorge weg, das zweite die Schwiegermutter. Beim dritten Kind stand die Frau von der Fürsorge wieder über dem Krankenhausbett. »Wenn du unterschreibst, dass du ihn weggibst, dann gibt dir der Arzt eine Spritze, damit es schneller geht.« Wissen Sie, wie sich eine Steißgeburt anfühlt? Jedenfalls habe ich unterschrieben. Erst über fünfzig Jahre später sah ich das Kind wieder, als es mir, Andi getauft und mittlerweile erwachsen, einen Brief schrieb. Dieser Andi ließ nämlich nachforschen, wer seine leibliche Mutter war. Er will sich mit mir treffen, am Westbahnhof, schrieb er. Ich stand beim Ausgang oben, dann kam plötzlich ein Mann auf mich zu, der sah ein bisschen mir ähnlich und ein bisschen seinem Vater. »Ich bin der Andi«, sagte er.

      Und ich darauf: »Ich bin dei Mutti.«

      Wir umarmten uns und ich konnte nur noch weinen. Zusammen gingen wir essen und redeten und redeten, am meisten über seinen Vater.

      Behalten habe ich nur das vierte Kind, meine Tochter Monika. Eigentlich wollte ich sie abtreiben, wollte ich auch bei den Kindern davor, aber im Spital wiesen sie mich immer wieder ab. »Sie müssen erst viele gesunde Kinder auf die Welt bringen, dann können wir eine Abtreibung machen«, sagte der Arzt zu mir. Ich nahm zwar die Pille, aber nach einem Jahr musste man damals noch aussetzen. Kaum hatte ich die Pille abgesetzt, war ich wieder schwanger.