Roland Lange

Harzhunde


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Angefressen kramte er seine Sachen zusammen und verließ den Hochsitz.

      Es war nur ein verhältnismäßig kurzes Wegstück bis hin zu seinem Mercedes-Geländewagen, aber das führte über einen schmalen, welligen und mit tückisch aus dem Boden ragenden Baumwurzeln übersäten Trampelpfad. Jeden Schritt musste er mit Bedacht setzen. Entsprechend langsam kam er voran. Er hatte den Wagen am Ende des Schotterweges abgestellt, dort, wo er sich zu einem von sperrigem, dornenübersätem Gestrüpp umgebenen kleinen Platz weitete. Einem ehemaligen Holz-Verladeplatz. Aber Holz wurde von diesem Ort schon lange nicht mehr abtransportiert. Dementsprechend hatte der Weg, der aus dem Dorf hier herauf führte, zumindest auf dem letzten Kilometer durch den Wald keine Bedeutung mehr. Er wurde nur notdürftig instand gehalten – von Leuten, die nichts Besseres zu tun hatten, als auf Hochsitzen zu hocken und Löcher ins Dunkel zu starren.

      Daniel sah den Mercedes im bleichen Mondlicht durch das Astwerk schimmern. Etwa zwanzig, dreißig Meter voraus. Gleich konnte er seine Utensilien verstauen, sich in die weichen Lederpolster des Fahrersitzes fallen lassen und den Heimweg antreten. Scheiß auf sein Jagdpech, scheiß auf die spöttischen Kommentare seines Schwiegervaters und die enttäuschten Blicke seiner Frau – Haupt­sache, er kam endlich ins Bett!

      Das drohende Knurren in seinem Rücken ließ ihn zusammenfahren und zur Salzsäule erstarren. Zwei, drei Sekunden verharrte er so, dann drehte er sich um. Langsam, wie in Zeitlupe. Instinktiv wusste er, dass er keine schnellen Bewegungen machen durfte. Das Knurren war nur allzu real, keine Ausgeburt seiner Fantasie. Und ebenso bewusst war ihm, dass mit dem Wesen, von dem das bedrohliche Geräusch ausging, nicht zu spaßen war.

      Dann sah er sie vor sich, die Kreatur. Zwanzig Meter entfernt, vielleicht etwas mehr, stand das Biest ein Stück oberhalb am Hang zwischen den Bäumen. Kaum möglich, das richtig einzuschätzen. Das Tier erschien ihm riesig, und er wusste nicht, ob das trübe Zwielicht seiner Wahrnehmung einen Streich spielte oder ob es tatsächlich diese übernatürliche Größe hatte. War es ein Hund? Ein Wolf? Eine abartige Kreuzung aus beidem? Was immer dort in Angriffsposition lauerte; mit seinen gesträubten Nackenhaaren, den hochgezogenen Lefzen und den im blassen Licht schimmernden Reißzähnen gierte es nach seinem Blut.

      Daniel spürte die Kälte, die durch seinen Körper strömte, und gleichzeitig den Angstschweiß, der ihm auf die Stirn trat. Er versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken und klar zu denken. Er wusste den Mercedes hinter sich, nur wenige schnelle Schritte entfernt. Den Autoschlüssel mit der Funkfernbedienung trug er in seiner Hosentasche. Er hatte nur diese eine, lächerlich kleine Chance.

      Seine Muskeln spannten sich. Er bewegte seine Hand zur Tasche, ließ sie Zentimeter für Zentimeter hineingleiten. Unendlich langsam tasteten sich seine Finger voran. Die Kreatur schien zu ahnen, was er plante. Sie roch seine Angst, leises drohendes Grollen deutete auf die unmittelbar bevorstehende Attacke hin. Der Schlüssel! Endlich berührte er ihn, bekam ihn zu fassen. Er fand den Funktaster, drückte ihn. In derselben Sekunde, als ein doppeltes kurzes Zwitschern das Öffnen der Autotür signalisierte, flog er herum und sprintete los. Das Biest hing ihm an den Fersen. Er sah es nicht mehr, aber er wusste, dass es da war – und schnell näher kam!

      Seine letzten Kräfte mobilisierend, hechtete er der Autotür entgegen, riss sie auf, warf seine Büchse und den Rucksack hinein, griff zum Lenkrad, wollte sich auf den Autositz schwingen ... Ein stechender Schmerz in der Wade ließ ihn aufschreien. Das Monster hing knurrend an seinem Bein. Er brüllte wie ein Berserker, versuchte der Kreatur zappelnd und um sich tretend zu entkommen. Gleichzeitig zog er mit einem energischen Ruck an der Fahrertür, legte alle Kraft in die Bewegung. Der Türrahmen traf die Bestie offensichtlich schmerzhaft, denn für eine Sekunde ließ sie von ihm ab. Diesen Moment nutzte er, um sein Bein ins Wageninnere zu ziehen und die Tür vollends zuzuschlagen.

      Wahnsinnig vor Wut sprang die Kreatur an der Karosserie hoch, kratzend und geifernd, das aufgerissene Maul nur Zentimeter von seinem Gesicht entfernt. Aber er war in Sicherheit, die Seitenscheibe zwischen sich und den mörderischen Zähnen. Mit zitternden Fingern ließ er den Motor an, legte ein gewagtes Wendemanöver hin, das ihm dank des Allradantriebs auf Anhieb glückte. Mit durchdrehenden Reifen raste er schlingernd den Weg zurück. Raus aus dem Wald. Weg von dieser teuflischen Bestie, die dem Wagen hinterherhetzte. Zumindest glaubte er sie hinter sich. Als er einen hastigen Blick in den Rückspiegel wagte, war da nichts mehr. Das Vieh war wie vom Erdboden verschluckt.

      Auf halber Strecke hinunter ins Dorf legte sich Daniels panische Angst. Sein Verstand übernahm wieder die Kontrolle nach der kopflosen Flucht. Er nahm den Fuß vom Gas, der Wagen wurde langsamer. Dann steuerte er den Mercedes an den Wegrand und hielt an. Die Hände um das Lenkrad gekrampft, atmete er einige Male tief durch, bis sich sein rasender Herzschlag etwas beruhigt hatte. Der Schmerz in seiner Wade kehrte zurück. In den vergangenen Minuten hatte das überschießende Adre­nalin jeden Gedanken an sein verletztes Bein verhindert. Er schaltete die Innenraumbeleuchtung ein, blickte nach unten in den Fußraum. Das linke Hosenbein war zerfetzt, und aus seiner Wade blutete es heftig. Auf der Fußmatte hatte sich eine dunkelrote Lache um seine verdreckten Schuhe herum gebildet. Eine einzige schmierige Sauerei! Angewidert starrte er auf die blutgetränkten Stofffetzen und die Wunde, deren Ausmaße er in dem feucht-klebrigen Chaos nur erahnen konnte. Dem Schmerz nach zu urteilen, hatte ihm das Vieh ein gewaltiges Stück Muskelfleisch vom Knochen gerissen. So konnte er nicht weiterfahren. Er würde verbluten, ehe er zu Hause angekommen war!

      Daniel öffnete die Fahrertür und ließ sich nach draußen gleiten. Als er mit dem Fuß seines verletzten Beines auf der Erde aufkam, trieb ihm der Schmerz Tränen in die Augen. Er biss die Zähne zusammen und humpelte um den Wagen herum. Der Verbandskasten verbarg sich seitlich hinter der Heckklappe. Mit zittrigen Fingern öffnete er den Deckel des Kastens und riss die Verpackung eines Verbandstuches auf. Mit dem Tuch tupfte er vorsichtig die Haut entlang der Wunde sauber. Ihm blieben nur wenige Augenblicke, um zu erkennen, dass ihm das Biest eine tiefe Fleischwunde beigebracht hatte. Ein Riss, der genäht werden musste, wie es aussah. Umständlich fummelte er eine Kompresse und eine Binde aus ihren Verpackungen. Ohne nachzulassen, rann das Blut an seinem Bein herunter. Nach zwei Fehlversuchen schaffte er es, sich einen provisorischen Verband anzulegen, der seinen Zweck erfüllte. Die Blutung war für den Augenblick gestillt. Mit etwas Glück würde er zu Hause ankommen, ehe die Kompresse völlig durchtränkt war. Dort würde er Julia bitten müssen, ihn in die Notaufnahme des Krankenhauses zu fahren. Allein schaffte er das nicht mehr.

      Mit zusammengebissenen Zähnen fuhr er weiter, versuchte, so gut es ging, die Schmerzen zu verdrängen und an etwas anderes zu denken. Etwa daran, wie er Julia und seinem Schwiegervater die Verletzung erklären sollte. Ihnen von dem Angriff erzählen? Wo er nicht einmal wusste, was genau für ein Tier das gewesen war, das ihn attackiert hatte? Ein blutrünstiges Monster beschreiben, das es in seinem Wald gar nicht geben durfte? Was, wenn die zerrissene Hose und die Wunde an seiner Wade eine andere Ursache hatten? Wenn die zähnefletschende Bestie dort auf dem kleinen Hügel nur Einbildung gewesen war? Der nächtliche Wald bot den besten Nährboden für Ausgeburten der Fantasie. Der Riss an seiner Wade – im Grunde genommen war es doch nicht mehr als eine etwas größere Schramme und keine klaffende Risswunde. In der Dunkelheit, und wenn man dazu noch Angst hatte, nahmen alle Dinge Ausmaße an, die bei Licht besehen auf Zwergengröße schrumpften. Genauso gut konnte er sich bei seiner panischen Flucht im dornigen Gestrüpp verfangen haben. Ein spitzer Ast, der sich in seine Wade gebohrt hatte ... Er wusste nicht, was er denken sollte. Nur eins war ihm schon jetzt klar: Was immer er seinem Schwiegervater für eine Geschichte auftischte, er würde bei dem Patriarchen weiteren Kredit verspielen. Und Julia? Die würde sich in Grund und Boden für ihn schämen.

      Eine morsche Sprosse am Hochsitz! Das wäre doch eine einleuchtende Erklärung! Die Sprosse war beim Abstieg vom Hochsitz gebrochen. Er hatte sich nicht halten können, war hinuntergerauscht. Ein rostiger Nagel war ihm zum Verhängnis geworden, hatte seine Hose zerrissen und ihm die Wunde beigebracht. Wenn der Alte das hörte, musste er doch froh sein, dass nicht Schlimmeres passiert war, und Erbarmen mit ihm haben! Trotz des entgangenen Rehbratens.

      2. Kapitel

      Stefan Blume hielt sich in der kleinen Baracke auf, die hinter dem Ponytale Saloon an das Hauptgebäude grenzte. Dort hatte er sein Reich: zwei Büroräume, in denen er arbeitete, seit er damals