Walter Benjamin

Passagen, Durchgänge, Übergänge. Eine Auswahl


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      Walter Benjamin

      Passagen, Übergänge, Durchgänge

      Eine Auswahl

      Herausgegeben von Johanna Sprondel

      Reclam

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      2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

      Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

      Made in Germany 2020

      RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

      ISBN 978-3-15-961775-6

      ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014046-8

       www.reclam.de

      Fluchtlinien 1

      Die Geschichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet. So war für Robespierre1 das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte. Die französische Revolution verstand sich als ein wiedergekehrtes Rom. Sie zitierte das alte Rom genau so wie die Mode eine vergangene Tracht zitiert. Die Mode hat die Witterung für das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene. Nur findet er in einer Arena statt, in der die herrschende Klasse kommandiert.

      Die erste Etappe dieses Weges wird sein, das Prinzip der Montage in die Geschichte zu übernehmen. Also die großen Konstruktionen aus kleinsten, scharf und schneidend konfektionierten Baugliedern zu errichten. Ja in der Analyse des kleinen Einzelmoments den Kristall des Totalgeschehens zu entdecken. Also mit dem historischen Vulgärnaturalismus zu brechen. Die Konstruktion der Geschichte als solche zu erfassen. In Kommentarstruktur.

      Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde nichts Wertvolles entwenden und mir keine geistvollen Formulierungen aneignen. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht inventarisieren2 sondern sie auf die einzig mögliche Weise zu ihrem Rechte kommen lassen: sie verwenden.

      Und all die Orte von Paris, die hier auftauchen, sind Stellen, an denen das, was zwischen diesen Menschen ist, sich wie eine Drehtür bewegt.

      Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts

      »Die Wasser sind blau und die Gewächse sind rosa;

      der Abend ist süß anzuschauen;

      Man geht spazieren. Die großen Damen gehen spazieren;

      hinter ihnen ergehen sich kleine Damen.«

       Nguyen-Trong-Hiep: Paris capitale de la France. Recueil de vers, Hanoi 1897. Poésie XXV.

      I. Fourier oder die Passagen

      »De ces palais les colonnes magiques

      A l’amateur montrent de toutes parts,

      Dans les objets qu’étalent leurs portiques,

      Que l’industrie est rivale des arts.«3

       Nouveaux tableaux de Paris. Paris 1828. I, p. 27.

      Die Mehrzahl der pariser Passagen entsteht in den anderthalb Jahrzehnten nach 1822. Die erste Bedingung ihres Aufkommens ist die Hochkonjunktur des Textilhandels. Die magasins de nouveautés4, die ersten Etablissements, die größere Warenlager im Hause unterhalten, beginnen sich zu zeigen. Sie sind die Vorläufer der Warenhäuser.

      Wenn die Passage die klassische Form des Interieurs ist, als das die Straße sich dem Flaneur5 darstellt, so ist dessen Verfallsform das Warenhaus. Das Warenhaus ist der letzte Strich des Flaneurs. War ihm anfangs die Straße zum Interieur geworden, so wurde ihm dieses Interieur nun zur Straße, und er irrte durchs Labyrinth der Ware wie vordem durch das städtische.

      Was in den Passagen verkauft wird, sind Andenken. Das »Andenken« ist die Form der Ware in den Passagen. Man kauft immer nur Andenken an die und die Passage. Entstehung der Andenkenindustrie.

      Es war die Zeit, von der Balzac6 schrieb: »Le grand poème de l’étalage chante ses strophes de couleurs depuis la Madeleine jusqu’à la porte Saint-Denis7.« Die Passagen sind ein Zentrum des Handels in Luxuswaren. In ihrer Ausstattung tritt die Kunst in den Dienst des Kaufmanns. Die Zeitgenossen werden nicht müde, sie zu bewundern. Noch lange bleiben sie ein Anziehungspunkt für die Fremden. Ein »Illustrierter Pariser Führer« sagt: »Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so daß eine solche Passage eine Stadt, ja eine Welt im kleinen ist.« Die Passagen sind der Schauplatz der ersten Gasbeleuchtung.

      Das erhöhte die Sicherheit in der Stadt; es machte die Menge auf offener Straße auch des Nachts bei sich selber heimisch; es verdrängte den Sternenhimmel aus dem Bilde der großen Stadt zuverlässiger als das durch ihre hohen Häuser geschah. »Ich ziehe den Vorhang hinter der Sonne zu; nun ist sie zu Bett gebracht wie es sich gehört; ich sehe fortan kein anderes Licht als das der Gasflamme.« […] Mond und Sterne sind nicht mehr erwähnenswert.

      Solange in ihr die Gas- ja die Öllampen gebrannt haben, waren sie Feenpaläste. Aber wenn wir auf dem Höhepunkt ihres Zaubers sie denken wollen, so stellen wir die Passage des Panoramas uns 1870 vor, als sie: auf der einen Seite hing das Gaslicht, auf der andern flackerten noch die Öllampen. Der Niedergang beginnt mit der elektrischen Beleuchtung. Aber ein Niedergang war es im Grunde nicht, sondern genau genommen ein Umschlag. Wie Meuterer nach tagelanger Verschwörung einen befestigten Platz sich zu eigen machen, so riß mit einem Handstreich die Ware die Herrschaft über die Passagen an sich. Nun erst kam die Epoche der Firmen und Ziffern. Der innere Glanz der Passagen erlosch mit dem Aufflammen der elektrischen Lichter und verzog sich in ihre Namen. Aber nun wurde ihr Name wie ein Filter, der nur das innerste, die bittere Essenz des Gewesnen hindurchließ.

      Die zweite Bedingung des Entstehens der Passagen bilden die Anfänge des Eisenbaus. Das Empire sah in dieser Technik einen Beitrag zur Erneuerung der Baukunst im altgriechischen Sinne.

      Es geht aber mit den Erfahrungen der Menschheit – und die Antike ist eine Menschheitserfahrung – nicht anders wie mit denen des einzelnen. Ihr Formgesetz ist ein Gesetz der Schrumpfung, ihr Lakonismus nicht der des Scharfsinns sondern der eingezogenen Trockenheit alter Früchte […].

      Der Architekturtheoretiker Boetticher8 spricht die allgemeine Überzeugung aus, wenn er sagt, daß »hinsichtlich der Kunstformen des neuen Systemes das Formenprinzip der hellenischen Weise« in kraft treten müsse. Das Empire ist der Stil des revolutionären Terrorismus, dem der Staat Selbstzweck ist. So wenig Napoleon die funktionelle Natur des Staates als Herrschaftsinstrument der Bürgerklasse erkannte, so wenig erkannten die Baumeister seiner Zeit die funktionelle Natur des Eisens, mit dem das konstruktive Prinzip seine Herrschaft in der Architektur antritt. Diese Baumeister bilden Träger der pompejanischen Säule, Fabriken den Wohnhäusern nach, wie später die ersten Bahnhöfe an Chalets9 sich anlehnen. »Die Konstruktion nimmt die Rolle des Unterbewußtsein ein.«

      Merkantilismus10, Antike und mystisches Naturexperiment: Vollendung des Staates durch das Geldwesen, der Kunst durch die Antike, der Natur durch das Experiment sind die Signatur der Epoche […].

      Die Moderne hat die Antike wie einen Alb11,