richtete sich auf den Fernsehbildschirm. Im klaren Licht der Wirklichkeit erkannte sie, dass der Mann, der mit von Hass verzerrtem Mund die Menge aufpeitschte, nicht Lubeck war. Die Ähnlichkeit allerdings war da und sie hatte die Angst in ihr wachgerufen. Er besaß die gleichen kalten Augen, die harten Lippen und das dunkelblonde, streng gescheitelte Haar.
Die Karikatur, die sie vor fast achtzig Jahren in ihr Schulheft gemalt hatte, kam ihr in den Sinn: ein Ziegenbock mit Klumpfuß und dem Gesicht von Joseph Goebbels – Hitlers Einpeitscher. Mit der unbedachten Kritzelei hatte alles begonnen, ihr junges Leben hatte seine Unschuld verloren.
Der namenlose Schreihals im Fernsehen benutzte beinahe die gleichen Worte wie Goebbels, um die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Sie waren wieder da, die Verführer und Wölfe im Schafspelz. Die braune Hydra war erwacht und streckte ihre geifernden Köpfe aus, um jeden zum Schweigen zu bringen, der sich ihr in den Weg stellte. Hannah hatte Jahre ihres Lebens damit zugebracht, sie zu jagen und ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Mochten andere den Kampf nun weiterführen. Steinalt, wie sie war, fehlte ihr die Kraft dazu. Fahrig tastete sie nach der Fernbedienung, die leise klappernd zu Boden fiel.
»Warte, Omi Hanni. Ich heb sie auf.«
Judith bückte sich und legte das Gerät mit der spielerischen Geschmeidigkeit der Jugend an seinen Platz zurück. Wie sehr sie Malisha ähnelt, dachte Hannah. Alles wiederholt sich. Das Gute … und das Böse. Das Alte muss sterben, um dem Neuen Platz zu machen. Ihr wurde kalt. Fröstelnd rieb sie sich die Unterarme und zog die Wolldecke höher.
»Alles okay?«, fragte Judith.
Hannah nickte. »Ich war eingeschlafen und hatte einen bösen Traum. Das ist alles.«
Ihre Urenkelin runzelte besorgt die Stirn. »Du bist ganz blass. Man könnte meinen, du hättest ein Gespenst gesehen.«
»Vielleicht habe ich das sogar«, antwortete Hannah.
Judith warf einen Blick auf den Fernseher.
»Er ist es gewesen, nicht wahr? Er hat dich erschreckt.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Weil er aussieht wie der Mann in deinem alten Fotoalbum.«
Einmal mehr war Hannah überrascht über das feine Gespür ihrer Urenkelin. Man kann ihr nichts vormachen, dachte sie zufrieden.
»Ja«, sagte sie, »er hat mich wohl ein bisschen erschreckt.«
»Du solltest dir das Geschrei dieser rechten Idioten nicht anschauen.« Judith schaltete erbost den Fernseher aus.
»Man darf nicht wegschauen«, sagte Hannah. Als müsse sie sich diese Erkenntnis selbst wieder ins Gedächtnis rufen, wiederholte sie den Satz. »Man darf nicht wegschauen.«
Judith zog das abgegriffene Album aus dem Regal im Wohnzimmerschrank und blätterte darin. Hannah wusste, dass die alten Schwarz-Weiß-Fotografien sie faszinierten und ihr ein Fenster in eine völlig andere Welt öffneten; in eine Zeit, in der Hannah so jung gewesen war wie ihre Urenkelin heute.
Das Mädchen betrachtete ein Gruppenbild, auf dem Lubeck zu sehen war. Das Personal der Tötungsanstalt Hadamar hatte sich während einer Weihnachtsfeier ablichten lassen. Hannah überlegte, ob es 1943 oder 1944 gewesen war. Sie wusste es nicht mehr.
»Wer war er?«, fragte Judith.
»Einer von ihnen«, antwortete Hannah leise. »Ein Arzt, der Kranke ermordet hat.«
Ihre Urenkelin zog die Nase kraus, ein sicheres Zeichen, dass sie angestrengt nachdachte. Nun würden die Fragen kommen. Judith war ein wissbegieriges Mädchen von vierzehn Jahren. Sie war nun in dem gleichen Alter, in dem Hannah gewesen war, als die Nazis ihre Kindheit jäh beendet hatten. Einen Moment lang versank sie erneut in der Vergangenheit und hörte die schrille Stimme von Pilz, dem kahlköpfigen Mathematiklehrer.
Nun, was denn, was denn? Was soll denn aus dir werden, Hannah Bloch?
»Wir haben in der Schule gelernt, dass die Nazis die Juden ermordet haben«, sagte Judith, »aber ich wusste nicht, dass sie auch Kranke getötet haben.« Das durchsichtige Schutzpapier knisterte, als sie eine Seite umblätterte. »Du hast mir nie gesagt, wer der blonde Soldat ist.«
Hannah stützte sich auf und schob ihre Brille über die Nase. »Das ist Hans Simonek.«
»Süß«, kommentierte Judith das Foto.
Hannah lächelte. »Ja, das war er.«
Judiths Augen leuchteten. »Du warst in ihn verliebt, ich seh’s dir an. Erzählst du mir von ihm? Was ist aus ihm geworden?«
Hannahs Lächeln erstarb. »Sie haben ihn erschossen, weil er nicht mehr für Hitler kämpfen wollte.«
Das Funkeln in den Augen ihrer Urenkelin erlosch. Behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über das sepiabraune Bild; eine Geste, die Hannah einen Stich ins Herz versetzte, denn sie erinnerte sich an eine verlorene Liebe und den Schmerz, der damit verbunden war.
»Tut mir leid, Oma. Ich hätte nicht fragen sollen.«
»Unsinn, es ist wichtig, dass nichts davon in Vergessenheit gerät.«
»Wer hat ihn getötet?«, fragte Judith vorsichtig.
»Ein Mann namens Heyrich.«
»Ist er dafür bestraft worden?«
»Ja, das ist er. Ich habe ihn gejagt, bis ich ihn gefunden hatte.«
Judiths Augen wurden groß. »Du? Das musst du mir erzählen. Von Anfang an.«
Hannah lächelte. Ihre Urenkelin war eine aufmerksame Zuhörerin, und vor allem interessierte sie sich für die alten Geschichten aus Kriegstagen.
»Angefangen hat es am 22. Dezember 1939«, sagte Hannah, »in einem Klassenzimmer in Frankfurt an einem kalten Wintertag. Erinnerst du dich an die schlimmen Träume, die du als Kind hattest?«
»Ja. Du sagtest dann, ich würde im Pudding stecken«, antwortete Judith.
»Im Sirup«, verbesserte Hannah. »Mir ging es genauso. An jenem letzten Schultag vor Weihnachten erlitt ich einen epileptischen Anfall vor all den Kindern in der Klasse und vor meinem Lehrer. Du musst wissen, er war ein fanatischer Nationalsozialist. Die Nazis planten, alles Leben zu beseitigen, das sie als lebensunwert erachteten. Sie waren davon überzeugt, dass Kranke und Menschen mit Behinderung das deutsche Volk schädigen und die arische Rasse verunreinigen würden. Darum sollten diese Menschen sterben. Darum sollte ich sterben. Mein Lehrer meldete mich daher den Behörden. Deine Ururgroßmutter Malisha und ich mussten aus Deutschland fliehen.«
»Wohin seid ihr gegangen?«
»Wir kamen nicht weit. Der Mann mit der Narbe verfolgte uns, bis er uns gefunden hatte.«
»Aber du warst doch nur ein Kind.«
»Es ging ihm um Malisha«, erklärte Hannah. »Er hatte sich in sie verliebt, aber meine Mutter wies ihn ab – ein großer Fehler, denn Lubeck besaß Macht und Einfluss.«
»Ich hätte genauso gehandelt«, sagte Judith.
»Ja, sicher hättest du das«, sagte Hannah lächelnd. Was wusste dieses Kind schon von den Kellern der Gestapozentrale in Frankfurt, die sie die Villa genannt hatten, oder von den Gaskammern der Mordanstalten, vom Gestank der Öfen, in denen sie die Leichen der Ermordeten verbrannt hatten. Asche war wie schwarzer Schnee aus dem eisgrauen Himmel gefallen und hatte sich auf ihr Haar und ihre Schultern gelegt.
»Wie hat Lubeck auf die Abfuhr reagiert?«, fragte Judith.
»Er nahm sich mit Gewalt, was er haben wollte.«
»Hat er Malisha gezwungen, ihn zu heiraten?«, fragte Judith schockiert.
»Sie zog es vor, für ihre Überzeugungen zu sterben. Malisha wurde verhaftet, weil sie den Nazis Widerstand leistete. Die Gestapo hat sie ermordet.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Judith betroffen. »Ich weiß so wenig über diese schlimme Zeit.