Volker Dützer

Die Ungerächten


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      Esther erzählte vom Tod ihrer Familie, vom Warschauer Ghetto und ihrer Flucht nach Frankreich, wo sie sich zwei Jahre lang auf dem Dachboden eines Hauses versteckt hatte.

      »Ich bin die Einzige meiner Familie, die überlebt hat«, sagte sie. »Kurz vor Kriegsende wurden wir verraten. Verwandte retteten mich in letzter Minute, aber meine Eltern brachten sie ins KZ Natzweiler-Struthof. Das ist bei Straßburg.«

      »Ich weiß«, sagte Pawel. Er spürte, dass er eine Seelenverwandte getroffen hatte. »Fühlst du dich manchmal schuldig deswegen?«

      »Ja«, antwortete Esther leise. »Warum gerade ich? Ich finde keine Antwort darauf.«

      »Es gibt ein Heilmittel, Esther.«

      »Wie sollen diese Wunden jemals heilen?«

      »Mein Vater wusste, wovon er sprach«, sagte Pawel. »Gott hat uns überleben lassen, damit wir Vergeltung üben.«

      Sie sprang auf und lief erregt im Aufenthaltsraum umher. »Genau das habe ich zu Jaron und Ari gesagt. Die Amerikaner und Briten konzentrieren sich auf die großen Namen, aber es gibt Tausende kleine Nazis, die zu Mördern wurden und vor Kriegsende untergetaucht sind. Wenn wir das Recht nicht in die eigenen Hände nehmen, kommen sie ungestraft davon.«

      Sie blieb stehen und ballte die Fäuste. Pawel spürte die unterdrückte, unbändige Energie, die von ihr ausging, die gleiche unerträgliche Spannung, die auch er empfand.

      »Du musst wissen, wir haben eine Art Bund geschlossen und eine Widerstandsgruppe nach dem Vorbild der Jüdischen Brigade gegründet«, sagte sie. »Es haben sich uns weitere Opfer des Nazi-Terrors angeschlossen, wir sind die Anführer hier in Frankfurt. Wir haben beschlossen, nicht länger abzuwarten, wir wollen endlich etwas unternehmen.«

      »Die Jüdische Brigade?«, fragte Pawel neugierig.

      Esther nickte heftig. »Hast du nie davon gehört? Die Briten stellten auf Drängen von Exiljuden während des Krieges eine Brigade auf, die fast nur aus Juden bestand. Sie wurde in Italien eingesetzt. Nach dem Krieg und der offiziellen Auflösung haben einige von ihnen im Untergrund SS-Offiziere gejagt. Sie stellten diese Schweine vor ein eigenes Gericht und vollstreckten die Urteile, die sie gefällt hatten, selbst und unmittelbar.«

      »Ihr wolltet also vergangene Nacht Mitschke zur Rechenschaft ziehen?«, fragte Pawel erregt. Konnte es sein, dass er auf eine ganze Gruppe Gleichgesinnter gestoßen war?

      Esther schnaufte enttäuscht. »Jaron und Ari haben zu lange gezögert. Ihre Wut auf dich war nur gespielt. Ich glaube, sie waren froh, dass du unsere Aktion vereitelt hast, weil sie die Hosen voll hatten.« Sie sah ihm in die Augen. »Ich war mir nicht sicher, ob ich dir trauen kann, darum wollte ich dich kennenlernen. Ich habe das Gefühl, dass du anders bist als Ari und Jaron … härter, stärker und mutiger.«

      »Und nun bist du es?«

      Sie holte eine Tonflasche aus einem Schrank und goss Schnaps in zwei Gläser. »Du hast die Tatkraft und Entschlossenheit, die ihnen fehlt. Ich sage, lass uns Mitschke und seine Nazibrut zur Hölle schicken. Lass uns mit dem Pack aufräumen.«

      Pawel spürte, wie der Alkohol heiß seine Kehle hinabrann. Endlich war er nicht mehr allein in seinem Zorn. Esther erinnerte ihn an Milena. Auch seine Schwester hatte vor Energie und Lebenslust gesprüht und war stets voller hochfliegender Pläne gewesen. Esther schickte ihm der Himmel. Mit ihrer Hilfe würde er sein Versprechen einlösen können.

      »Als ich heute ankam, habe ich einen Mann aus dem Haus gehen sehen«, sagte er. »Er trug Drillichkleidung und eine Schiebermütze. Er hat eine Glatze, eine Boxernase, buschige Brauen und dicht beieinanderstehende Augen.«

      »Du meinst Günther Lüdge, unseren Hausmeister?«

      »Ach, so nennt er sich jetzt?«

      »Was meinst du damit?«

      »Er heißt nicht Lüdge«, erklärte Pawel, »sondern Gustav Bolkow, und er war Kapo von Block 13 in Sachsenhausen.«

      9

      17. April 1947

      Pawel lag auf Esthers Bett, rauchte und verlor sich in Tagträumen. Aus dem Bad drang das Plätschern der Dusche. Als er in den Baumweg gekommen war, hatte er keinen Gedanken daran verschwendet, sich zu verlieben. Viel zu sehr war er damit beschäftigt gewesen, seinen leeren Magen zu füllen und den Rachedurst seines Herzens zu stillen. Esther las nicht nur in seiner geschundenen Seele wie in einem offenen Buch, sie zeigte ihm auch bereitwillig, dass das Leben mehr zu bieten hatte als den Wunsch nach Vergeltung. Pawel hatte völlig vergessen, wie es war, mit einer Frau zusammen zu sein.

      Seit zwei Wochen teilte er Tisch und Bett mit ihr. Esther liebte das Leben und genoss jeden Tag, als wäre es der letzte. Sie weckte in ihm Gefühle, von denen er angenommen hatte, sie wären in den Krematorien der Lager längst zu Asche verbrannt. Bald stellte er verwundert fest, dass er Esthers Zuneigung aufrichtig erwiderte und sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte.

      Dass er sich endlich satt essen konnte und ein Dach über dem Kopf hatte, war hingegen auch nicht zu verachten. Er rekelte sich wohlig unter der warmen Decke, blies genießerisch den Tabakrauch durch die Nasenlöcher und dachte an die rothaarige Wildkatze, die nebenan duschte. Wer hätte gedacht, dass sich sein Leben so plötzlich ändern würde? Esther war nicht nur die perfekte Partnerin, die er brauchte, um sein Versprechen einzulösen. Sie war zugleich die Frau, die alle seine Sehnsüchte erfüllte, ihn verstand, redete und zuhörte, mit ihm litt und liebte; und sie entfachte auch in ihm wieder das Feuer, lieben zu können.

      In den ersten drei Nächten nach dem Mord hatte er von Mitschke geträumt, tagsüber hatte ihn die Angst geplagt. Die Polizei suchte intensiv nach dem Mörder. In einem Nachruf war der Schrotthändler als freigiebiger Gönner und angesehener Bürger von Wiesbaden beschrieben worden. Kein Wort verlor der Verfasser über Mitschkes SS-Vergangenheit und die Verbrechen, die er mit Sicherheit begangen hatte.

      Das quälende Gefühl, einen Menschen getötet zu haben, wich allmählich der Befriedigung, die Welt von einem Scheusal befreit zu haben. Nicht zuletzt die langen Gespräche mit Esther trugen dazu bei, Pawels Gewissen zu beruhigen. Den Wachmannschaften in Sachsenhausen war das Töten leichtgefallen, als würden sie ein lästiges Insekt zertreten. Pawel fragte sich, ob es ihm irgendwann genauso gehen würde. Vielleicht war es nur eine Frage der Zeit, bis man sich daran gewöhnte. Zögernd gestand er sich ein, dass er sich nach dem rauschartigen Zustand zu sehnen begann. Wie ein Opiumsüchtiger, der einmal die Wirkung der Droge gekostet hatte, wollte er mehr. Und schließlich führte er nur aus, was Esther ihm aus der Thora zitierte. Die unschuldigen Opfer des Massenmords schrien nach Rache und Pawel fühlte sich als Gottes Werkzeug; als ein Heilsbringer, der durch seine Vergeltung die Schuld des Überlebens von den Schultern der Opfer und seinen eigenen nahm.

      Er sprach indessen mit niemandem darüber. Weder Esther noch Jaron oder Ari wussten, was in ihm vorging. Seine Geliebte bewunderte ihn dafür, dass er Mitschke kaltblütig erschlagen hatte, und er beließ sie in dem Glauben, dass ihm das Töten nichts ausmachte. Dass ihn sein Gewissen durchaus quälte, behielt er für sich.

      Jaron und Ari waren nach wie vor nicht begeistert von ihm, taten jedoch, was Esther anordnete, und sie ließ sich von Pawel leiten.

      Er drückte die Kippe im Aschenbecher aus und schaute blinzelnd in die Abendsonne, die rotgolden durch die Ritzen des Rollos schien. Welch seltsame Kapriolen das Schicksal manchmal schlug. Vor knapp zwei Wochen hatte er das Leben eines hungernden Streuners geführt. Nun hatte er eine starke Frau an seiner Seite und Einfluss auf eine gewaltbereite Truppe, dessen Kämpfer das Gleiche wollten wie er: Rache.

      Esther kehrte mit einem Schwall feuchtwarmer Luft im Schlepptau ins Zimmer zurück und kroch nackt unter die Bettdecke. Sie kuschelte sich an ihn und seufzte zufrieden.

      »Haben die beiden Hasenfüße alles organisiert?«, fragte er.

      Esther boxte ihn gegen den Arm.

      »Du sollst nicht so abfällig über sie reden. Sie sind nicht so wie du oder ich, trotzdem