verneinte, fügte aber rasch hinzu: „Dorthin müssen wir mit der Straßenbahn fahren. Das kostet Geld. Den Ost- und den Südfriedhof können wir zu Fuß erreichen. Sie sehen auch aus wie ein Park. Da sind nicht nur Grabsteine …“
„Jan, du hast mich nach den Leuten in dem Grab befragt. Ich will dir sagen, wer sie sind! Oder was ich über sie weiß! Ich finde, das ist korrekter, denn eigentlich kenne ich sie nicht, nur so flüchtig, von Zufallsbegegnungen im Treppenhaus. Deine Mutter kennt sie viel besser. Sie wohnten damals neben uns. Sie hatten eine größere Wohnung als wir, die sie sich mit der Eigentümerin, deren Tochter und Schwiegersohn teilen mussten. Unsere Wohnung war nicht so groß, deshalb hatten wir sie allein. Nebenan gab es oft Streit. Die Deutschen waren die Hauptmieter. Die Österreicher die Untermieter. Woher die Österreicher kamen, wusste niemand. Es wurde gemunkelt, dass sie aus Galizien kämen, aus Lemberg. Heute gehört Lemberg zur Sowjetunion, bis zum Ersten Weltkrieg zur Donau-Monarchie, zu Österreich-Ungarn. Österreich-Ungarn, diese Doppelmonarchie, war ein Vielvölker-Staat. Wie sie als Familie während des Zweiten Weltkrieges hierher kamen, weiß auch niemand. Deine Mutter verstand sich ausgezeichnet mit ihnen, besonders mit der Frau, die in ihrem Alter war. Die alten Leute starben hier, erst die Frau, dann der Mann. In fremder Erde wurden sie begraben. Der Rest der Familie wollte nicht in Deutschland bleiben. Nach Lemberg wollten sie, konnten aber nicht zurück. Ich glaube, sie sind nach Linz gegangen. Deine Mutter kann es dir bestimmt genau sagen. Als diese Familie Ost-Deutschland verließ, versprach deine Mutter, die Pflege des Grabes zu übernehmen. Und sie pflegt es noch heute, obwohl diese Leute nicht mit uns verwandt sind. An den Gräbern unserer Leute lässt sich deine Mutter nicht sehen …“
Jan war mit dieser Auskunft zufrieden.
Mit den zwei Einweckgläsern, die Mutter zwischen dem Efeu aufbewahrte, goss sie das Grab, entfernte den Strauß mit den verwelkten Blumen, setzte den mitgebrachten, bunten Strauß in die Vase mit dem frischen Wasser, zupfte Unkraut, brachte alles zum Abfallkorb. Nach getaner Arbeit ergriff sie Jans Hand, suchte gemeinsam mit ihm die nächst gelegene Bank in unmittelbarer Nähe des Grabes auf. Sie setzten sich. Mutter sagte: „Ist es hier nicht wunderschön. Diese Stille. Diese Ruhe. Kein lautes, kein böses Wort. Um uns herum Frieden. Nach dem wir uns so lange gesehnt haben. Jan, sind dir diese blauen Blumen aufgefallen? Die Kleinen da sind Veilchen, die anderen heißen Vergissmeinnicht, dann kenne ich noch die Kornblume und die blaue Schwertlilie. Die Schwertlilien gedeihen in der Nähe von Teichen, Seen, Flüssen; die Veilchen und Vergissmeinnicht auf Wiesen. Und die Kornblumen, das verrät bereits der Name, entfalten ihre Schönheit dort, wo die Getreidefelder gelb in der Sommersonne leuchten.“ Mutter erwartete keine Antwort. Nach einer kurzen Pause fuhr sie nachdenklich fort: „In der Schule habe ich damals ein Gedicht gelernt. Es hieß „Die blaue Blume“, geschrieben hatte es der Dichter Joseph von Eichendorff. Es ist ein wunderschönes, romantisches Gedicht. Wir mussten es lernen und auswendig aufsagen. Ich liebte Gedichte, besonders dieses Gedicht. Drei Strophen hat das Gedicht. Die erste Strophe … Einen Augenblick bitte. Mir fällt der Text gleich wieder ein. Jetzt ist er mir wieder gegenwärtig.“
Mutter sagte ihn auf. Richtig mit Betonung und Herz.
Ich suche die blaue Blume,
Ich suche und finde sie nie,
Mir träumt, dass in der Blume
Mein gutes Glück mir blüh.
„Das Gedicht hast du ganz toll aufgesagt“, meldete sich Jan zu Wort. „So richtig schön hast du es betont. So wie es sein muss. Bestimmt hast du dafür eine Eins bekommen.“
Seine Mutter lächelte nachdenklich, sah sich in Gedanken vor der Klasse stehen, sagte das Gedicht „Die blaue Blume“ auf. Ihre Mitschülerinnen applaudierten. Der Lehrer lobte sie, trug ihr zwei Mal die Note Eins ins Klassenbuch ein. Deutsch war das Lieblingsfach seiner Mutter, sie die Musterschülerin. Sie konnte keine höhere Schule besuchen. Der Vater war nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Nach der achten Klasse musste sie die Schule verlassen, arbeitete künftig an einer Textilmaschine in der Wollspinnerei. Diesen Teil aus dem Leben seiner Mutter kannte bereits Jan aus früheren Erzählungen.
„In vielen Gedichten begegnest du der blauen Blume“, setzte seine Mutter ihre Rede fort. „Diese Zeit, in der die Blaue Blume ihren großen Auftritt hat, heißt Romantik. Und die Dichter, die sich mit der Blauen Blume beschäftigen, nennen sich Romantiker. Später in der Schule wirst du sie alle kennen lernen. Ich habe mir noch die Namen von Joseph von Eichendorff gemerkt, von Heinrich Heine und von Clemens Brentano. Es gibt auch viele Bilder mit der Blauen Blume und auch viele Geschichten. Eine meiner Lieblingsfarben ist das Blau. Und was ist deine Lieblingsfarbe, Jan?“
„Ich finde alle Farben schön“, sagte er. „Wir müssen jetzt gehen“, sprach die Mutter mehr zu sich selbst als zu ihm. Gemeinsam verließen sie den Friedhof.
In seinen Erinnerungen sieht Jan das Wäldchen vor sich. Es liegt am Rande des Vorortes der großen Stadt. Noch vor dem Krieg war dieser Ort eine selbständige Gemeinde, ein Dorf gewesen mit Gehöften, umgeben von Wiesen und Feldern. Nach dem Krieg wurde der Ort eingemeindet, verlor seine Selbstständigkeit als Dorf. Jetzt endete die Straßenbahn dort. Die Stadt wurde zusehends größer. Nicht nur einst selbstständige Dörfer verschmolzen mit ihr, es entstanden neue Stadtteile mit Bus-Anschluss, es verschwanden Wälder, Felder, Dörfer. Und mit ihnen verschwanden viele Tiere, denen Jan in seinen frühen Kindertagen begegnet war. Die Rauch- und die Mehlschwalbe mit der weißen Brust, die Rebhühner und der Jagdfasan. Und die vielen Hasen! Einmal entdeckte er eine Rebhuhn-Henne mit Küken in der wärmenden Sonne am Feldrain. Jetzt ist er keinen Rebhühnern mehr begegnet. Und der Jagdfasan ist untergetaucht. Wahrscheinlich für alle Ewigkeit. Haussperlinge fühlten sich in der Meyerschen Siedlung noch wohl, aber die Feldsperlinge waren ausgewandert. Der Tagebau, einst nur mit der Deutschen Reichsbahn zu erreichen, rückte näher und näher an die Stadt heran. Es wurde gemunkelt, dass bald ganze Stadtbezirke der großen Stadt verschwinden, weil unmittelbar unter ihnen wuchtige Kohlenflöze lagern. Es dauerte nicht lange, dann war die Rede davon, dass die Stadt komplett verschwindet, weil im Zentrum der Stadt, ihrem historisch betrachtet ältesten Teil, Kohleflöze fast bis an die Oberfläche stoßen. Es existierten Gerüchte, dass während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges Bürger der Altstadt auf dem Alten Johannisfriedhof, der nunmehr ein verwunschener Park ist und unter Denkmalschutz steht, heimlich, im Verborgenen, Braunkohle ausgegraben hätten.
Die Stadt befand sich im Umbruch. Nach dem Zweiten Weltkrieg sollte sie sich in eine sozialistische Großstadt verwandeln. In ihr sollte der Kommunismus Einzug halten, so hatten es die Apparatschiks vorgesehen und geplant, wollten diese Zielstellung zum Wohle ihrer Bürger realisieren, sie in die lichte Zukunft eines real existierenden Sozialismus führen, nur sollte es dazu nicht kommen. Jan sieht diese Welt von einst vor sich, wie sie sich ihm über die Jahrzehnte unveränderlich eingeprägt hat. Damals waren die Winter viel kälter als heute. Überall lag Schnee. Hoher Schnee. Viele Arbeitskräfte wurden benötigt für die Beseitigung der weißen Pracht. Damals gab es kaum Schneepflüge oder andere motorisierte Technik. Alle anfallenden Arbeiten verrichtete der Mensch mit Schaufel, Schneeschieber und Schlitten oder Pferdefuhrwerken zum Abtransport des vielen Schnees. Um diese Jahreszeit gehörte das Wäldchen nicht weit vom Ost-Friedhof entfernt Jan und seiner Mutter alleine. Besonders häufig gingen sie dort während der Sommermonate spazieren, manchmal in Begleitung von Kindern aus dem Wohnviertel, die sich ihnen anschlossen. Ihre Eltern waren berufstätig, von vielen auch die Mütter, sehr oft sogar nur die Mütter, weil die Väter gefallen oder vermisst waren oder aus anderen Gründen nach dem Krieg den Weg nicht nach Hause gefunden hatten. Die Mütter und Väter dieser Kinder waren froh, dass sich Jans Mutter um deren Töchter und Söhne kümmerte, weil sie jetzt wussten, dass ihr Nachwuchs beaufsichtigt wird. Unmittelbar nach dem Krieg existierten nur wenige Kindergärten und längst nicht alle Kinder erhielten einen Kindergartenplatz, obwohl er ihnen zustand, weil sie ohne Vater aufwuchsen und die Mutter Geld verdienen musste.
Jans Mutter hatte eine schöne Stimme. Sie las den Kindern Geschichten vor, Märchen und Sagen oder manchmal sang sie auch Lieder, allein oder gemeinsam mit den Kindern. In der kalten Jahreszeit in der Stube, in der warmen vor dem Haus auf der Wiese oder im Amsel-Park. Das Lied „Alle Vögel sind schon da, alle Vögel alle“ kannten alle Kinder. Dieses Lied wurde im Kindergarten